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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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vor; fragt man uns aber nach den einzelnen Zügen, so wissen wir viele
derselben nicht anzugeben. Dadurch ist nun allerdings auch Vieles er-
loschen, was zur trübenden Zufälligkeit gehört, aber aus zwei Gründen
ist dieser Gewinn zugleich Verlust. Erstens wird zwar Störendes weg-
gelassen, aber nicht eben am rechten Orte. Ich vergesse wohl einen schmutzigen
Ton im Weißen des Auges, aber nicht eine schiefe Stellung des ganzen
Auges, die nicht aus dem Charakter, sondern etwa von einem Steinwurfe,
einem Druck bei der Geburt u. s. w. herrührt. Zweitens: es wird zwar
ausgelöscht, aber wie auf der einen Seite zu wenig, so auf der andern
zu viel; wesentlich bezeichnende Einzelnheiten werden vergessen. Wenn da-
her der Künstler darin vor dem Laien sich auszeichnet, daß er sich auch
dieser vollständiger erinnert und wohl sogar einen Todten aus dem Ge-
dächtnisse darzustellen vermag, so verdankt er dieß einer Uebung der An-
schauung und der Einbildungskraft, welche bereits wirkliche Kunstübung
und dadurch gewonnene Schärfung dieser Prozesse voraussetzt: eine Rück-
wirkung der Kunstthätigkeit auf die psychologischen Kräfte, deren wir erst
im Anfang der Lehre von der Kunst zu gedenken haben. -- Allerdings
aber umweht nun das Abbild des Gegenstands, welches "in den eigenen
Raum und die eigene Zeit des Geistes gesetzt ist" (Hegel Encyclop. §. 452),
weil es geistig geworden, ein Hauch der Unendlichkeit. Es ist ein Begleiten,
ein Umwehen, ein "Zauberhauch, der ihren Zug umwittert", noch kein
eigentliches Eindringen des Geistes, der sie umwandelnd von innen heraus
umarbeitete. So sind wir z. B. bei der Entfaltung des inneren Bildes
einer Schlacht, eines Raub-Anfalls einer Angst fähig, geisterhaft, fürchter-
lich, ein Abgrund, wogegen alle Angst vor der gegenwärtigen Gefahr
nichts ist. Dieser Unterschied macht sich weiterhin in idealer Wiederho-
lung in der Kunst selbst geltend, indem sie oft viel furchtbarer wirkt durch
ein verhülltes Furchtbares, das sie den Zuschauer nöthigt sich vorzustellen,
als durch ein der Anschauung dargebotenes (vergl. die trefflichen Bemer-
kungen J. Paul's in d. Versch. d. Aesth. §. 7.) In der Kunst jedoch ist
dann sowohl die gegenwärtige Darstellung als das hervorgerufene Bild
schön, in der Einbildungskraft vor der Kunst aber (wie auch in der An-
schauung) noch nicht; die Vergeistigung bemächtigt sich so zu sagen erst
der Umrisse und macht sie erzittern, in unendlichen Wiederhall des subjec-
tiven Gefühls verschweben.

2. Zuerst versinken die Bilder in den "Schacht", die "einfache Nacht"
(Hegel) des Geistes, wo sie, vorhanden und nicht vorhanden, vergessen
und der Erinnerung wartend, aufbewahrt sind. Die Psychologie führt
nun in steigender Linie zwei Formen auf, in denen sie wieder hervorge-
rufen werden; zuerst die Anschauung desselben Gegenstands, wobei mir
von früherer Anschauung das Bild wieder auftaucht: die eigentliche Er-

vor; fragt man uns aber nach den einzelnen Zügen, ſo wiſſen wir viele
derſelben nicht anzugeben. Dadurch iſt nun allerdings auch Vieles er-
loſchen, was zur trübenden Zufälligkeit gehört, aber aus zwei Gründen
iſt dieſer Gewinn zugleich Verluſt. Erſtens wird zwar Störendes weg-
gelaſſen, aber nicht eben am rechten Orte. Ich vergeſſe wohl einen ſchmutzigen
Ton im Weißen des Auges, aber nicht eine ſchiefe Stellung des ganzen
Auges, die nicht aus dem Charakter, ſondern etwa von einem Steinwurfe,
einem Druck bei der Geburt u. ſ. w. herrührt. Zweitens: es wird zwar
ausgelöſcht, aber wie auf der einen Seite zu wenig, ſo auf der andern
zu viel; weſentlich bezeichnende Einzelnheiten werden vergeſſen. Wenn da-
her der Künſtler darin vor dem Laien ſich auszeichnet, daß er ſich auch
dieſer vollſtändiger erinnert und wohl ſogar einen Todten aus dem Ge-
dächtniſſe darzuſtellen vermag, ſo verdankt er dieß einer Uebung der An-
ſchauung und der Einbildungskraft, welche bereits wirkliche Kunſtübung
und dadurch gewonnene Schärfung dieſer Prozeſſe vorausſetzt: eine Rück-
wirkung der Kunſtthätigkeit auf die pſychologiſchen Kräfte, deren wir erſt
im Anfang der Lehre von der Kunſt zu gedenken haben. — Allerdings
aber umweht nun das Abbild des Gegenſtands, welches „in den eigenen
Raum und die eigene Zeit des Geiſtes geſetzt iſt“ (Hegel Encyclop. §. 452),
weil es geiſtig geworden, ein Hauch der Unendlichkeit. Es iſt ein Begleiten,
ein Umwehen, ein „Zauberhauch, der ihren Zug umwittert“, noch kein
eigentliches Eindringen des Geiſtes, der ſie umwandelnd von innen heraus
umarbeitete. So ſind wir z. B. bei der Entfaltung des inneren Bildes
einer Schlacht, eines Raub-Anfalls einer Angſt fähig, geiſterhaft, fürchter-
lich, ein Abgrund, wogegen alle Angſt vor der gegenwärtigen Gefahr
nichts iſt. Dieſer Unterſchied macht ſich weiterhin in idealer Wiederho-
lung in der Kunſt ſelbſt geltend, indem ſie oft viel furchtbarer wirkt durch
ein verhülltes Furchtbares, das ſie den Zuſchauer nöthigt ſich vorzuſtellen,
als durch ein der Anſchauung dargebotenes (vergl. die trefflichen Bemer-
kungen J. Paul’s in d. Verſch. d. Aeſth. §. 7.) In der Kunſt jedoch iſt
dann ſowohl die gegenwärtige Darſtellung als das hervorgerufene Bild
ſchön, in der Einbildungskraft vor der Kunſt aber (wie auch in der An-
ſchauung) noch nicht; die Vergeiſtigung bemächtigt ſich ſo zu ſagen erſt
der Umriſſe und macht ſie erzittern, in unendlichen Wiederhall des ſubjec-
tiven Gefühls verſchweben.

2. Zuerſt verſinken die Bilder in den „Schacht“, die „einfache Nacht“
(Hegel) des Geiſtes, wo ſie, vorhanden und nicht vorhanden, vergeſſen
und der Erinnerung wartend, aufbewahrt ſind. Die Pſychologie führt
nun in ſteigender Linie zwei Formen auf, in denen ſie wieder hervorge-
rufen werden; zuerſt die Anſchauung deſſelben Gegenſtands, wobei mir
von früherer Anſchauung das Bild wieder auftaucht: die eigentliche Er-

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[325/0039] vor; fragt man uns aber nach den einzelnen Zügen, ſo wiſſen wir viele derſelben nicht anzugeben. Dadurch iſt nun allerdings auch Vieles er- loſchen, was zur trübenden Zufälligkeit gehört, aber aus zwei Gründen iſt dieſer Gewinn zugleich Verluſt. Erſtens wird zwar Störendes weg- gelaſſen, aber nicht eben am rechten Orte. Ich vergeſſe wohl einen ſchmutzigen Ton im Weißen des Auges, aber nicht eine ſchiefe Stellung des ganzen Auges, die nicht aus dem Charakter, ſondern etwa von einem Steinwurfe, einem Druck bei der Geburt u. ſ. w. herrührt. Zweitens: es wird zwar ausgelöſcht, aber wie auf der einen Seite zu wenig, ſo auf der andern zu viel; weſentlich bezeichnende Einzelnheiten werden vergeſſen. Wenn da- her der Künſtler darin vor dem Laien ſich auszeichnet, daß er ſich auch dieſer vollſtändiger erinnert und wohl ſogar einen Todten aus dem Ge- dächtniſſe darzuſtellen vermag, ſo verdankt er dieß einer Uebung der An- ſchauung und der Einbildungskraft, welche bereits wirkliche Kunſtübung und dadurch gewonnene Schärfung dieſer Prozeſſe vorausſetzt: eine Rück- wirkung der Kunſtthätigkeit auf die pſychologiſchen Kräfte, deren wir erſt im Anfang der Lehre von der Kunſt zu gedenken haben. — Allerdings aber umweht nun das Abbild des Gegenſtands, welches „in den eigenen Raum und die eigene Zeit des Geiſtes geſetzt iſt“ (Hegel Encyclop. §. 452), weil es geiſtig geworden, ein Hauch der Unendlichkeit. Es iſt ein Begleiten, ein Umwehen, ein „Zauberhauch, der ihren Zug umwittert“, noch kein eigentliches Eindringen des Geiſtes, der ſie umwandelnd von innen heraus umarbeitete. So ſind wir z. B. bei der Entfaltung des inneren Bildes einer Schlacht, eines Raub-Anfalls einer Angſt fähig, geiſterhaft, fürchter- lich, ein Abgrund, wogegen alle Angſt vor der gegenwärtigen Gefahr nichts iſt. Dieſer Unterſchied macht ſich weiterhin in idealer Wiederho- lung in der Kunſt ſelbſt geltend, indem ſie oft viel furchtbarer wirkt durch ein verhülltes Furchtbares, das ſie den Zuſchauer nöthigt ſich vorzuſtellen, als durch ein der Anſchauung dargebotenes (vergl. die trefflichen Bemer- kungen J. Paul’s in d. Verſch. d. Aeſth. §. 7.) In der Kunſt jedoch iſt dann ſowohl die gegenwärtige Darſtellung als das hervorgerufene Bild ſchön, in der Einbildungskraft vor der Kunſt aber (wie auch in der An- ſchauung) noch nicht; die Vergeiſtigung bemächtigt ſich ſo zu ſagen erſt der Umriſſe und macht ſie erzittern, in unendlichen Wiederhall des ſubjec- tiven Gefühls verſchweben. 2. Zuerſt verſinken die Bilder in den „Schacht“, die „einfache Nacht“ (Hegel) des Geiſtes, wo ſie, vorhanden und nicht vorhanden, vergeſſen und der Erinnerung wartend, aufbewahrt ſind. Die Pſychologie führt nun in ſteigender Linie zwei Formen auf, in denen ſie wieder hervorge- rufen werden; zuerſt die Anſchauung deſſelben Gegenſtands, wobei mir von früherer Anſchauung das Bild wieder auftaucht: die eigentliche Er-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/39>, abgerufen am 27.04.2024.