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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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die Berührung erst ihre Entgegenstellung fixiren. In beiden Momenten,
sowohl dem der Aneignung, als auch dem der Gegenüberstellung wirkt die
Innigkeit der Empfindung und die Schärfe der nun gewollten, ihr natür-
liches Messen und Umspannen der Formen zur Intensität des Interesses erhe-
benden Wahrnehmung zusammen: Weichheit und Schärfe, Wärme und Kälte.
Es ist ein Mißverhältniß, wenn die Wärme, das Gefühl überwiegt. Zwar
sagt Herbart zu viel, wenn er (Psychologie als Wissensch. u. s. w. B. 2,
S. 367) sagt: "die Anschauung ist desto vollkommener, je weniger Gewicht
in ihr die Empfindung hat"; aber allerdings verzittern in der allzuleb-
haften Theilnahme des Gefühls die Grenzen und Maaße des Gegenstands,
die Objectivität zerschmilzt im weichen Elemente. Herder z. B. ist eine
solche fühlsame Natur, nach dem Einen Pole seines Wesens auch J. P.
Fr. Richter; beide haben es daher nicht zum klaren Bilden der Phantasie
gebracht.

Zur Anschauung müssen wir nun aber auch das ziehen, was man
Erfahren, Erleben nennt. Es ist dieß ein Anschauen der Welt als einer
geschichtlich bewegten, welche in ihre Bewegung auch das Schicksal des
anschauenden Subjects zieht und in energischen Stößen, welche in Lust
und Freude mächtig erschüttern, periodisch bestimmt. In dieser erweiterten
Anschauung ist die gewöhnliche, die Anschauung einzelner Gegenstände,
ein Moment, die ganze Anschauung geht weiter auf die Zustände, Ver-
hältnisse, Gesetze des Weltlebens und ebenso der eigenen Persönlichkeit;
dabei ist zwar Abstraction, Denken schon vielfach thätig, schwimmt aber in
der gesättigten Masse des thatsächlichen Erlebnisses nur mit, das sich zur Welt-,
Menschen- und Selbst-Kenntniß ansammelt und das Gesammelte immer wie-
der in der Form des eigentlichen ersten Anschauens zusammenhält, so nämlich,
daß alles innere Leben mit den äußeren Formen, in denen es sich bewegt,
zusammengefaßt wird. Reisen ist eine wesentliche Form, die Anschauung
in diesem Sinne zu erweitern, aber das ganze Leben ist eine Reise, auf
welcher der Wanderer Auge und Sinn offen haben muß, wenn er zum
Ziele der schaffenden Phantasie gelangen soll. Man kann im Allgemeinen
sagen, daß die jetzigen Menschen in dem einen Theile dieser erweiterten
Anschauung, dessen Gegenstand das Innere des Lebens, Leidenschaften,
Charaktere, Gesinnungen, Sitten, Verhältnisse der Menschen und die Zu-
stände der eigenen Brust sind, ebensoviele Fortschritte, als in dem andern,
der einzelnen sinnlichen Anschauung, Rückschritte gemacht haben. Allein im
ästhetischen Zusammenhang soll jene weitere Anschauung durchaus mit die-
ser ursprünglichen und ersten in Einheit bleiben und da gilt es nicht nur,
z. B. fremde Volkszustände kennen lernen, sondern Himmel, Pflanzen,
Thierwelt, Trachten, worin diese Zustände heimisch sind, lebendig mitan-
schauen, und wie stumpf sind wir darin, die wir nicht einmal unsere ein-

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die Berührung erſt ihre Entgegenſtellung fixiren. In beiden Momenten,
ſowohl dem der Aneignung, als auch dem der Gegenüberſtellung wirkt die
Innigkeit der Empfindung und die Schärfe der nun gewollten, ihr natür-
liches Meſſen und Umſpannen der Formen zur Intenſität des Intereſſes erhe-
benden Wahrnehmung zuſammen: Weichheit und Schärfe, Wärme und Kälte.
Es iſt ein Mißverhältniß, wenn die Wärme, das Gefühl überwiegt. Zwar
ſagt Herbart zu viel, wenn er (Pſychologie als Wiſſenſch. u. ſ. w. B. 2,
S. 367) ſagt: „die Anſchauung iſt deſto vollkommener, je weniger Gewicht
in ihr die Empfindung hat“; aber allerdings verzittern in der allzuleb-
haften Theilnahme des Gefühls die Grenzen und Maaße des Gegenſtands,
die Objectivität zerſchmilzt im weichen Elemente. Herder z. B. iſt eine
ſolche fühlſame Natur, nach dem Einen Pole ſeines Weſens auch J. P.
Fr. Richter; beide haben es daher nicht zum klaren Bilden der Phantaſie
gebracht.

Zur Anſchauung müſſen wir nun aber auch das ziehen, was man
Erfahren, Erleben nennt. Es iſt dieß ein Anſchauen der Welt als einer
geſchichtlich bewegten, welche in ihre Bewegung auch das Schickſal des
anſchauenden Subjects zieht und in energiſchen Stößen, welche in Luſt
und Freude mächtig erſchüttern, periodiſch beſtimmt. In dieſer erweiterten
Anſchauung iſt die gewöhnliche, die Anſchauung einzelner Gegenſtände,
ein Moment, die ganze Anſchauung geht weiter auf die Zuſtände, Ver-
hältniſſe, Geſetze des Weltlebens und ebenſo der eigenen Perſönlichkeit;
dabei iſt zwar Abſtraction, Denken ſchon vielfach thätig, ſchwimmt aber in
der geſättigten Maſſe des thatſächlichen Erlebniſſes nur mit, das ſich zur Welt-,
Menſchen- und Selbſt-Kenntniß anſammelt und das Geſammelte immer wie-
der in der Form des eigentlichen erſten Anſchauens zuſammenhält, ſo nämlich,
daß alles innere Leben mit den äußeren Formen, in denen es ſich bewegt,
zuſammengefaßt wird. Reiſen iſt eine weſentliche Form, die Anſchauung
in dieſem Sinne zu erweitern, aber das ganze Leben iſt eine Reiſe, auf
welcher der Wanderer Auge und Sinn offen haben muß, wenn er zum
Ziele der ſchaffenden Phantaſie gelangen ſoll. Man kann im Allgemeinen
ſagen, daß die jetzigen Menſchen in dem einen Theile dieſer erweiterten
Anſchauung, deſſen Gegenſtand das Innere des Lebens, Leidenſchaften,
Charaktere, Geſinnungen, Sitten, Verhältniſſe der Menſchen und die Zu-
ſtände der eigenen Bruſt ſind, ebenſoviele Fortſchritte, als in dem andern,
der einzelnen ſinnlichen Anſchauung, Rückſchritte gemacht haben. Allein im
äſthetiſchen Zuſammenhang ſoll jene weitere Anſchauung durchaus mit die-
ſer urſprünglichen und erſten in Einheit bleiben und da gilt es nicht nur,
z. B. fremde Volkszuſtände kennen lernen, ſondern Himmel, Pflanzen,
Thierwelt, Trachten, worin dieſe Zuſtände heimiſch ſind, lebendig mitan-
ſchauen, und wie ſtumpf ſind wir darin, die wir nicht einmal unſere ein-

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[317/0031] die Berührung erſt ihre Entgegenſtellung fixiren. In beiden Momenten, ſowohl dem der Aneignung, als auch dem der Gegenüberſtellung wirkt die Innigkeit der Empfindung und die Schärfe der nun gewollten, ihr natür- liches Meſſen und Umſpannen der Formen zur Intenſität des Intereſſes erhe- benden Wahrnehmung zuſammen: Weichheit und Schärfe, Wärme und Kälte. Es iſt ein Mißverhältniß, wenn die Wärme, das Gefühl überwiegt. Zwar ſagt Herbart zu viel, wenn er (Pſychologie als Wiſſenſch. u. ſ. w. B. 2, S. 367) ſagt: „die Anſchauung iſt deſto vollkommener, je weniger Gewicht in ihr die Empfindung hat“; aber allerdings verzittern in der allzuleb- haften Theilnahme des Gefühls die Grenzen und Maaße des Gegenſtands, die Objectivität zerſchmilzt im weichen Elemente. Herder z. B. iſt eine ſolche fühlſame Natur, nach dem Einen Pole ſeines Weſens auch J. P. Fr. Richter; beide haben es daher nicht zum klaren Bilden der Phantaſie gebracht. Zur Anſchauung müſſen wir nun aber auch das ziehen, was man Erfahren, Erleben nennt. Es iſt dieß ein Anſchauen der Welt als einer geſchichtlich bewegten, welche in ihre Bewegung auch das Schickſal des anſchauenden Subjects zieht und in energiſchen Stößen, welche in Luſt und Freude mächtig erſchüttern, periodiſch beſtimmt. In dieſer erweiterten Anſchauung iſt die gewöhnliche, die Anſchauung einzelner Gegenſtände, ein Moment, die ganze Anſchauung geht weiter auf die Zuſtände, Ver- hältniſſe, Geſetze des Weltlebens und ebenſo der eigenen Perſönlichkeit; dabei iſt zwar Abſtraction, Denken ſchon vielfach thätig, ſchwimmt aber in der geſättigten Maſſe des thatſächlichen Erlebniſſes nur mit, das ſich zur Welt-, Menſchen- und Selbſt-Kenntniß anſammelt und das Geſammelte immer wie- der in der Form des eigentlichen erſten Anſchauens zuſammenhält, ſo nämlich, daß alles innere Leben mit den äußeren Formen, in denen es ſich bewegt, zuſammengefaßt wird. Reiſen iſt eine weſentliche Form, die Anſchauung in dieſem Sinne zu erweitern, aber das ganze Leben iſt eine Reiſe, auf welcher der Wanderer Auge und Sinn offen haben muß, wenn er zum Ziele der ſchaffenden Phantaſie gelangen ſoll. Man kann im Allgemeinen ſagen, daß die jetzigen Menſchen in dem einen Theile dieſer erweiterten Anſchauung, deſſen Gegenſtand das Innere des Lebens, Leidenſchaften, Charaktere, Geſinnungen, Sitten, Verhältniſſe der Menſchen und die Zu- ſtände der eigenen Bruſt ſind, ebenſoviele Fortſchritte, als in dem andern, der einzelnen ſinnlichen Anſchauung, Rückſchritte gemacht haben. Allein im äſthetiſchen Zuſammenhang ſoll jene weitere Anſchauung durchaus mit die- ſer urſprünglichen und erſten in Einheit bleiben und da gilt es nicht nur, z. B. fremde Volkszuſtände kennen lernen, ſondern Himmel, Pflanzen, Thierwelt, Trachten, worin dieſe Zuſtände heimiſch ſind, lebendig mitan- ſchauen, und wie ſtumpf ſind wir darin, die wir nicht einmal unſere ein- 21*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/31>, abgerufen am 03.12.2024.