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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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unbedingte, mangellose, leuchtende Typen; in Gott ist aber auch der ewige
Begriff des hervorbringenden künstlerischen Individuums und dieser sein
Begriff ist in diesem ewigen Daseyn mit jenen reinen Urbildern "verknüpft":
je näher, desto vollkommener vermag es in den zeitlichen Abbildern der
Dinge ihr zeitloses Urbild darzustellen. Ziehen wir das Mythische ab,
was auch hier in der Raumvorstellung einer zweiten, idealen Welt liegt,
und beschränken wir die Thätigkeit der Phantasie nicht auf den Künstler
im engeren Sinne, so bleibt die Wahrheit, daß der menschliche Geist, in
ursprünglicher und unzerstörbarer Einheit mit den Dingen wohnend, ihr
Inneres muß ergreifen und als freie Möglichkeit über die Verneinungen,
die ihnen die Reibung mit anderen aufdrückt, emporheben, erweitern können.
Den vorzüglich Begabten werden wir durch diese Fähigkeit eine zweite
innere Welt schaffen sehen, die allgemeine Phantasie aber ist nur je im
gegebenen Falle thätig, an den Grenzen eines angeschauten Gegenstands,
welche ihm Noth, Mangel, Abhängigkeit, Krankheit aufgedrückt, zu rütteln,
zu rücken und zu schieben und so sein reines Bild in das gedrückte und
getrübte hineinzuschauen. Sie muß dies vor dem Schauen des wirklichen
Gegenstands gekonnt haben, aber das Bild selbst wird erst im Schauen
fertig. Ich sehe z. B. einen Mann, der auf Schönheit angelegt war, durch
Noth, Mangel, Krankheit entstellt ist, aber in der Entstellung noch Spuren
genug der Schönheit zeigt, um sich vor andern Gestalten auszuzeichnen;
diese Spuren ergreift mein Geist, knüpft an sie an, und von ihnen als
einem Mittelpunkt herausarbeitend stößt er, was Mangel und Noth der
Gestalt aufgedrückt hat, aus und vollendet so zu einem Ganzen, was in
der geschauten Gestalt als Möglichkeit lag ünd nicht wirklich geworden ist:
ich habe mir das reine Jugendbild des Mannes erzeugt. Vorher, ehe ich
den Mann schaute, hatte ich dieses Bild nicht; aber ich stamme aus der
Einheit des Lebens, woraus es stammt, und mitten in Zeit und Raum --
nicht in einem zweiten Raum und nicht in einer mythischen Vorzeit meiner
Seele -- schaue ich dem Lebendigen, was in Raum und Zeit sich drückt,
in's Herz und führe die Lebensfülle, zu der es angelegt war, zeitlos und
raumlos über die Beschränkungen hinaus, welche sie in diesem Druck er-
litten. Ich kenne diese Lebensfülle, denn ich und mein Gegenstand sind
im Universum Ein Wesen. Ich kann zwischen den Linien lesen. Es er-
hellt also auch, daß es dieses innere Correctiv ist, vermöge dessen ich nicht
nur das gefundene durch ein höheres Maaß von Bedingungen der Schön-
heit Ausgezeichnete in das volle Maaß erhebe, sondern wodurch ich es
überhaupt finde, von nicht Schönem unterscheide. Wie in der Wahrheit
der Mensch das Maaß der Dinge ist, so in der Schönheit; nur wer hat,
dem wird gegeben, die Wünschelruthe ist nur in uns.

2. Das Naturschöne ist jetzt nicht mehr Object blos im bisherigen

unbedingte, mangelloſe, leuchtende Typen; in Gott iſt aber auch der ewige
Begriff des hervorbringenden künſtleriſchen Individuums und dieſer ſein
Begriff iſt in dieſem ewigen Daſeyn mit jenen reinen Urbildern „verknüpft“:
je näher, deſto vollkommener vermag es in den zeitlichen Abbildern der
Dinge ihr zeitloſes Urbild darzuſtellen. Ziehen wir das Mythiſche ab,
was auch hier in der Raumvorſtellung einer zweiten, idealen Welt liegt,
und beſchränken wir die Thätigkeit der Phantaſie nicht auf den Künſtler
im engeren Sinne, ſo bleibt die Wahrheit, daß der menſchliche Geiſt, in
urſprünglicher und unzerſtörbarer Einheit mit den Dingen wohnend, ihr
Inneres muß ergreifen und als freie Möglichkeit über die Verneinungen,
die ihnen die Reibung mit anderen aufdrückt, emporheben, erweitern können.
Den vorzüglich Begabten werden wir durch dieſe Fähigkeit eine zweite
innere Welt ſchaffen ſehen, die allgemeine Phantaſie aber iſt nur je im
gegebenen Falle thätig, an den Grenzen eines angeſchauten Gegenſtands,
welche ihm Noth, Mangel, Abhängigkeit, Krankheit aufgedrückt, zu rütteln,
zu rücken und zu ſchieben und ſo ſein reines Bild in das gedrückte und
getrübte hineinzuſchauen. Sie muß dies vor dem Schauen des wirklichen
Gegenſtands gekonnt haben, aber das Bild ſelbſt wird erſt im Schauen
fertig. Ich ſehe z. B. einen Mann, der auf Schönheit angelegt war, durch
Noth, Mangel, Krankheit entſtellt iſt, aber in der Entſtellung noch Spuren
genug der Schönheit zeigt, um ſich vor andern Geſtalten auszuzeichnen;
dieſe Spuren ergreift mein Geiſt, knüpft an ſie an, und von ihnen als
einem Mittelpunkt herausarbeitend ſtößt er, was Mangel und Noth der
Geſtalt aufgedrückt hat, aus und vollendet ſo zu einem Ganzen, was in
der geſchauten Geſtalt als Möglichkeit lag ünd nicht wirklich geworden iſt:
ich habe mir das reine Jugendbild des Mannes erzeugt. Vorher, ehe ich
den Mann ſchaute, hatte ich dieſes Bild nicht; aber ich ſtamme aus der
Einheit des Lebens, woraus es ſtammt, und mitten in Zeit und Raum —
nicht in einem zweiten Raum und nicht in einer mythiſchen Vorzeit meiner
Seele — ſchaue ich dem Lebendigen, was in Raum und Zeit ſich drückt,
in’s Herz und führe die Lebensfülle, zu der es angelegt war, zeitlos und
raumlos über die Beſchränkungen hinaus, welche ſie in dieſem Druck er-
litten. Ich kenne dieſe Lebensfülle, denn ich und mein Gegenſtand ſind
im Univerſum Ein Weſen. Ich kann zwiſchen den Linien leſen. Es er-
hellt alſo auch, daß es dieſes innere Correctiv iſt, vermöge deſſen ich nicht
nur das gefundene durch ein höheres Maaß von Bedingungen der Schön-
heit Ausgezeichnete in das volle Maaß erhebe, ſondern wodurch ich es
überhaupt finde, von nicht Schönem unterſcheide. Wie in der Wahrheit
der Menſch das Maaß der Dinge iſt, ſo in der Schönheit; nur wer hat,
dem wird gegeben, die Wünſchelruthe iſt nur in uns.

2. Das Naturſchöne iſt jetzt nicht mehr Object blos im bisherigen

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[312/0026] unbedingte, mangelloſe, leuchtende Typen; in Gott iſt aber auch der ewige Begriff des hervorbringenden künſtleriſchen Individuums und dieſer ſein Begriff iſt in dieſem ewigen Daſeyn mit jenen reinen Urbildern „verknüpft“: je näher, deſto vollkommener vermag es in den zeitlichen Abbildern der Dinge ihr zeitloſes Urbild darzuſtellen. Ziehen wir das Mythiſche ab, was auch hier in der Raumvorſtellung einer zweiten, idealen Welt liegt, und beſchränken wir die Thätigkeit der Phantaſie nicht auf den Künſtler im engeren Sinne, ſo bleibt die Wahrheit, daß der menſchliche Geiſt, in urſprünglicher und unzerſtörbarer Einheit mit den Dingen wohnend, ihr Inneres muß ergreifen und als freie Möglichkeit über die Verneinungen, die ihnen die Reibung mit anderen aufdrückt, emporheben, erweitern können. Den vorzüglich Begabten werden wir durch dieſe Fähigkeit eine zweite innere Welt ſchaffen ſehen, die allgemeine Phantaſie aber iſt nur je im gegebenen Falle thätig, an den Grenzen eines angeſchauten Gegenſtands, welche ihm Noth, Mangel, Abhängigkeit, Krankheit aufgedrückt, zu rütteln, zu rücken und zu ſchieben und ſo ſein reines Bild in das gedrückte und getrübte hineinzuſchauen. Sie muß dies vor dem Schauen des wirklichen Gegenſtands gekonnt haben, aber das Bild ſelbſt wird erſt im Schauen fertig. Ich ſehe z. B. einen Mann, der auf Schönheit angelegt war, durch Noth, Mangel, Krankheit entſtellt iſt, aber in der Entſtellung noch Spuren genug der Schönheit zeigt, um ſich vor andern Geſtalten auszuzeichnen; dieſe Spuren ergreift mein Geiſt, knüpft an ſie an, und von ihnen als einem Mittelpunkt herausarbeitend ſtößt er, was Mangel und Noth der Geſtalt aufgedrückt hat, aus und vollendet ſo zu einem Ganzen, was in der geſchauten Geſtalt als Möglichkeit lag ünd nicht wirklich geworden iſt: ich habe mir das reine Jugendbild des Mannes erzeugt. Vorher, ehe ich den Mann ſchaute, hatte ich dieſes Bild nicht; aber ich ſtamme aus der Einheit des Lebens, woraus es ſtammt, und mitten in Zeit und Raum — nicht in einem zweiten Raum und nicht in einer mythiſchen Vorzeit meiner Seele — ſchaue ich dem Lebendigen, was in Raum und Zeit ſich drückt, in’s Herz und führe die Lebensfülle, zu der es angelegt war, zeitlos und raumlos über die Beſchränkungen hinaus, welche ſie in dieſem Druck er- litten. Ich kenne dieſe Lebensfülle, denn ich und mein Gegenſtand ſind im Univerſum Ein Weſen. Ich kann zwiſchen den Linien leſen. Es er- hellt alſo auch, daß es dieſes innere Correctiv iſt, vermöge deſſen ich nicht nur das gefundene durch ein höheres Maaß von Bedingungen der Schön- heit Ausgezeichnete in das volle Maaß erhebe, ſondern wodurch ich es überhaupt finde, von nicht Schönem unterſcheide. Wie in der Wahrheit der Menſch das Maaß der Dinge iſt, ſo in der Schönheit; nur wer hat, dem wird gegeben, die Wünſchelruthe iſt nur in uns. 2. Das Naturſchöne iſt jetzt nicht mehr Object blos im bisherigen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/26>, abgerufen am 30.04.2024.