2. Die hohle und auflösende Ironie stack also schon in der roman- tischen Genialität. Doch es ist, wie schon bemerkt, ein Unterschied. Der eigentlichen romantischen Schule gelang die Selbsttäuschung, sie schwärmte, mit ihrer Doctrin war es ihr Ernst. Inzwischen hatte abgesehen vom ästhetischen Gebiete die Zeit die Form der Zerrissenheit erzeugt (§. 376). Man war enttäuscht und doch ohne die Idee und den Muth der Wahr- heit. Zerrissenheit ist selbst noch eine Täuschung. Den ersten Wurf der Aufnahme dieser Stimmung in das Ideal hatte allerdings schon Göthe im Faust gethan, aber Göthe selbst war gesund und seine Darstellung auf versöhnenden Schluß angelegt. Von England wirkte Byron ein und hier war es schon anders: die Zerrissenheit war nicht bloß Stoff, sondern das Subject des Dichters war zerrissen, und dieß wurde in Deutschland Mode. Der Weltschmerz kam auf. Wer sich in der Verzweiflung bespiegelt, ist eigentlich schon über sie hinaus, die letzte Täuschung fällt und die Blasirtheit kommt an das Ruder. Diese erst ist dasjenige, was Hegel unter dem Na- men der Ironie so bitter verfolgt; sie erst ist so ausgesogen, daß es ihr mit keinem Inhalt und keiner Form Ernst ist, sie erst dichtet, wie man jetzt tanzt, mit dem Ausdruck: ich könnte es ebensogut lassen; sie erst opfert jeden Zusammenhang einem Witz und hat auch an dem Witz keine Freude, sie erst ist der ungeheure Widerspruch, im Genuß nicht zu genießen, im Schmerz nicht zu trauern, nichts zu sein und doch, statt sich zu erschießen, in dieser Nichtigkeit sich eitel zu weiden. Zu dieser Fäulniß ist die Ro- mantik in Heine gelangt, er ist der Verwesungsprozeß der Romantik. Voll Genialität hat er alle ihre Schönheiten, löst sie in Zerrissenheit auf und endigt in Blasirtheit.
3. Die "Weltliteratur." Die Aufstopplung aller poetischen Schätze aller Nationen aus allen Zeiten muß die eigene Productivität erdrücken. Ein Uebersetzervolk kann nicht mehr ein Dichtervolk sein, die nach allen Seiten billige, anerkennende, aneignende Universalität ist ebenso ein Zei- chen der erlöschenden, eigenen Zeugungskraft, als der Kosmopolitismus ein Zeichen schwachen Nationalgefühls. Starke Nationen sind ungerecht. Die Phantasie des Mittelalters war wohl auch die Frucht einer Mischung der verschiedensten Völker-Elemente, aber diese Mischung war naiv; es war nicht eine Anerkennung und absichtliche Aneignung des Fremden als Fremden, man glaubte die fremden Sagen als eigene, setzte ihre Helden auf den eigenen Boden, trug in ihre Schicksale ohne Weiteres die eigene Anschauung hinein, es war ein allgemeines Amalgam.
§. 482.
Die neue Verirrung kommt zum Bewußtsein und es bildet sich die Ein- sicht der wahren Aufgabe eines Ideals, das von den Zeiten des mythischen
2. Die hohle und auflöſende Ironie ſtack alſo ſchon in der roman- tiſchen Genialität. Doch es iſt, wie ſchon bemerkt, ein Unterſchied. Der eigentlichen romantiſchen Schule gelang die Selbſttäuſchung, ſie ſchwärmte, mit ihrer Doctrin war es ihr Ernſt. Inzwiſchen hatte abgeſehen vom äſthetiſchen Gebiete die Zeit die Form der Zerriſſenheit erzeugt (§. 376). Man war enttäuſcht und doch ohne die Idee und den Muth der Wahr- heit. Zerriſſenheit iſt ſelbſt noch eine Täuſchung. Den erſten Wurf der Aufnahme dieſer Stimmung in das Ideal hatte allerdings ſchon Göthe im Fauſt gethan, aber Göthe ſelbſt war geſund und ſeine Darſtellung auf verſöhnenden Schluß angelegt. Von England wirkte Byron ein und hier war es ſchon anders: die Zerriſſenheit war nicht bloß Stoff, ſondern das Subject des Dichters war zerriſſen, und dieß wurde in Deutſchland Mode. Der Weltſchmerz kam auf. Wer ſich in der Verzweiflung beſpiegelt, iſt eigentlich ſchon über ſie hinaus, die letzte Täuſchung fällt und die Blaſirtheit kommt an das Ruder. Dieſe erſt iſt dasjenige, was Hegel unter dem Na- men der Ironie ſo bitter verfolgt; ſie erſt iſt ſo ausgeſogen, daß es ihr mit keinem Inhalt und keiner Form Ernſt iſt, ſie erſt dichtet, wie man jetzt tanzt, mit dem Ausdruck: ich könnte es ebenſogut laſſen; ſie erſt opfert jeden Zuſammenhang einem Witz und hat auch an dem Witz keine Freude, ſie erſt iſt der ungeheure Widerſpruch, im Genuß nicht zu genießen, im Schmerz nicht zu trauern, nichts zu ſein und doch, ſtatt ſich zu erſchießen, in dieſer Nichtigkeit ſich eitel zu weiden. Zu dieſer Fäulniß iſt die Ro- mantik in Heine gelangt, er iſt der Verweſungsprozeß der Romantik. Voll Genialität hat er alle ihre Schönheiten, löst ſie in Zerriſſenheit auf und endigt in Blaſirtheit.
3. Die „Weltliteratur.“ Die Aufſtopplung aller poetiſchen Schätze aller Nationen aus allen Zeiten muß die eigene Productivität erdrücken. Ein Ueberſetzervolk kann nicht mehr ein Dichtervolk ſein, die nach allen Seiten billige, anerkennende, aneignende Univerſalität iſt ebenſo ein Zei- chen der erlöſchenden, eigenen Zeugungskraft, als der Koſmopolitiſmus ein Zeichen ſchwachen Nationalgefühls. Starke Nationen ſind ungerecht. Die Phantaſie des Mittelalters war wohl auch die Frucht einer Miſchung der verſchiedenſten Völker-Elemente, aber dieſe Miſchung war naiv; es war nicht eine Anerkennung und abſichtliche Aneignung des Fremden als Fremden, man glaubte die fremden Sagen als eigene, ſetzte ihre Helden auf den eigenen Boden, trug in ihre Schickſale ohne Weiteres die eigene Anſchauung hinein, es war ein allgemeines Amalgam.
§. 482.
Die neue Verirrung kommt zum Bewußtſein und es bildet ſich die Ein- ſicht der wahren Aufgabe eines Ideals, das von den Zeiten des mythiſchen
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tiſchen Genialität. Doch es iſt, wie ſchon bemerkt, ein Unterſchied. Der
eigentlichen romantiſchen Schule gelang die Selbſttäuſchung, ſie ſchwärmte,
mit ihrer Doctrin war es ihr Ernſt. Inzwiſchen hatte abgeſehen vom
äſthetiſchen Gebiete die Zeit die Form der Zerriſſenheit erzeugt (§. 376).
Man war enttäuſcht und doch ohne die Idee und den Muth der Wahr-
heit. Zerriſſenheit iſt ſelbſt noch eine Täuſchung. Den erſten Wurf der
Aufnahme dieſer Stimmung in das Ideal hatte allerdings ſchon Göthe
im Fauſt gethan, aber Göthe ſelbſt war geſund und ſeine Darſtellung auf
verſöhnenden Schluß angelegt. Von England wirkte Byron ein und hier
war es ſchon anders: die Zerriſſenheit war nicht bloß Stoff, ſondern das
Subject des Dichters war zerriſſen, und dieß wurde in Deutſchland Mode.
Der Weltſchmerz kam auf. Wer ſich in der Verzweiflung beſpiegelt, iſt
eigentlich ſchon über ſie hinaus, die letzte Täuſchung fällt und die Blaſirtheit
kommt an das Ruder. Dieſe erſt iſt dasjenige, was Hegel unter dem Na-
men der Ironie ſo bitter verfolgt; ſie erſt iſt ſo ausgeſogen, daß es ihr
mit keinem Inhalt und keiner Form Ernſt iſt, ſie erſt dichtet, wie man
jetzt tanzt, mit dem Ausdruck: ich könnte es ebenſogut laſſen; ſie erſt
opfert jeden Zuſammenhang einem Witz und hat auch an dem Witz keine
Freude, ſie erſt iſt der ungeheure Widerſpruch, im Genuß nicht zu genießen,
im Schmerz nicht zu trauern, nichts zu ſein und doch, ſtatt ſich zu erſchießen,
in dieſer Nichtigkeit ſich eitel zu weiden. Zu dieſer Fäulniß iſt die Ro-
mantik in Heine gelangt, er iſt der Verweſungsprozeß der Romantik.
Voll Genialität hat er alle ihre Schönheiten, löst ſie in Zerriſſenheit auf
und endigt in Blaſirtheit.
3. Die „Weltliteratur.“ Die Aufſtopplung aller poetiſchen Schätze
aller Nationen aus allen Zeiten muß die eigene Productivität erdrücken.
Ein Ueberſetzervolk kann nicht mehr ein Dichtervolk ſein, die nach allen
Seiten billige, anerkennende, aneignende Univerſalität iſt ebenſo ein Zei-
chen der erlöſchenden, eigenen Zeugungskraft, als der Koſmopolitiſmus
ein Zeichen ſchwachen Nationalgefühls. Starke Nationen ſind ungerecht.
Die Phantaſie des Mittelalters war wohl auch die Frucht einer Miſchung
der verſchiedenſten Völker-Elemente, aber dieſe Miſchung war naiv; es
war nicht eine Anerkennung und abſichtliche Aneignung des Fremden als
Fremden, man glaubte die fremden Sagen als eigene, ſetzte ihre Helden
auf den eigenen Boden, trug in ihre Schickſale ohne Weiteres die
eigene Anſchauung hinein, es war ein allgemeines Amalgam.
§. 482.
Die neue Verirrung kommt zum Bewußtſein und es bildet ſich die Ein-
ſicht der wahren Aufgabe eines Ideals, das von den Zeiten des mythiſchen
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 520. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/234>, abgerufen am 08.07.2024.
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