Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
mit Appellation an die Alten (Götter, Helden und Wieland), auch als §. 479. Die stürmische Kraft bildet sich durch Rückkehr an die wahre Quelle, Göthe hat subjective Stoffe rein objectiv, Schiller objective Stoffe §. 480. Inzwischen findet die Sentimentalität ihren eigenen Weg, sich von sich zu
mit Appellation an die Alten (Götter, Helden und Wieland), auch als §. 479. Die ſtürmiſche Kraft bildet ſich durch Rückkehr an die wahre Quelle, Göthe hat ſubjective Stoffe rein objectiv, Schiller objective Stoffe §. 480. Inzwiſchen findet die Sentimentalität ihren eigenen Weg, ſich von ſich zu <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0229" n="515"/> mit Appellation an die Alten (Götter, Helden und Wieland), auch als<lb/> Recht der Sinnlichkeit allgemein reclamirt. Shakesſpeare wird wohl um<lb/> ſeiner Größe willen bewundert, aber ſeine eigentliche Bedeutung hat er<lb/> als Flügelmann der Oppoſition gegen das franzöſiſche Reglement; der<lb/> Cyniſmus, die Grobheit, die Willkühr, die Launenhaftigkeit und Bizar-<lb/> rerie der entfeſſelten genialen Naturgewalt beruft ſich auf ihn. Eine<lb/> weitere Darſtellung der Sturm- und Drang-Periode, dieſer Flegeljahre<lb/> des modernen Ideals, ſchenkt uns die verbreitete Kenntniß dieſer uns<lb/> ſchon ſo nahen Form.</hi> </p> </div><lb/> <div n="6"> <head>§. 479.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Die ſtürmiſche Kraft bildet ſich durch Rückkehr an die wahre Quelle,<lb/> das antike Ideal der reinen Objectivität, und hinter dieſe an die ächte Natur.<lb/> Zur Einfalt und zum Formgefühl geläutert ergreift die Phantaſie auf der einen<lb/> Seite den Stoff des ſubjectiven Seelenlebens, der Entwicklung der Perſönlich-<lb/> keit und ihrer Kämpfe in der engeren Sphäre des Privatlebens und arbeitet<lb/> ihn in der bildend und empfindend dichtenden Art zur reinen Form aus, auf<lb/> der andern, von der wahren Größe des engliſchen Genius begeiſtert, den Kampf<lb/> der Freiheit im politiſchen Leben, den ſie feurig und gewaltig, jedoch nicht ohne<lb/> einen Reſt abſtracten Denkens (§. 406, <hi rendition="#sub">4.</hi>) und idealiſtiſcher Subjectivität in der<lb/> vorzugsweiſe modernen dritten Form der dichtenden Phantaſie niederlegt.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Göthe hat ſubjective Stoffe rein objectiv, Schiller objective Stoffe<lb/> zu ſubjectiv behandelt: dieß iſt die rechte Formel für ihr Verhältniß.<lb/> Wenn nun Göthe keinen Geſchichtsſinn hatte, wenn Schiller ihn zwar<lb/> hatte, aber ſeine großen Stoffe durch eine Zweiheit in ſeiner Natur,<lb/> welche die rein organiſche Thätigkeit der Phantaſie vielfach hemmte, theils<lb/> zu philoſophiſch, theils zu abſtract idealiſtiſch mit durchgängigem Vordrin-<lb/> gen ſeiner begeiſterten Subjectivität behandelte, ſo erkennt man die große<lb/> Aufgabe, welche dieſe Claſſiker des modernen Ideals noch zu löſen<lb/> übrig laſſen.</hi> </p> </div><lb/> <div n="6"> <head>§. 480.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Inzwiſchen findet die Sentimentalität ihren eigenen Weg, ſich von ſich zu<lb/> befreien, indem ſie in das Komiſche umſchlägt. Auch hierin iſt die engliſche<lb/> Phantaſie der deutſchen vorangegangen; ihre Einflüſſe wecken den Humor, der<lb/> nun erſt mit Bewußtſein in ſeine Tiefen ſteigt und die feinſten Widerſprüche des<lb/> Subjects erfaßt, aber weder die Lebenskämpfe auf dem Schauplatz der Oeffent-<lb/> lichkeit in ſeine verſöhnende Bewegung hineinzieht (vergl. §. 220. 221), noch<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [515/0229]
mit Appellation an die Alten (Götter, Helden und Wieland), auch als
Recht der Sinnlichkeit allgemein reclamirt. Shakesſpeare wird wohl um
ſeiner Größe willen bewundert, aber ſeine eigentliche Bedeutung hat er
als Flügelmann der Oppoſition gegen das franzöſiſche Reglement; der
Cyniſmus, die Grobheit, die Willkühr, die Launenhaftigkeit und Bizar-
rerie der entfeſſelten genialen Naturgewalt beruft ſich auf ihn. Eine
weitere Darſtellung der Sturm- und Drang-Periode, dieſer Flegeljahre
des modernen Ideals, ſchenkt uns die verbreitete Kenntniß dieſer uns
ſchon ſo nahen Form.
§. 479.
Die ſtürmiſche Kraft bildet ſich durch Rückkehr an die wahre Quelle,
das antike Ideal der reinen Objectivität, und hinter dieſe an die ächte Natur.
Zur Einfalt und zum Formgefühl geläutert ergreift die Phantaſie auf der einen
Seite den Stoff des ſubjectiven Seelenlebens, der Entwicklung der Perſönlich-
keit und ihrer Kämpfe in der engeren Sphäre des Privatlebens und arbeitet
ihn in der bildend und empfindend dichtenden Art zur reinen Form aus, auf
der andern, von der wahren Größe des engliſchen Genius begeiſtert, den Kampf
der Freiheit im politiſchen Leben, den ſie feurig und gewaltig, jedoch nicht ohne
einen Reſt abſtracten Denkens (§. 406, 4.) und idealiſtiſcher Subjectivität in der
vorzugsweiſe modernen dritten Form der dichtenden Phantaſie niederlegt.
Göthe hat ſubjective Stoffe rein objectiv, Schiller objective Stoffe
zu ſubjectiv behandelt: dieß iſt die rechte Formel für ihr Verhältniß.
Wenn nun Göthe keinen Geſchichtsſinn hatte, wenn Schiller ihn zwar
hatte, aber ſeine großen Stoffe durch eine Zweiheit in ſeiner Natur,
welche die rein organiſche Thätigkeit der Phantaſie vielfach hemmte, theils
zu philoſophiſch, theils zu abſtract idealiſtiſch mit durchgängigem Vordrin-
gen ſeiner begeiſterten Subjectivität behandelte, ſo erkennt man die große
Aufgabe, welche dieſe Claſſiker des modernen Ideals noch zu löſen
übrig laſſen.
§. 480.
Inzwiſchen findet die Sentimentalität ihren eigenen Weg, ſich von ſich zu
befreien, indem ſie in das Komiſche umſchlägt. Auch hierin iſt die engliſche
Phantaſie der deutſchen vorangegangen; ihre Einflüſſe wecken den Humor, der
nun erſt mit Bewußtſein in ſeine Tiefen ſteigt und die feinſten Widerſprüche des
Subjects erfaßt, aber weder die Lebenskämpfe auf dem Schauplatz der Oeffent-
lichkeit in ſeine verſöhnende Bewegung hineinzieht (vergl. §. 220. 221), noch
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