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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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erhebe, oder ob dieser subjective Zufall aus dem objectiven folge, d. h.
ob es die mächtige Wirkung des Gegenstandes sei, welcher durch das
Maaß der Bedingungen der Schönheit, das er jedenfalls wirklich hat,
uns so erhebe, daß wir, was ihm noch fehlt, in der Freude des Schauens
ergänzen. Für Jenes spricht die Thatsache daß dem schlecht Gestimmten
Alles häßlich scheint; für Dieses die andere, daß eine schöne Natur-Er-
scheinung auch den Verstimmten umzustimmen fähig ist. Allein das
Dilemma löst sich einfach so: ist die zweite Thatsache wahr, so ist die
erste aus Ursachen zu erkären, um die sich die Aesthetik nicht zu kümmern
hat, denn eine Fähigkeit des Gemüths, sich dem Schönen auch bei vor-
handener Verstimmung zu öffnen, muß und darf sie ebenso gut vor-
aussetzen, als wir voraussetzen, daß die Zunge nicht belegt sei, wenn
wir Jemand sagen, er werde einen Trank süß finden. Eine völlige
Lähmung des freien Sinns mag möglich sein, geht uns aber nichts an.
Wir dürfen jedoch die erste Thatsache nicht blos negativ ausdrücken; es liegt
auch der positive Fall vor, daß das Subject zu einem (relativ)
schönen Gegenstande die freie Stimmung, die ihn zum wahrhaft schönen
erhebt, schon mitbringt; diese Stimmung wird aber einem schon früher
geschauten schönen Gegenstande ihren Ursprung verdanken. Dieß müssen
wir annehmen, denn nicht jede gute Stimmung, sondern die spezifisch
ästhetische ist es, wovon wir reden. Zustand des Sinnenglücks, moralische
Erhebung, Erkenntnißfreude ist es gar nicht, was uns zur Aufnahme des
Schönen, wo es begegnet, unmittelbar stimmt; im Gegentheil muß dann
das begegnende Schöne erst auf uns wirken, um uns aus jener fremd-
artigen Erhebung in die eigenthümliche ästhetische herüberzuziehen. Der
Geist kann sich aus freiem Entschluß auf das Gute, auf das Wahre
richten; um sich aber in die ästhetische Stimmung zu wenden, dazu braucht
er einen Anstoß in einem Vorgefundenen, darum weil Sinnlichkeit und
Zufälligkeit das Element dieses Gebiets ist. Es ist von der größten
Wichtigkeit, festzuhalten, daß es einen schönen Gegenstand braucht, uns
in die Stimmung versetzen, die denselben über das relative Maaß des
Schönen, das ihm eigen ist, in das volle erhebt. Die ganze weitere
Entwicklung gründet sich darauf. Wir gerathen ohne diese Erkenntniß
nothwendig in falschen Idealismus, denn wir müssen ohne sie so fort-
fahren: das Subject ist ästhetisch gestimmt und ergreift nun irgend einen
Gegenstand, um ihn in die Schönheit zu erheben. Dann bringen wir
das Subject und Object nicht zusammen; jenes wird seine ästhetische
Stimmung in irgend einen Gegenstand legen, der nun ganz anderer
Art und andern Gehalts sein kann, als jene Stimmung; daraus folgt
ein äußerliches Verhältniß zwischen Gehalt und Bild, Allegorie und ihr
ganzes Gefolge. Nein: dieser Gegenstand hat mich berührt und diesen

erhebe, oder ob dieſer ſubjective Zufall aus dem objectiven folge, d. h.
ob es die mächtige Wirkung des Gegenſtandes ſei, welcher durch das
Maaß der Bedingungen der Schönheit, das er jedenfalls wirklich hat,
uns ſo erhebe, daß wir, was ihm noch fehlt, in der Freude des Schauens
ergänzen. Für Jenes ſpricht die Thatſache daß dem ſchlecht Geſtimmten
Alles häßlich ſcheint; für Dieſes die andere, daß eine ſchöne Natur-Er-
ſcheinung auch den Verſtimmten umzuſtimmen fähig iſt. Allein das
Dilemma löst ſich einfach ſo: iſt die zweite Thatſache wahr, ſo iſt die
erſte aus Urſachen zu erkären, um die ſich die Aeſthetik nicht zu kümmern
hat, denn eine Fähigkeit des Gemüths, ſich dem Schönen auch bei vor-
handener Verſtimmung zu öffnen, muß und darf ſie ebenſo gut vor-
ausſetzen, als wir vorausſetzen, daß die Zunge nicht belegt ſei, wenn
wir Jemand ſagen, er werde einen Trank ſüß finden. Eine völlige
Lähmung des freien Sinns mag möglich ſein, geht uns aber nichts an.
Wir dürfen jedoch die erſte Thatſache nicht blos negativ ausdrücken; es liegt
auch der poſitive Fall vor, daß das Subject zu einem (relativ)
ſchönen Gegenſtande die freie Stimmung, die ihn zum wahrhaft ſchönen
erhebt, ſchon mitbringt; dieſe Stimmung wird aber einem ſchon früher
geſchauten ſchönen Gegenſtande ihren Urſprung verdanken. Dieß müſſen
wir annehmen, denn nicht jede gute Stimmung, ſondern die ſpezifiſch
äſthetiſche iſt es, wovon wir reden. Zuſtand des Sinnenglücks, moraliſche
Erhebung, Erkenntnißfreude iſt es gar nicht, was uns zur Aufnahme des
Schönen, wo es begegnet, unmittelbar ſtimmt; im Gegentheil muß dann
das begegnende Schöne erſt auf uns wirken, um uns aus jener fremd-
artigen Erhebung in die eigenthümliche äſthetiſche herüberzuziehen. Der
Geiſt kann ſich aus freiem Entſchluß auf das Gute, auf das Wahre
richten; um ſich aber in die äſthetiſche Stimmung zu wenden, dazu braucht
er einen Anſtoß in einem Vorgefundenen, darum weil Sinnlichkeit und
Zufälligkeit das Element dieſes Gebiets iſt. Es iſt von der größten
Wichtigkeit, feſtzuhalten, daß es einen ſchönen Gegenſtand braucht, uns
in die Stimmung verſetzen, die denſelben über das relative Maaß des
Schönen, das ihm eigen iſt, in das volle erhebt. Die ganze weitere
Entwicklung gründet ſich darauf. Wir gerathen ohne dieſe Erkenntniß
nothwendig in falſchen Idealiſmus, denn wir müſſen ohne ſie ſo fort-
fahren: das Subject iſt äſthetiſch geſtimmt und ergreift nun irgend einen
Gegenſtand, um ihn in die Schönheit zu erheben. Dann bringen wir
das Subject und Object nicht zuſammen; jenes wird ſeine äſthetiſche
Stimmung in irgend einen Gegenſtand legen, der nun ganz anderer
Art und andern Gehalts ſein kann, als jene Stimmung; daraus folgt
ein äußerliches Verhältniß zwiſchen Gehalt und Bild, Allegorie und ihr
ganzes Gefolge. Nein: dieſer Gegenſtand hat mich berührt und dieſen

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[308/0022] erhebe, oder ob dieſer ſubjective Zufall aus dem objectiven folge, d. h. ob es die mächtige Wirkung des Gegenſtandes ſei, welcher durch das Maaß der Bedingungen der Schönheit, das er jedenfalls wirklich hat, uns ſo erhebe, daß wir, was ihm noch fehlt, in der Freude des Schauens ergänzen. Für Jenes ſpricht die Thatſache daß dem ſchlecht Geſtimmten Alles häßlich ſcheint; für Dieſes die andere, daß eine ſchöne Natur-Er- ſcheinung auch den Verſtimmten umzuſtimmen fähig iſt. Allein das Dilemma löst ſich einfach ſo: iſt die zweite Thatſache wahr, ſo iſt die erſte aus Urſachen zu erkären, um die ſich die Aeſthetik nicht zu kümmern hat, denn eine Fähigkeit des Gemüths, ſich dem Schönen auch bei vor- handener Verſtimmung zu öffnen, muß und darf ſie ebenſo gut vor- ausſetzen, als wir vorausſetzen, daß die Zunge nicht belegt ſei, wenn wir Jemand ſagen, er werde einen Trank ſüß finden. Eine völlige Lähmung des freien Sinns mag möglich ſein, geht uns aber nichts an. Wir dürfen jedoch die erſte Thatſache nicht blos negativ ausdrücken; es liegt auch der poſitive Fall vor, daß das Subject zu einem (relativ) ſchönen Gegenſtande die freie Stimmung, die ihn zum wahrhaft ſchönen erhebt, ſchon mitbringt; dieſe Stimmung wird aber einem ſchon früher geſchauten ſchönen Gegenſtande ihren Urſprung verdanken. Dieß müſſen wir annehmen, denn nicht jede gute Stimmung, ſondern die ſpezifiſch äſthetiſche iſt es, wovon wir reden. Zuſtand des Sinnenglücks, moraliſche Erhebung, Erkenntnißfreude iſt es gar nicht, was uns zur Aufnahme des Schönen, wo es begegnet, unmittelbar ſtimmt; im Gegentheil muß dann das begegnende Schöne erſt auf uns wirken, um uns aus jener fremd- artigen Erhebung in die eigenthümliche äſthetiſche herüberzuziehen. Der Geiſt kann ſich aus freiem Entſchluß auf das Gute, auf das Wahre richten; um ſich aber in die äſthetiſche Stimmung zu wenden, dazu braucht er einen Anſtoß in einem Vorgefundenen, darum weil Sinnlichkeit und Zufälligkeit das Element dieſes Gebiets iſt. Es iſt von der größten Wichtigkeit, feſtzuhalten, daß es einen ſchönen Gegenſtand braucht, uns in die Stimmung verſetzen, die denſelben über das relative Maaß des Schönen, das ihm eigen iſt, in das volle erhebt. Die ganze weitere Entwicklung gründet ſich darauf. Wir gerathen ohne dieſe Erkenntniß nothwendig in falſchen Idealiſmus, denn wir müſſen ohne ſie ſo fort- fahren: das Subject iſt äſthetiſch geſtimmt und ergreift nun irgend einen Gegenſtand, um ihn in die Schönheit zu erheben. Dann bringen wir das Subject und Object nicht zuſammen; jenes wird ſeine äſthetiſche Stimmung in irgend einen Gegenſtand legen, der nun ganz anderer Art und andern Gehalts ſein kann, als jene Stimmung; daraus folgt ein äußerliches Verhältniß zwiſchen Gehalt und Bild, Allegorie und ihr ganzes Gefolge. Nein: dieſer Gegenſtand hat mich berührt und dieſen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/22>, abgerufen am 30.04.2024.