Da übrigens das moderne Ideal ein Fortschritt auf denselben Grund- lagen und, mit Einschränkung zwar, in denselben Volksgeistern ist, wie das romantische, so scheint die Darstellung desselben keinen weitern Zusatz zu fordern, 2als daß es die Grundformen des Schönen (§. 403) in alle Weite und Tiefe verfolgen, daß es über alle Arten der nach Sphären ihres Stoffs unterschiedenen Phantasie (§. 403) sich gleich frei ausdehnen, daß es im messenden Sehen vor- erst unfruchtbar, im tastenden ein für allemal nachahmend, im eigentlichen Sehen dagegen und in der empfindenden Art productiv sein, schließlich aber besonders nach der dichtenden und in ihr nach der Einheit der bildenden und empfindenden Phantasie (§. 404) hindrängen wird.
1. Die Einschränkung läßt sich schon aus dem schließen, was in §. 366 über das Zurückbleiben der romanischen Völker, die Franzosen ausgenom- men, gesagt ist. Das Verhältniß ist aber nicht ganz dasselbe, wie in der Geschichte. Sie bleiben in jener noch über ihr politisches Sinken hinaus thätig. Darum nun, weil kein weiterer Volksgeist productiv in die Welt der Phantasie einrückt, der dem Ideal eine besondere neue Wendung ge- ben könnte, scheint es nach dem §., daß über dasselbe außer dem, was der weitere Inhalt des §. sagt, nichts weiter auszusprechen sei. Wir werden darauf zurückkommen.
2. Zuerst das Verhältniß zum einfach Schönen, Erhabenen und Komi- schen. Erst wenn das befreite Selbstbewußtsein sich als Angel der Welt weiß, kann das Erhabene und Komische erschöpft werden; dagegen müssen je die sinnlicheren Formen, die Naturfrische der Leidenschaft, die derbe Kraft der Posse zurücksinken, doch, wie sich zeigen wird, nicht sogleich. Wie nun der Humor seine Tiefen erreicht, so ist auch das Tragische wieder da als gegenwärtige Bewegung der unendlichen Gerechtigkeit im Men- schenleben. Zweitens, die nach Stoff-Sphären bestimmten Arten der Phan- tasie können sich jetzt alle in freier Ausdehnung entwickeln; insbesondere kann sich die Phantasie eines Individuums jetzt erst ganz in die land- schaftliche oder thierische Schönheit und in die unbefangenen rein mensch- lichen Zustände als selbständige Arten legen. Die weite Welt ist offen; die Wolke des Mythus, die so herrlich glänzte, aber doch ganze Reiche des Wirklichen in Schatten setzte, ist verweht, die Sonne scheint frei, ein lichter Tag liegt über der ganzen Welt. Drittens, die durch die Momente der Phantasie selbst bestimmten Arten: das messende Sehen kann nicht blühen, wo das Ahnungsleben im unfreien Scheine, das in abstracten Raumverhältnissen Welträthsel dunkel niederlegt, das elementarisch Naive zu Ende ist; dieß Ideal kann keinen Baustyl schaffen; das tastende Sehen wird in der Schule der Alten wieder erwachen, aber nur reproductiv,
§. 468.
1
Da übrigens das moderne Ideal ein Fortſchritt auf denſelben Grund- lagen und, mit Einſchränkung zwar, in denſelben Volksgeiſtern iſt, wie das romantiſche, ſo ſcheint die Darſtellung deſſelben keinen weitern Zuſatz zu fordern, 2als daß es die Grundformen des Schönen (§. 403) in alle Weite und Tiefe verfolgen, daß es über alle Arten der nach Sphären ihres Stoffs unterſchiedenen Phantaſie (§. 403) ſich gleich frei ausdehnen, daß es im meſſenden Sehen vor- erſt unfruchtbar, im taſtenden ein für allemal nachahmend, im eigentlichen Sehen dagegen und in der empfindenden Art productiv ſein, ſchließlich aber beſonders nach der dichtenden und in ihr nach der Einheit der bildenden und empfindenden Phantaſie (§. 404) hindrängen wird.
1. Die Einſchränkung läßt ſich ſchon aus dem ſchließen, was in §. 366 über das Zurückbleiben der romaniſchen Völker, die Franzoſen ausgenom- men, geſagt iſt. Das Verhältniß iſt aber nicht ganz daſſelbe, wie in der Geſchichte. Sie bleiben in jener noch über ihr politiſches Sinken hinaus thätig. Darum nun, weil kein weiterer Volksgeiſt productiv in die Welt der Phantaſie einrückt, der dem Ideal eine beſondere neue Wendung ge- ben könnte, ſcheint es nach dem §., daß über daſſelbe außer dem, was der weitere Inhalt des §. ſagt, nichts weiter auszuſprechen ſei. Wir werden darauf zurückkommen.
2. Zuerſt das Verhältniß zum einfach Schönen, Erhabenen und Komi- ſchen. Erſt wenn das befreite Selbſtbewußtſein ſich als Angel der Welt weiß, kann das Erhabene und Komiſche erſchöpft werden; dagegen müſſen je die ſinnlicheren Formen, die Naturfriſche der Leidenſchaft, die derbe Kraft der Poſſe zurückſinken, doch, wie ſich zeigen wird, nicht ſogleich. Wie nun der Humor ſeine Tiefen erreicht, ſo iſt auch das Tragiſche wieder da als gegenwärtige Bewegung der unendlichen Gerechtigkeit im Men- ſchenleben. Zweitens, die nach Stoff-Sphären beſtimmten Arten der Phan- taſie können ſich jetzt alle in freier Ausdehnung entwickeln; insbeſondere kann ſich die Phantaſie eines Individuums jetzt erſt ganz in die land- ſchaftliche oder thieriſche Schönheit und in die unbefangenen rein menſch- lichen Zuſtände als ſelbſtändige Arten legen. Die weite Welt iſt offen; die Wolke des Mythus, die ſo herrlich glänzte, aber doch ganze Reiche des Wirklichen in Schatten ſetzte, iſt verweht, die Sonne ſcheint frei, ein lichter Tag liegt über der ganzen Welt. Drittens, die durch die Momente der Phantaſie ſelbſt beſtimmten Arten: das meſſende Sehen kann nicht blühen, wo das Ahnungsleben im unfreien Scheine, das in abſtracten Raumverhältniſſen Welträthſel dunkel niederlegt, das elementariſch Naive zu Ende iſt; dieß Ideal kann keinen Bauſtyl ſchaffen; das taſtende Sehen wird in der Schule der Alten wieder erwachen, aber nur reproductiv,
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§. 468.
Da übrigens das moderne Ideal ein Fortſchritt auf denſelben Grund-
lagen und, mit Einſchränkung zwar, in denſelben Volksgeiſtern iſt, wie das
romantiſche, ſo ſcheint die Darſtellung deſſelben keinen weitern Zuſatz zu fordern,
als daß es die Grundformen des Schönen (§. 403) in alle Weite und Tiefe
verfolgen, daß es über alle Arten der nach Sphären ihres Stoffs unterſchiedenen
Phantaſie (§. 403) ſich gleich frei ausdehnen, daß es im meſſenden Sehen vor-
erſt unfruchtbar, im taſtenden ein für allemal nachahmend, im eigentlichen Sehen
dagegen und in der empfindenden Art productiv ſein, ſchließlich aber beſonders
nach der dichtenden und in ihr nach der Einheit der bildenden und empfindenden
Phantaſie (§. 404) hindrängen wird.
1. Die Einſchränkung läßt ſich ſchon aus dem ſchließen, was in §. 366
über das Zurückbleiben der romaniſchen Völker, die Franzoſen ausgenom-
men, geſagt iſt. Das Verhältniß iſt aber nicht ganz daſſelbe, wie in der
Geſchichte. Sie bleiben in jener noch über ihr politiſches Sinken hinaus
thätig. Darum nun, weil kein weiterer Volksgeiſt productiv in die Welt
der Phantaſie einrückt, der dem Ideal eine beſondere neue Wendung ge-
ben könnte, ſcheint es nach dem §., daß über daſſelbe außer dem, was
der weitere Inhalt des §. ſagt, nichts weiter auszuſprechen ſei. Wir
werden darauf zurückkommen.
2. Zuerſt das Verhältniß zum einfach Schönen, Erhabenen und Komi-
ſchen. Erſt wenn das befreite Selbſtbewußtſein ſich als Angel der Welt weiß,
kann das Erhabene und Komiſche erſchöpft werden; dagegen müſſen je
die ſinnlicheren Formen, die Naturfriſche der Leidenſchaft, die derbe Kraft
der Poſſe zurückſinken, doch, wie ſich zeigen wird, nicht ſogleich. Wie
nun der Humor ſeine Tiefen erreicht, ſo iſt auch das Tragiſche wieder
da als gegenwärtige Bewegung der unendlichen Gerechtigkeit im Men-
ſchenleben. Zweitens, die nach Stoff-Sphären beſtimmten Arten der Phan-
taſie können ſich jetzt alle in freier Ausdehnung entwickeln; insbeſondere
kann ſich die Phantaſie eines Individuums jetzt erſt ganz in die land-
ſchaftliche oder thieriſche Schönheit und in die unbefangenen rein menſch-
lichen Zuſtände als ſelbſtändige Arten legen. Die weite Welt iſt offen;
die Wolke des Mythus, die ſo herrlich glänzte, aber doch ganze Reiche
des Wirklichen in Schatten ſetzte, iſt verweht, die Sonne ſcheint frei, ein
lichter Tag liegt über der ganzen Welt. Drittens, die durch die Momente
der Phantaſie ſelbſt beſtimmten Arten: das meſſende Sehen kann nicht
blühen, wo das Ahnungsleben im unfreien Scheine, das in abſtracten
Raumverhältniſſen Welträthſel dunkel niederlegt, das elementariſch Naive
zu Ende iſt; dieß Ideal kann keinen Bauſtyl ſchaffen; das taſtende Sehen
wird in der Schule der Alten wieder erwachen, aber nur reproductiv,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 504. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/218>, abgerufen am 08.07.2024.
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