tasie in Thätigkeit gesetzt wird: alle diese Erscheinungen vollenden und zerstören zugleich das Ideal des Mittelalters (vergl. §. 63).
Im fünfzehnten Jahrhundert nimmt die Landschaft immer ausge- dehnteren Raum in mythischen Darstellungen ein, zum Beweise, daß der mythische Auszug aus der Natur allmählich einer directen Uebertragung des geistigen Gehalts, der Seelenstimmungen auf die weite Welt weichen muß; die Thierwelt regt sich, doch reicht es noch nicht zu selbständigen Darstellungen, sie bleibt Staffage; das Porträt, die unbefangenen mensch- lichen Thätigkeiten im Gebiete des Zweckmäßigen, aber auch der historische Mensch in seiner markigen Objectivität, die großen Herrscher, Krieger, Staatsmänner, Gelehrten rücken in das Ideal herein, freilich in dem unorganischen Verhältnisse, daß sie als unbeschäftigte Zuschauer um einen mythischen Vorgang versammelt werden, daß ganz empirisch geschichtliche Stoffe in die Rittersagen eindringen, oder daß man die Welt im Himmel oder in der Hölle suchen muß, wie schon bei Dante, dessen größte Stellen die großen Scenen aus den Kämpfen des Städtelebens im Mittelalter sind. Noch Raphael wagt keinen geschichtlichen Stoff ohne Wunder darzustellen, wie die Stanzen zeigen. Zugleich fängt die Ascese, ihr Aus- druck, ihre Motive im weitesten Sinn zu schwinden an; man wagt es, den schönen Genuß in freier Grazie darzustellen, unbefangen und heiter, ja subjectiv wärmer, als die Alten. Selbst das Nackte wird wieder stu- dirt und anfangs schüchtern, in Deutschland immer steif, aber vorurtheils- los aufgenommen. Diese Einführung der ursprünglichen Stoffwelt ist nun zugleich nothwendig Ueberwindung des Typus in der Form. Da übrigens nicht alle Härte der Form nur durch die Macht des Typus festgehalten, sondern ein guter Theil derselben durch den germanischen Volksgeist bedingt ist, so geschieht in der deutschen Phantasie die Befreiung bei fortdauernd überall eckiger Form auf dem Wege, daß die Individualität mit einer Bestimmtheit und Energie ein- geführt wird, welche sich als Charakter auf die eigenen Füße stellt, so daß der ganze Ausdruck, selbst ohne Absicht, sagt, daß diese markigen Menschen den Schwerpunkt nicht mehr außer sich als mythisches Spiegelbild, sondern in sich selbst tragen, daß ferner hier namentlich die Landschaft und die gemüthlichen Sphären des profanen Menschen (das Genreartige) in wach- sender Ausdehnung eingeführt werden. Man erkennt: der Mensch fängt an, auf der Welt zu Hause zu sein. Auf andere Weise wohnen sich die romanischen Völker in der Welt ein; von Stoffen fällt ihnen auch die Landschaft, doch diese unter Einwirkung der Deutschen, das Porträt, der politische Mensch zu, aber eigener ist ihnen die Sphäre der freien Sinn- lichkeit, vorzüglich den Italienern, welche die Aufgabe haben, das Ideal des Mittelalters zu voller Reife zu bringen. Wie sie nun für diese
taſie in Thätigkeit geſetzt wird: alle dieſe Erſcheinungen vollenden und zerſtören zugleich das Ideal des Mittelalters (vergl. §. 63).
Im fünfzehnten Jahrhundert nimmt die Landſchaft immer ausge- dehnteren Raum in mythiſchen Darſtellungen ein, zum Beweiſe, daß der mythiſche Auszug aus der Natur allmählich einer directen Uebertragung des geiſtigen Gehalts, der Seelenſtimmungen auf die weite Welt weichen muß; die Thierwelt regt ſich, doch reicht es noch nicht zu ſelbſtändigen Darſtellungen, ſie bleibt Staffage; das Porträt, die unbefangenen menſch- lichen Thätigkeiten im Gebiete des Zweckmäßigen, aber auch der hiſtoriſche Menſch in ſeiner markigen Objectivität, die großen Herrſcher, Krieger, Staatsmänner, Gelehrten rücken in das Ideal herein, freilich in dem unorganiſchen Verhältniſſe, daß ſie als unbeſchäftigte Zuſchauer um einen mythiſchen Vorgang verſammelt werden, daß ganz empiriſch geſchichtliche Stoffe in die Ritterſagen eindringen, oder daß man die Welt im Himmel oder in der Hölle ſuchen muß, wie ſchon bei Dante, deſſen größte Stellen die großen Scenen aus den Kämpfen des Städtelebens im Mittelalter ſind. Noch Raphael wagt keinen geſchichtlichen Stoff ohne Wunder darzuſtellen, wie die Stanzen zeigen. Zugleich fängt die Aſceſe, ihr Aus- druck, ihre Motive im weiteſten Sinn zu ſchwinden an; man wagt es, den ſchönen Genuß in freier Grazie darzuſtellen, unbefangen und heiter, ja ſubjectiv wärmer, als die Alten. Selbſt das Nackte wird wieder ſtu- dirt und anfangs ſchüchtern, in Deutſchland immer ſteif, aber vorurtheils- los aufgenommen. Dieſe Einführung der urſprünglichen Stoffwelt iſt nun zugleich nothwendig Ueberwindung des Typus in der Form. Da übrigens nicht alle Härte der Form nur durch die Macht des Typus feſtgehalten, ſondern ein guter Theil derſelben durch den germaniſchen Volksgeiſt bedingt iſt, ſo geſchieht in der deutſchen Phantaſie die Befreiung bei fortdauernd überall eckiger Form auf dem Wege, daß die Individualität mit einer Beſtimmtheit und Energie ein- geführt wird, welche ſich als Charakter auf die eigenen Füße ſtellt, ſo daß der ganze Ausdruck, ſelbſt ohne Abſicht, ſagt, daß dieſe markigen Menſchen den Schwerpunkt nicht mehr außer ſich als mythiſches Spiegelbild, ſondern in ſich ſelbſt tragen, daß ferner hier namentlich die Landſchaft und die gemüthlichen Sphären des profanen Menſchen (das Genreartige) in wach- ſender Ausdehnung eingeführt werden. Man erkennt: der Menſch fängt an, auf der Welt zu Hauſe zu ſein. Auf andere Weiſe wohnen ſich die romaniſchen Völker in der Welt ein; von Stoffen fällt ihnen auch die Landſchaft, doch dieſe unter Einwirkung der Deutſchen, das Porträt, der politiſche Menſch zu, aber eigener iſt ihnen die Sphäre der freien Sinn- lichkeit, vorzüglich den Italienern, welche die Aufgabe haben, das Ideal des Mittelalters zu voller Reife zu bringen. Wie ſie nun für dieſe
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><p><hirendition="#fr"><pbfacs="#f0212"n="498"/>
taſie in Thätigkeit geſetzt wird: alle dieſe Erſcheinungen vollenden und zerſtören<lb/>
zugleich das Ideal des Mittelalters (vergl. §. 63).</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">Im fünfzehnten Jahrhundert nimmt die Landſchaft immer ausge-<lb/>
dehnteren Raum in mythiſchen Darſtellungen ein, zum Beweiſe, daß der<lb/>
mythiſche Auszug aus der Natur allmählich einer directen Uebertragung<lb/>
des geiſtigen Gehalts, der Seelenſtimmungen auf die weite Welt weichen<lb/>
muß; die Thierwelt regt ſich, doch reicht es noch nicht zu ſelbſtändigen<lb/>
Darſtellungen, ſie bleibt Staffage; das Porträt, die unbefangenen menſch-<lb/>
lichen Thätigkeiten im Gebiete des Zweckmäßigen, aber auch der hiſtoriſche<lb/>
Menſch in ſeiner markigen Objectivität, die großen Herrſcher, Krieger,<lb/>
Staatsmänner, Gelehrten rücken in das Ideal herein, freilich in dem<lb/>
unorganiſchen Verhältniſſe, daß ſie als unbeſchäftigte Zuſchauer um einen<lb/>
mythiſchen Vorgang verſammelt werden, daß ganz empiriſch geſchichtliche<lb/>
Stoffe in die Ritterſagen eindringen, oder daß man die Welt im Himmel<lb/>
oder in der Hölle ſuchen muß, wie ſchon bei Dante, deſſen größte Stellen<lb/>
die großen Scenen aus den Kämpfen des Städtelebens im Mittelalter<lb/>ſind. Noch Raphael wagt keinen geſchichtlichen Stoff ohne Wunder<lb/>
darzuſtellen, wie die Stanzen zeigen. Zugleich fängt die Aſceſe, ihr Aus-<lb/>
druck, ihre Motive im weiteſten Sinn zu ſchwinden an; man wagt es,<lb/>
den ſchönen Genuß in freier Grazie darzuſtellen, unbefangen und heiter,<lb/>
ja ſubjectiv wärmer, als die Alten. Selbſt das Nackte wird wieder ſtu-<lb/>
dirt und anfangs ſchüchtern, in Deutſchland immer ſteif, aber vorurtheils-<lb/>
los aufgenommen. Dieſe Einführung der urſprünglichen Stoffwelt iſt nun<lb/>
zugleich nothwendig Ueberwindung des Typus in der Form. Da übrigens nicht<lb/>
alle Härte der Form nur durch die Macht des Typus feſtgehalten, ſondern ein<lb/>
guter Theil derſelben durch den germaniſchen Volksgeiſt bedingt iſt, ſo geſchieht<lb/>
in der deutſchen Phantaſie die Befreiung bei fortdauernd überall eckiger Form<lb/>
auf dem Wege, daß die Individualität mit einer Beſtimmtheit und Energie ein-<lb/>
geführt wird, welche ſich als Charakter auf die eigenen Füße ſtellt, ſo daß der<lb/>
ganze Ausdruck, ſelbſt ohne Abſicht, ſagt, daß dieſe markigen Menſchen den<lb/>
Schwerpunkt nicht mehr außer ſich als mythiſches Spiegelbild, ſondern<lb/>
in ſich ſelbſt tragen, daß ferner hier namentlich die Landſchaft und die<lb/>
gemüthlichen Sphären des profanen Menſchen (das Genreartige) in wach-<lb/>ſender Ausdehnung eingeführt werden. Man erkennt: der Menſch fängt<lb/>
an, <hirendition="#g">auf der Welt zu Hauſe zu ſein</hi>. Auf andere Weiſe wohnen<lb/>ſich die romaniſchen Völker in der Welt ein; von Stoffen fällt ihnen auch<lb/>
die Landſchaft, doch dieſe unter Einwirkung der Deutſchen, das Porträt,<lb/>
der politiſche Menſch zu, aber eigener iſt ihnen die Sphäre der freien Sinn-<lb/>
lichkeit, vorzüglich den Italienern, welche die Aufgabe haben, das Ideal<lb/>
des Mittelalters zu voller Reife zu bringen. Wie ſie nun für dieſe<lb/></hi></p></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[498/0212]
taſie in Thätigkeit geſetzt wird: alle dieſe Erſcheinungen vollenden und zerſtören
zugleich das Ideal des Mittelalters (vergl. §. 63).
Im fünfzehnten Jahrhundert nimmt die Landſchaft immer ausge-
dehnteren Raum in mythiſchen Darſtellungen ein, zum Beweiſe, daß der
mythiſche Auszug aus der Natur allmählich einer directen Uebertragung
des geiſtigen Gehalts, der Seelenſtimmungen auf die weite Welt weichen
muß; die Thierwelt regt ſich, doch reicht es noch nicht zu ſelbſtändigen
Darſtellungen, ſie bleibt Staffage; das Porträt, die unbefangenen menſch-
lichen Thätigkeiten im Gebiete des Zweckmäßigen, aber auch der hiſtoriſche
Menſch in ſeiner markigen Objectivität, die großen Herrſcher, Krieger,
Staatsmänner, Gelehrten rücken in das Ideal herein, freilich in dem
unorganiſchen Verhältniſſe, daß ſie als unbeſchäftigte Zuſchauer um einen
mythiſchen Vorgang verſammelt werden, daß ganz empiriſch geſchichtliche
Stoffe in die Ritterſagen eindringen, oder daß man die Welt im Himmel
oder in der Hölle ſuchen muß, wie ſchon bei Dante, deſſen größte Stellen
die großen Scenen aus den Kämpfen des Städtelebens im Mittelalter
ſind. Noch Raphael wagt keinen geſchichtlichen Stoff ohne Wunder
darzuſtellen, wie die Stanzen zeigen. Zugleich fängt die Aſceſe, ihr Aus-
druck, ihre Motive im weiteſten Sinn zu ſchwinden an; man wagt es,
den ſchönen Genuß in freier Grazie darzuſtellen, unbefangen und heiter,
ja ſubjectiv wärmer, als die Alten. Selbſt das Nackte wird wieder ſtu-
dirt und anfangs ſchüchtern, in Deutſchland immer ſteif, aber vorurtheils-
los aufgenommen. Dieſe Einführung der urſprünglichen Stoffwelt iſt nun
zugleich nothwendig Ueberwindung des Typus in der Form. Da übrigens nicht
alle Härte der Form nur durch die Macht des Typus feſtgehalten, ſondern ein
guter Theil derſelben durch den germaniſchen Volksgeiſt bedingt iſt, ſo geſchieht
in der deutſchen Phantaſie die Befreiung bei fortdauernd überall eckiger Form
auf dem Wege, daß die Individualität mit einer Beſtimmtheit und Energie ein-
geführt wird, welche ſich als Charakter auf die eigenen Füße ſtellt, ſo daß der
ganze Ausdruck, ſelbſt ohne Abſicht, ſagt, daß dieſe markigen Menſchen den
Schwerpunkt nicht mehr außer ſich als mythiſches Spiegelbild, ſondern
in ſich ſelbſt tragen, daß ferner hier namentlich die Landſchaft und die
gemüthlichen Sphären des profanen Menſchen (das Genreartige) in wach-
ſender Ausdehnung eingeführt werden. Man erkennt: der Menſch fängt
an, auf der Welt zu Hauſe zu ſein. Auf andere Weiſe wohnen
ſich die romaniſchen Völker in der Welt ein; von Stoffen fällt ihnen auch
die Landſchaft, doch dieſe unter Einwirkung der Deutſchen, das Porträt,
der politiſche Menſch zu, aber eigener iſt ihnen die Sphäre der freien Sinn-
lichkeit, vorzüglich den Italienern, welche die Aufgabe haben, das Ideal
des Mittelalters zu voller Reife zu bringen. Wie ſie nun für dieſe
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 498. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/212>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.