Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.1. Warum der Standpunkt der des einfach Schönen ist, bedarf keiner 1. Warum der Standpunkt der des einfach Schönen iſt, bedarf keiner <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <pb facs="#f0177" n="463"/> <p> <hi rendition="#et">1. Warum der Standpunkt der des einfach Schönen iſt, bedarf keiner<lb/> Nachweiſung. Im Fortgang zum Erhabenen wird nicht, wie bei den<lb/> Orientalen, das objectiv Erhabene der Standpunkt ſein, unter dem auch<lb/> das Erhabene des Subjects behandelt wird, d. h. das Ungeheure und<lb/> Coloſſale wird ſich auch hier ermäßigen und verſchwinden, ſo daß dieſe<lb/> Form, da ja die ganze Phantaſie auf die menſchliche Schönheit geht, ganz<lb/> in ihrem eigenen Sinne behandelt werden wird, aber unter dem Geſichts-<lb/> punkte des einfach Schönen: d. h. nicht verborgene innere Kämpfe, ſondern<lb/> immer nur ſolche, welche ganz in das Greifbare heraustreten, können zur<lb/> Darſtellung kommen. Zwar wird hier mit dem Furchtbaren auch das<lb/> Häßliche eintreten, aber auch hier ſich bewähren, daß das für die einzelne<lb/> Geſtalt geltende Geſetz der Schönheit nur mäßige Einſchränkung erleidet:<lb/> Maaß und Grazie, ein nicht verſchwendeter Schatz von Ruhe und Milde<lb/> wird ſelbſt den äußerſten Kampf noch dämpfen, wie Winkelmann vom<lb/> Laokoon ſagt, daß er eine bewegte See ſei, deren unterſter Grund ruhig<lb/> geblieben. Das Erhabene des böſen Willens kann ohnedieß noch keine<lb/> Rolle ſpielen (vergl. §. 353). Man ſehe zum Beleg für dieſe Sätze<lb/> nur die Rondaniniſche Meduſe an: durch die edeln Züge grinst nur leiſe,<lb/> aber deſto wirkſamer das Erſtarren des Todes, jenes von fern an das<lb/> Erbrechen erinnernde Zucken. Nun erſt iſt aber auch das Tragiſche mög-<lb/> lich, das Schickſal tritt in Wirkung. Wir ſahen oben, daß es eine ethiſche,<lb/> aber zugleich noch dunkle Naturmacht iſt. Daraus folgt, daß vorzüglich<lb/> das Tragiſche als Geſetz des Univerſums die dieſem Ideal gemäße Form<lb/> ſein wird (vergl. §. 130), der Neid der nivellirenden Allgemeinheit. Nun<lb/> tritt allerdings der ethiſche Geiſt dieſes Ideals nothwendig auch in das<lb/> Tragiſche der einfachen Schuld und des ſittlichen Conflicts über (§. 131<lb/> ff. 135 ff.); allein es bleibt immer etwas von der erſten Form, dem<lb/> Neide des Schickſals als einer Naturmacht zurück. Im Conflicte bekämpfen<lb/> ſich Heroen, deren jeder Recht im Unrecht hat; das Schickſal iſt die un-<lb/> getheilte Einheit der ſittlichen Macht, die ſie in Einſeitigkeit theilen; es<lb/> treibt ſie aneinander, es ſtraft ſie. Dieſe Idee kann aber bei den Grie-<lb/> chen nicht rein in Geltung treten; das Schickſal bleibt <hi rendition="#g">zugleich</hi> eine<lb/> neidiſche dunkle Macht, welche den Glanz großer Geſchlechter nicht dulden<lb/> will, daher ihnen tückiſch als böſer Zufall nachſtellt und die Schuld des<lb/> Ahnherrn am Enkel dadurch rächt, daß dieſer neue Schuld begeht, und<lb/> für dieſe, die doch ſelbſt ſchon Strafe für die Schuld des Ahnherrn iſt,<lb/> erſt noch Strafe leidet. Daher iſt der Enkel ſchuldig und unſchuldig; es<lb/> herrſcht eine ungelöste Antinomie. Das Schickſal iſt daher ein <hi rendition="#g">fürchter-<lb/> licher</hi> Abgrund, das Grauſenhafteſte, was die Griechen kannten, das<lb/> am meiſten Geſpenſtiſche, was ihr Ideal aufweist, halb rationell, eine<lb/> ethiſche Macht, halb irrationell, mit dem beſtändigen Reize, es als ge-<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [463/0177]
1. Warum der Standpunkt der des einfach Schönen iſt, bedarf keiner
Nachweiſung. Im Fortgang zum Erhabenen wird nicht, wie bei den
Orientalen, das objectiv Erhabene der Standpunkt ſein, unter dem auch
das Erhabene des Subjects behandelt wird, d. h. das Ungeheure und
Coloſſale wird ſich auch hier ermäßigen und verſchwinden, ſo daß dieſe
Form, da ja die ganze Phantaſie auf die menſchliche Schönheit geht, ganz
in ihrem eigenen Sinne behandelt werden wird, aber unter dem Geſichts-
punkte des einfach Schönen: d. h. nicht verborgene innere Kämpfe, ſondern
immer nur ſolche, welche ganz in das Greifbare heraustreten, können zur
Darſtellung kommen. Zwar wird hier mit dem Furchtbaren auch das
Häßliche eintreten, aber auch hier ſich bewähren, daß das für die einzelne
Geſtalt geltende Geſetz der Schönheit nur mäßige Einſchränkung erleidet:
Maaß und Grazie, ein nicht verſchwendeter Schatz von Ruhe und Milde
wird ſelbſt den äußerſten Kampf noch dämpfen, wie Winkelmann vom
Laokoon ſagt, daß er eine bewegte See ſei, deren unterſter Grund ruhig
geblieben. Das Erhabene des böſen Willens kann ohnedieß noch keine
Rolle ſpielen (vergl. §. 353). Man ſehe zum Beleg für dieſe Sätze
nur die Rondaniniſche Meduſe an: durch die edeln Züge grinst nur leiſe,
aber deſto wirkſamer das Erſtarren des Todes, jenes von fern an das
Erbrechen erinnernde Zucken. Nun erſt iſt aber auch das Tragiſche mög-
lich, das Schickſal tritt in Wirkung. Wir ſahen oben, daß es eine ethiſche,
aber zugleich noch dunkle Naturmacht iſt. Daraus folgt, daß vorzüglich
das Tragiſche als Geſetz des Univerſums die dieſem Ideal gemäße Form
ſein wird (vergl. §. 130), der Neid der nivellirenden Allgemeinheit. Nun
tritt allerdings der ethiſche Geiſt dieſes Ideals nothwendig auch in das
Tragiſche der einfachen Schuld und des ſittlichen Conflicts über (§. 131
ff. 135 ff.); allein es bleibt immer etwas von der erſten Form, dem
Neide des Schickſals als einer Naturmacht zurück. Im Conflicte bekämpfen
ſich Heroen, deren jeder Recht im Unrecht hat; das Schickſal iſt die un-
getheilte Einheit der ſittlichen Macht, die ſie in Einſeitigkeit theilen; es
treibt ſie aneinander, es ſtraft ſie. Dieſe Idee kann aber bei den Grie-
chen nicht rein in Geltung treten; das Schickſal bleibt zugleich eine
neidiſche dunkle Macht, welche den Glanz großer Geſchlechter nicht dulden
will, daher ihnen tückiſch als böſer Zufall nachſtellt und die Schuld des
Ahnherrn am Enkel dadurch rächt, daß dieſer neue Schuld begeht, und
für dieſe, die doch ſelbſt ſchon Strafe für die Schuld des Ahnherrn iſt,
erſt noch Strafe leidet. Daher iſt der Enkel ſchuldig und unſchuldig; es
herrſcht eine ungelöste Antinomie. Das Schickſal iſt daher ein fürchter-
licher Abgrund, das Grauſenhafteſte, was die Griechen kannten, das
am meiſten Geſpenſtiſche, was ihr Ideal aufweist, halb rationell, eine
ethiſche Macht, halb irrationell, mit dem beſtändigen Reize, es als ge-
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