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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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persönliche Götterwelt übervoll. Es ist, wenn einmal die Natur vergöttert
wird, keine Grenze abzusehen; zwar hält sich (vergl. §. 425 Anm. 1)
der Polytheismus an die bedeutendsten Erscheinungen als Grundlagen,
aber neben diesen besteht die ganze übrige Welt. Wie soll sich die nicht
vergötterte Welt zu dem vergötterten Theile verhalten? Jede andere Er-
scheinung kann wieder als Symbol der vergötterten Haupterscheinungen
gefaßt werden. Das Symbol wird nicht als bloßes Symbol gewußt,
das Lauern der Bedeutung hinter den Erscheinungen ist geisterhaft: so
schimmert Alles in Alles, nichts ist fest und wie im Traum die Gestalten
schwellend quellen und gaukeln, verwandelt sich die Welt in ein wirres
Gaukelspiel. Der §. nennt daher, und weil schon in jenem Auftreiben
und prachtvollen Häufen das Maaßlose liegt, die Welt dieser Phantasie
ebenso ungemessen, als gemessen. Dieß will sagen, theils, daß Einiges
gemessen, Anderes ungemessen, theils aber auch, daß das Gemessene
selbst ungemessen sei. Drückt nämlich diese Phantasie ihre symbolischen
Ahnungen im eigentlichen Messen (in der Baukunst) aus, so muß sie
wohl auch das Ausgedehnteste noch messen, ein Abschluß muß also da
sein, aber häufig wird es an regelmäßiger Anlage, wie namentlich in
den indischen Höhlentempeln, an einem ästhetisch befriedigenden Abschluß
fehlen, was insbesondere der ägyptische Tempelbau zeigen wird, oder
wird zwar das Ganze wohl abgeschlossen, aber in sich zu wenig gegliedert
sein (wie die Pyramiden und And.). Ferner in organischen Bildungen
wird zwar auch das Maaßlose gemessen sein: so sind die Köpfe, Arme
der irdischen Götter freilich gezählt, werden Maaße des Welteis u. s. w.
anzugeben versucht; aber der gemessene Stoff ist doch so übertrieben, daß
die wahre Form des Gegenstands aufgehoben und das Maaß nur äußere
Grenze des in sich verworren Maaßlosen ist. So ist auch in einem
Menschenleib mit Thierkopf jedes wahre, von innen gegebene Maaß auf-
gehoben. Neben diesem äußern Messen des innerlich Maaßlosen gährt nun
aber eine unendliche Masse von Bildern auf, die gar kein Maaß mehr
haben und wild ineinander übergehen. In dieser Ueppigkeit glaubt man
dann die andere Seite der Pflanzenwelt heißer Zonen, die bunte, wuchernde
Pracht zu erkennen. Eine solche Phantasie aber muß nothwendig in das
Häßliche und Abgeschmackte haltlos übergehen. Dieß Häßliche ist dann
nicht etwa eine ästhetisch beabsichtigte und ebendaher sich in's Furchtbare
oder Komische rein auflösende Häßlichkeit. Nicht bloß die bösen Götter,
Siwa, Ariman, Typhon werden häßlich dargestellt, sondern häßlich werden
auch die Darstellungen des Guten und Heilsamen durch die Incongruenz
des Bildes. So ist der Phallus ein Bild der heilsamen Kraft, aber diese
Isolirung eines sinnlichen Organs empörend häßlich. Nun wurde wohl
in §. 108 Anm. 1 zugegeben, daß die wahre und ganze Häßlichkeit nur

perſönliche Götterwelt übervoll. Es iſt, wenn einmal die Natur vergöttert
wird, keine Grenze abzuſehen; zwar hält ſich (vergl. §. 425 Anm. 1)
der Polytheiſmus an die bedeutendſten Erſcheinungen als Grundlagen,
aber neben dieſen beſteht die ganze übrige Welt. Wie ſoll ſich die nicht
vergötterte Welt zu dem vergötterten Theile verhalten? Jede andere Er-
ſcheinung kann wieder als Symbol der vergötterten Haupterſcheinungen
gefaßt werden. Das Symbol wird nicht als bloßes Symbol gewußt,
das Lauern der Bedeutung hinter den Erſcheinungen iſt geiſterhaft: ſo
ſchimmert Alles in Alles, nichts iſt feſt und wie im Traum die Geſtalten
ſchwellend quellen und gaukeln, verwandelt ſich die Welt in ein wirres
Gaukelſpiel. Der §. nennt daher, und weil ſchon in jenem Auftreiben
und prachtvollen Häufen das Maaßloſe liegt, die Welt dieſer Phantaſie
ebenſo ungemeſſen, als gemeſſen. Dieß will ſagen, theils, daß Einiges
gemeſſen, Anderes ungemeſſen, theils aber auch, daß das Gemeſſene
ſelbſt ungemeſſen ſei. Drückt nämlich dieſe Phantaſie ihre ſymboliſchen
Ahnungen im eigentlichen Meſſen (in der Baukunſt) aus, ſo muß ſie
wohl auch das Ausgedehnteſte noch meſſen, ein Abſchluß muß alſo da
ſein, aber häufig wird es an regelmäßiger Anlage, wie namentlich in
den indiſchen Höhlentempeln, an einem äſthetiſch befriedigenden Abſchluß
fehlen, was insbeſondere der ägyptiſche Tempelbau zeigen wird, oder
wird zwar das Ganze wohl abgeſchloſſen, aber in ſich zu wenig gegliedert
ſein (wie die Pyramiden und And.). Ferner in organiſchen Bildungen
wird zwar auch das Maaßloſe gemeſſen ſein: ſo ſind die Köpfe, Arme
der irdiſchen Götter freilich gezählt, werden Maaße des Welteis u. ſ. w.
anzugeben verſucht; aber der gemeſſene Stoff iſt doch ſo übertrieben, daß
die wahre Form des Gegenſtands aufgehoben und das Maaß nur äußere
Grenze des in ſich verworren Maaßloſen iſt. So iſt auch in einem
Menſchenleib mit Thierkopf jedes wahre, von innen gegebene Maaß auf-
gehoben. Neben dieſem äußern Meſſen des innerlich Maaßloſen gährt nun
aber eine unendliche Maſſe von Bildern auf, die gar kein Maaß mehr
haben und wild ineinander übergehen. In dieſer Ueppigkeit glaubt man
dann die andere Seite der Pflanzenwelt heißer Zonen, die bunte, wuchernde
Pracht zu erkennen. Eine ſolche Phantaſie aber muß nothwendig in das
Häßliche und Abgeſchmackte haltlos übergehen. Dieß Häßliche iſt dann
nicht etwa eine äſthetiſch beabſichtigte und ebendaher ſich in’s Furchtbare
oder Komiſche rein auflöſende Häßlichkeit. Nicht bloß die böſen Götter,
Siwa, Ariman, Typhon werden häßlich dargeſtellt, ſondern häßlich werden
auch die Darſtellungen des Guten und Heilſamen durch die Incongruenz
des Bildes. So iſt der Phallus ein Bild der heilſamen Kraft, aber dieſe
Iſolirung eines ſinnlichen Organs empörend häßlich. Nun wurde wohl
in §. 108 Anm. 1 zugegeben, daß die wahre und ganze Häßlichkeit nur

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[431/0145] perſönliche Götterwelt übervoll. Es iſt, wenn einmal die Natur vergöttert wird, keine Grenze abzuſehen; zwar hält ſich (vergl. §. 425 Anm. 1) der Polytheiſmus an die bedeutendſten Erſcheinungen als Grundlagen, aber neben dieſen beſteht die ganze übrige Welt. Wie ſoll ſich die nicht vergötterte Welt zu dem vergötterten Theile verhalten? Jede andere Er- ſcheinung kann wieder als Symbol der vergötterten Haupterſcheinungen gefaßt werden. Das Symbol wird nicht als bloßes Symbol gewußt, das Lauern der Bedeutung hinter den Erſcheinungen iſt geiſterhaft: ſo ſchimmert Alles in Alles, nichts iſt feſt und wie im Traum die Geſtalten ſchwellend quellen und gaukeln, verwandelt ſich die Welt in ein wirres Gaukelſpiel. Der §. nennt daher, und weil ſchon in jenem Auftreiben und prachtvollen Häufen das Maaßloſe liegt, die Welt dieſer Phantaſie ebenſo ungemeſſen, als gemeſſen. Dieß will ſagen, theils, daß Einiges gemeſſen, Anderes ungemeſſen, theils aber auch, daß das Gemeſſene ſelbſt ungemeſſen ſei. Drückt nämlich dieſe Phantaſie ihre ſymboliſchen Ahnungen im eigentlichen Meſſen (in der Baukunſt) aus, ſo muß ſie wohl auch das Ausgedehnteſte noch meſſen, ein Abſchluß muß alſo da ſein, aber häufig wird es an regelmäßiger Anlage, wie namentlich in den indiſchen Höhlentempeln, an einem äſthetiſch befriedigenden Abſchluß fehlen, was insbeſondere der ägyptiſche Tempelbau zeigen wird, oder wird zwar das Ganze wohl abgeſchloſſen, aber in ſich zu wenig gegliedert ſein (wie die Pyramiden und And.). Ferner in organiſchen Bildungen wird zwar auch das Maaßloſe gemeſſen ſein: ſo ſind die Köpfe, Arme der irdiſchen Götter freilich gezählt, werden Maaße des Welteis u. ſ. w. anzugeben verſucht; aber der gemeſſene Stoff iſt doch ſo übertrieben, daß die wahre Form des Gegenſtands aufgehoben und das Maaß nur äußere Grenze des in ſich verworren Maaßloſen iſt. So iſt auch in einem Menſchenleib mit Thierkopf jedes wahre, von innen gegebene Maaß auf- gehoben. Neben dieſem äußern Meſſen des innerlich Maaßloſen gährt nun aber eine unendliche Maſſe von Bildern auf, die gar kein Maaß mehr haben und wild ineinander übergehen. In dieſer Ueppigkeit glaubt man dann die andere Seite der Pflanzenwelt heißer Zonen, die bunte, wuchernde Pracht zu erkennen. Eine ſolche Phantaſie aber muß nothwendig in das Häßliche und Abgeſchmackte haltlos übergehen. Dieß Häßliche iſt dann nicht etwa eine äſthetiſch beabſichtigte und ebendaher ſich in’s Furchtbare oder Komiſche rein auflöſende Häßlichkeit. Nicht bloß die böſen Götter, Siwa, Ariman, Typhon werden häßlich dargeſtellt, ſondern häßlich werden auch die Darſtellungen des Guten und Heilſamen durch die Incongruenz des Bildes. So iſt der Phallus ein Bild der heilſamen Kraft, aber dieſe Iſolirung eines ſinnlichen Organs empörend häßlich. Nun wurde wohl in §. 108 Anm. 1 zugegeben, daß die wahre und ganze Häßlichkeit nur

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 431. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/145>, abgerufen am 21.11.2024.