Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
eines Volks stoffreich ist, muß schon einen Abschluß gefunden haben, wenn Zur Naturgeschichte des Genies ist hier noch nachzuholen, daß die 27*
eines Volks ſtoffreich iſt, muß ſchon einen Abſchluß gefunden haben, wenn Zur Naturgeſchichte des Genies iſt hier noch nachzuholen, daß die 27*
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0127" n="413"/> eines Volks ſtoffreich iſt, muß ſchon einen Abſchluß gefunden haben, wenn<lb/> daſſelbe Volk ſubjective Productivität ſoll entwickeln können. Erſt wenn der<lb/> Kampf ſchweigt, ſtellt ſich die Muſe ein; nun erſt kann ſich das ſubjective<lb/> Leben zu der Erregbarkeit, Weichheit, Nervoſität, Reſonanz erweichen und<lb/> erweitern, welche der Phantaſie vorausgehen muß, und nun erſt hat man<lb/> Zeit, die Darſtellung dieſer feinern Zuſtände ſowohl mit der nöthigen äſtheti-<lb/> ſchen Freiheit von Seiten der Gebildeten, als auch in den Maſſen mit<lb/> vielſeitiger pathologiſcher Erregbarkeit zu betrachten. Man muß ſich hüten,<lb/> direct einen ſittlich muſterhaften Zuſtand der Nation als Bedingung äſt-<lb/> hetiſchen Berufs aufzuſtellen. Die ſittlichen Kräfte müſſen durch ihre<lb/> Strenge einen glücklichen Zuſtand herbeiführt haben, wie in Athen nach<lb/> den Perſerſiegen; dieß Glück iſt zugleich Aufgang der <hi rendition="#g">Bildung</hi>, in der<lb/> Bildung wirken freilich die ſittlichen Kräfte fort, aber ein unendlicher<lb/> Reichthum von Fähigkeiten überhaupt hat ſich entfaltet, und da nun Alles<lb/> heraus ſoll, was im Menſchen liegt, kommt auch das Willkührliche, das<lb/> Böſe, Verdorbene, die nationalen Laſter heraus, zuerſt freilich noch in<lb/> Banden gehalten vom guten Mittelpunkte, aber bereit, ihn zu überwu-<lb/> chern; der Keim des Verfalls iſt mit der höchſten Blüthe da, in der<lb/> Wirklichkeit wie in der Phantaſie. Freilich kann dieſer Verfall, wenn das<lb/> Volk dauerhaft iſt, Uebergang zu ſpäterer neuer Blüthe ſein. Dabei iſt<lb/> noch zu merken, daß ein Volk oft nur nach Einer Seite einen Höhe-<lb/> punkt erreicht hat und demgemäß eine Blüthe der Phantaſie treibt, aber<lb/> auch eine einſeitige. So war die deutſche Nation politiſch todt, als ſie<lb/> die klaſſiſche Zeit ihrer neueren Poeſie feierte, aber ihre innere Bildung<lb/> war an einem bedeutenden Abſchluß angekommen. Jetzt ringt ſie nach<lb/> politiſchem Leben; wird ſie dieß errungen haben, ſo wird eine Phantaſie<lb/> möglich ſein, welche ein volleres, objectiveres Leben zum Stoffe hat, als<lb/> die unſerer verſtorbenen großen Dichter.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Zur Naturgeſchichte des Genies iſt hier noch nachzuholen, daß die<lb/> Glanzperioden der Völker geheimnißvoll productiv ſind in Hervorbringung<lb/> phantaſievoller Menſchen; ein Blick auf die Griechen, auf Deutſchland<lb/> gegen den Schluß, auf Italien am Schluß des Mittelalters, auf Spanien<lb/> nach der Gründung ſeiner abſoluten Monarchie, auf England am Ende<lb/> des ſechszehnten, Belgien und Holland im ſiebenzehnten Jahrhundert,<lb/> auf die deutſche Dichterwelt am Ende des achtzehnten und Anfang des<lb/> neunzehnten Jahrhunderts bezeugt es. Die erhöhte Stimmung der Zeit<lb/> ſcheint in die geheime Stätte der Zeugung zu wirken. Dazu kommt aber,<lb/> daß das bloße Talent, das in anderen Zeiten von Wiſſenſchaft, von prak-<lb/> tiſchen Sphären abſorbirt wird, in dieſen Feſtzeiten der Völker, vom Ge-<lb/> nie angezogen, großentheils der Kunſt zufällt und den Wald großer<lb/> Namen vermehrt.</hi> </p><lb/> <fw place="bottom" type="sig">27*</fw><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [413/0127]
eines Volks ſtoffreich iſt, muß ſchon einen Abſchluß gefunden haben, wenn
daſſelbe Volk ſubjective Productivität ſoll entwickeln können. Erſt wenn der
Kampf ſchweigt, ſtellt ſich die Muſe ein; nun erſt kann ſich das ſubjective
Leben zu der Erregbarkeit, Weichheit, Nervoſität, Reſonanz erweichen und
erweitern, welche der Phantaſie vorausgehen muß, und nun erſt hat man
Zeit, die Darſtellung dieſer feinern Zuſtände ſowohl mit der nöthigen äſtheti-
ſchen Freiheit von Seiten der Gebildeten, als auch in den Maſſen mit
vielſeitiger pathologiſcher Erregbarkeit zu betrachten. Man muß ſich hüten,
direct einen ſittlich muſterhaften Zuſtand der Nation als Bedingung äſt-
hetiſchen Berufs aufzuſtellen. Die ſittlichen Kräfte müſſen durch ihre
Strenge einen glücklichen Zuſtand herbeiführt haben, wie in Athen nach
den Perſerſiegen; dieß Glück iſt zugleich Aufgang der Bildung, in der
Bildung wirken freilich die ſittlichen Kräfte fort, aber ein unendlicher
Reichthum von Fähigkeiten überhaupt hat ſich entfaltet, und da nun Alles
heraus ſoll, was im Menſchen liegt, kommt auch das Willkührliche, das
Böſe, Verdorbene, die nationalen Laſter heraus, zuerſt freilich noch in
Banden gehalten vom guten Mittelpunkte, aber bereit, ihn zu überwu-
chern; der Keim des Verfalls iſt mit der höchſten Blüthe da, in der
Wirklichkeit wie in der Phantaſie. Freilich kann dieſer Verfall, wenn das
Volk dauerhaft iſt, Uebergang zu ſpäterer neuer Blüthe ſein. Dabei iſt
noch zu merken, daß ein Volk oft nur nach Einer Seite einen Höhe-
punkt erreicht hat und demgemäß eine Blüthe der Phantaſie treibt, aber
auch eine einſeitige. So war die deutſche Nation politiſch todt, als ſie
die klaſſiſche Zeit ihrer neueren Poeſie feierte, aber ihre innere Bildung
war an einem bedeutenden Abſchluß angekommen. Jetzt ringt ſie nach
politiſchem Leben; wird ſie dieß errungen haben, ſo wird eine Phantaſie
möglich ſein, welche ein volleres, objectiveres Leben zum Stoffe hat, als
die unſerer verſtorbenen großen Dichter.
Zur Naturgeſchichte des Genies iſt hier noch nachzuholen, daß die
Glanzperioden der Völker geheimnißvoll productiv ſind in Hervorbringung
phantaſievoller Menſchen; ein Blick auf die Griechen, auf Deutſchland
gegen den Schluß, auf Italien am Schluß des Mittelalters, auf Spanien
nach der Gründung ſeiner abſoluten Monarchie, auf England am Ende
des ſechszehnten, Belgien und Holland im ſiebenzehnten Jahrhundert,
auf die deutſche Dichterwelt am Ende des achtzehnten und Anfang des
neunzehnten Jahrhunderts bezeugt es. Die erhöhte Stimmung der Zeit
ſcheint in die geheime Stätte der Zeugung zu wirken. Dazu kommt aber,
daß das bloße Talent, das in anderen Zeiten von Wiſſenſchaft, von prak-
tiſchen Sphären abſorbirt wird, in dieſen Feſtzeiten der Völker, vom Ge-
nie angezogen, großentheils der Kunſt zufällt und den Wald großer
Namen vermehrt.
27*
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |