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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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1. Die Originalität beruht allerdings darauf, daß das Genie eine
Verschlingung von Kräften, Arten der Phantasie ist, wie sie nur Einmal,
nur in diesem Individuum vorkommt. Damit scheint allerdings die behauptete
Objectivität seiner Schöpfung ein Widerspruch. Nun bietet aber der Stoff
ebenfalls eine Erscheinung dar, in welcher die Bestandtheile nur einmal
wie nie wieder verschlungen sind; dieses Ganze läßt die verschiedensten
Auffassungen zu, aber von jeder Seite kann man in sein Innerstes dringen
und die ächt originale Auffassung ergreift es von einer Seite, von der
es nie gefaßt worden, und bemächtigt sich von da aus des reinen Wesens,
der Sache selbst. Was also in der Individualität des Genies nur sich
selbst gleich ist, dem entspricht im Object eine der faßbaren Seiten, die
noch Niemand fand und Niemand außer ihm finden kann; was aber im
Subject reiner und allgemeiner Menschengeist ist, das dringt eben durch
diese Mitte zum reinen Wesen der Sache und gibt so in der bestimmten
Idee die schlechtweg allgemeine. Im Anblicke des objectiv ausgeführten
Phantasiebildes rufen wir aus: so ist es und nicht anders! Der Nagel
ist auf den Kopf getroffen! Die Gestalten, die einzelnen Ausdrücke gehen
typisch wie Sprichwörter durch den Mund des Volkes, weil schlagender,
packender, körniger eine Summe von Erscheinungen nicht zusammengefaßt
werden kann. Die Erscheinungen sind nicht nur an sich in solchem Werke
verewigt, sondern leben auch ewig im Herzen und auf den Lippen der
Menschen. Der Genius sieht der Welt in's Herz. "Wir erfahren bei
Shakespeare die Wahrheit des Lebens und wissen nicht wie. Er gesellt
sich zum Weltgeist; er durchdringt die Welt, wie jener, beiden ist nichts
verborgen; aber wenn des Weltgeists Geschäft ist, Geheimnisse vor, ja
oft nach der That zu bewahren, so ist es der Sinn des Dichters,
das Geheimniß zu verschwätzen und uns vor oder doch gewiß in der That
zu Vertrauten zu machen. Der lasterhafte Mächtige, der wohldenkende
Beschränkte, der leidenschaftlich Hingerissene, der ruhig Betrachtende, Alle
tragen ihr Herz in der Hand, -- das Geheimniß muß heraus und sollten
es die Steine verkündigen" (Göthe, Shakespeare und kein Ende).

2. Kants berühmte Definition (a. a. O. §. 46) durfte und mußte
trotz der Vorausnahme der Kunst hier eintreten; die hinreißende, Kunst-
styl schaffende, Schulbildende Wirkung des Genies in der Ausübung
der Kunst beruht ja darauf, daß sie zuerst die Phantasie der Andern zwingt,
ebenso zu schauen, wie das Genie. Das Wesentliche in dieser Definition,
wodurch Kant so hoch über die Enge seines Dualismus hinausgeht, die
Anerkennung der Einheit von Natur und Geist, brauchen wir nach allem
Bisherigen nicht weiter auseinanderzulegen, sondern nur die Wirkung, die von
dieser Einheit ausgesagt ist. Das Genie fordert zur Nachahmung auf, ohne
als Ganzes nachgeahmt werden zu können, denn das Objectivste bleibt das

Vischer's Aesthetik. 2. Band. 26

1. Die Originalität beruht allerdings darauf, daß das Genie eine
Verſchlingung von Kräften, Arten der Phantaſie iſt, wie ſie nur Einmal,
nur in dieſem Individuum vorkommt. Damit ſcheint allerdings die behauptete
Objectivität ſeiner Schöpfung ein Widerſpruch. Nun bietet aber der Stoff
ebenfalls eine Erſcheinung dar, in welcher die Beſtandtheile nur einmal
wie nie wieder verſchlungen ſind; dieſes Ganze läßt die verſchiedenſten
Auffaſſungen zu, aber von jeder Seite kann man in ſein Innerſtes dringen
und die ächt originale Auffaſſung ergreift es von einer Seite, von der
es nie gefaßt worden, und bemächtigt ſich von da aus des reinen Weſens,
der Sache ſelbſt. Was alſo in der Individualität des Genies nur ſich
ſelbſt gleich iſt, dem entſpricht im Object eine der faßbaren Seiten, die
noch Niemand fand und Niemand außer ihm finden kann; was aber im
Subject reiner und allgemeiner Menſchengeiſt iſt, das dringt eben durch
dieſe Mitte zum reinen Weſen der Sache und gibt ſo in der beſtimmten
Idee die ſchlechtweg allgemeine. Im Anblicke des objectiv ausgeführten
Phantaſiebildes rufen wir aus: ſo iſt es und nicht anders! Der Nagel
iſt auf den Kopf getroffen! Die Geſtalten, die einzelnen Ausdrücke gehen
typiſch wie Sprichwörter durch den Mund des Volkes, weil ſchlagender,
packender, körniger eine Summe von Erſcheinungen nicht zuſammengefaßt
werden kann. Die Erſcheinungen ſind nicht nur an ſich in ſolchem Werke
verewigt, ſondern leben auch ewig im Herzen und auf den Lippen der
Menſchen. Der Genius ſieht der Welt in’s Herz. „Wir erfahren bei
Shakespeare die Wahrheit des Lebens und wiſſen nicht wie. Er geſellt
ſich zum Weltgeiſt; er durchdringt die Welt, wie jener, beiden iſt nichts
verborgen; aber wenn des Weltgeiſts Geſchäft iſt, Geheimniſſe vor, ja
oft nach der That zu bewahren, ſo iſt es der Sinn des Dichters,
das Geheimniß zu verſchwätzen und uns vor oder doch gewiß in der That
zu Vertrauten zu machen. Der laſterhafte Mächtige, der wohldenkende
Beſchränkte, der leidenſchaftlich Hingeriſſene, der ruhig Betrachtende, Alle
tragen ihr Herz in der Hand, — das Geheimniß muß heraus und ſollten
es die Steine verkündigen“ (Göthe, Shakespeare und kein Ende).

2. Kants berühmte Definition (a. a. O. §. 46) durfte und mußte
trotz der Vorausnahme der Kunſt hier eintreten; die hinreißende, Kunſt-
ſtyl ſchaffende, Schulbildende Wirkung des Genies in der Ausübung
der Kunſt beruht ja darauf, daß ſie zuerſt die Phantaſie der Andern zwingt,
ebenſo zu ſchauen, wie das Genie. Das Weſentliche in dieſer Definition,
wodurch Kant ſo hoch über die Enge ſeines Dualiſmus hinausgeht, die
Anerkennung der Einheit von Natur und Geiſt, brauchen wir nach allem
Bisherigen nicht weiter auseinanderzulegen, ſondern nur die Wirkung, die von
dieſer Einheit ausgeſagt iſt. Das Genie fordert zur Nachahmung auf, ohne
als Ganzes nachgeahmt werden zu können, denn das Objectivſte bleibt das

Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 26
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[395/0109] 1. Die Originalität beruht allerdings darauf, daß das Genie eine Verſchlingung von Kräften, Arten der Phantaſie iſt, wie ſie nur Einmal, nur in dieſem Individuum vorkommt. Damit ſcheint allerdings die behauptete Objectivität ſeiner Schöpfung ein Widerſpruch. Nun bietet aber der Stoff ebenfalls eine Erſcheinung dar, in welcher die Beſtandtheile nur einmal wie nie wieder verſchlungen ſind; dieſes Ganze läßt die verſchiedenſten Auffaſſungen zu, aber von jeder Seite kann man in ſein Innerſtes dringen und die ächt originale Auffaſſung ergreift es von einer Seite, von der es nie gefaßt worden, und bemächtigt ſich von da aus des reinen Weſens, der Sache ſelbſt. Was alſo in der Individualität des Genies nur ſich ſelbſt gleich iſt, dem entſpricht im Object eine der faßbaren Seiten, die noch Niemand fand und Niemand außer ihm finden kann; was aber im Subject reiner und allgemeiner Menſchengeiſt iſt, das dringt eben durch dieſe Mitte zum reinen Weſen der Sache und gibt ſo in der beſtimmten Idee die ſchlechtweg allgemeine. Im Anblicke des objectiv ausgeführten Phantaſiebildes rufen wir aus: ſo iſt es und nicht anders! Der Nagel iſt auf den Kopf getroffen! Die Geſtalten, die einzelnen Ausdrücke gehen typiſch wie Sprichwörter durch den Mund des Volkes, weil ſchlagender, packender, körniger eine Summe von Erſcheinungen nicht zuſammengefaßt werden kann. Die Erſcheinungen ſind nicht nur an ſich in ſolchem Werke verewigt, ſondern leben auch ewig im Herzen und auf den Lippen der Menſchen. Der Genius ſieht der Welt in’s Herz. „Wir erfahren bei Shakespeare die Wahrheit des Lebens und wiſſen nicht wie. Er geſellt ſich zum Weltgeiſt; er durchdringt die Welt, wie jener, beiden iſt nichts verborgen; aber wenn des Weltgeiſts Geſchäft iſt, Geheimniſſe vor, ja oft nach der That zu bewahren, ſo iſt es der Sinn des Dichters, das Geheimniß zu verſchwätzen und uns vor oder doch gewiß in der That zu Vertrauten zu machen. Der laſterhafte Mächtige, der wohldenkende Beſchränkte, der leidenſchaftlich Hingeriſſene, der ruhig Betrachtende, Alle tragen ihr Herz in der Hand, — das Geheimniß muß heraus und ſollten es die Steine verkündigen“ (Göthe, Shakespeare und kein Ende). 2. Kants berühmte Definition (a. a. O. §. 46) durfte und mußte trotz der Vorausnahme der Kunſt hier eintreten; die hinreißende, Kunſt- ſtyl ſchaffende, Schulbildende Wirkung des Genies in der Ausübung der Kunſt beruht ja darauf, daß ſie zuerſt die Phantaſie der Andern zwingt, ebenſo zu ſchauen, wie das Genie. Das Weſentliche in dieſer Definition, wodurch Kant ſo hoch über die Enge ſeines Dualiſmus hinausgeht, die Anerkennung der Einheit von Natur und Geiſt, brauchen wir nach allem Bisherigen nicht weiter auseinanderzulegen, ſondern nur die Wirkung, die von dieſer Einheit ausgeſagt iſt. Das Genie fordert zur Nachahmung auf, ohne als Ganzes nachgeahmt werden zu können, denn das Objectivſte bleibt das Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 26

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/109>, abgerufen am 21.11.2024.