Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.1. Die Originalität beruht allerdings darauf, daß das Genie eine 2. Kants berühmte Definition (a. a. O. §. 46) durfte und mußte Vischer's Aesthetik. 2. Band. 26
1. Die Originalität beruht allerdings darauf, daß das Genie eine 2. Kants berühmte Definition (a. a. O. §. 46) durfte und mußte Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 26
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1. Die Originalität beruht allerdings darauf, daß das Genie eine
Verſchlingung von Kräften, Arten der Phantaſie iſt, wie ſie nur Einmal,
nur in dieſem Individuum vorkommt. Damit ſcheint allerdings die behauptete
Objectivität ſeiner Schöpfung ein Widerſpruch. Nun bietet aber der Stoff
ebenfalls eine Erſcheinung dar, in welcher die Beſtandtheile nur einmal
wie nie wieder verſchlungen ſind; dieſes Ganze läßt die verſchiedenſten
Auffaſſungen zu, aber von jeder Seite kann man in ſein Innerſtes dringen
und die ächt originale Auffaſſung ergreift es von einer Seite, von der
es nie gefaßt worden, und bemächtigt ſich von da aus des reinen Weſens,
der Sache ſelbſt. Was alſo in der Individualität des Genies nur ſich
ſelbſt gleich iſt, dem entſpricht im Object eine der faßbaren Seiten, die
noch Niemand fand und Niemand außer ihm finden kann; was aber im
Subject reiner und allgemeiner Menſchengeiſt iſt, das dringt eben durch
dieſe Mitte zum reinen Weſen der Sache und gibt ſo in der beſtimmten
Idee die ſchlechtweg allgemeine. Im Anblicke des objectiv ausgeführten
Phantaſiebildes rufen wir aus: ſo iſt es und nicht anders! Der Nagel
iſt auf den Kopf getroffen! Die Geſtalten, die einzelnen Ausdrücke gehen
typiſch wie Sprichwörter durch den Mund des Volkes, weil ſchlagender,
packender, körniger eine Summe von Erſcheinungen nicht zuſammengefaßt
werden kann. Die Erſcheinungen ſind nicht nur an ſich in ſolchem Werke
verewigt, ſondern leben auch ewig im Herzen und auf den Lippen der
Menſchen. Der Genius ſieht der Welt in’s Herz. „Wir erfahren bei
Shakespeare die Wahrheit des Lebens und wiſſen nicht wie. Er geſellt
ſich zum Weltgeiſt; er durchdringt die Welt, wie jener, beiden iſt nichts
verborgen; aber wenn des Weltgeiſts Geſchäft iſt, Geheimniſſe vor, ja
oft nach der That zu bewahren, ſo iſt es der Sinn des Dichters,
das Geheimniß zu verſchwätzen und uns vor oder doch gewiß in der That
zu Vertrauten zu machen. Der laſterhafte Mächtige, der wohldenkende
Beſchränkte, der leidenſchaftlich Hingeriſſene, der ruhig Betrachtende, Alle
tragen ihr Herz in der Hand, — das Geheimniß muß heraus und ſollten
es die Steine verkündigen“ (Göthe, Shakespeare und kein Ende).
2. Kants berühmte Definition (a. a. O. §. 46) durfte und mußte
trotz der Vorausnahme der Kunſt hier eintreten; die hinreißende, Kunſt-
ſtyl ſchaffende, Schulbildende Wirkung des Genies in der Ausübung
der Kunſt beruht ja darauf, daß ſie zuerſt die Phantaſie der Andern zwingt,
ebenſo zu ſchauen, wie das Genie. Das Weſentliche in dieſer Definition,
wodurch Kant ſo hoch über die Enge ſeines Dualiſmus hinausgeht, die
Anerkennung der Einheit von Natur und Geiſt, brauchen wir nach allem
Bisherigen nicht weiter auseinanderzulegen, ſondern nur die Wirkung, die von
dieſer Einheit ausgeſagt iſt. Das Genie fordert zur Nachahmung auf, ohne
als Ganzes nachgeahmt werden zu können, denn das Objectivſte bleibt das
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