Das erste lebendige Individuum und ebenhiemit der erste wahrhaft ver- einigende Mittelpunkt aller bisher dargestellten Schönheit ist die Pflanze. Licht, Luft, Wasser, Erde verwandelt sie in einem stetigen Kreislaufe in ihre eigenen Säfte, aus denen sie ihre Gestalt als ein Ganzes von Organen, worin Alles zugleich Mittel und Zweck ist, baut, beständig erneuert, bis zu dem ihr gesetzten Maaße erweitert und neue Individuen zeugt. Ihr gesammter Ausdruck zeigt das saugende, athmende, Säfte führende Wesen, welches an der unorganischen Natur vollzieht, was ihre Bestimmung ist, nämlich Object und Stoff für solche Wesen zu sein, in welchen die zerstreute Vielheit der Natur in selbstthätige Einheit zusammengefaßt ist. Ein solches Leihen wie bei den früheren Erschei- nungen ist daher bei diesem Gebilde nicht mehr nothwendig.
Es ist noch ein Leihen nothwendig, aber die eine Hälfte dieses Acts ist dem Zuschauer jetzt durch das Object selbst erspart; worin die andere bestehe, wird sich zeigen. Die unorganische Natur ist jetzt für ein Leben- diges da, das zu dem ästhetischen Gegenstande gehört; vorher war sie nur für den Zuschauer da, sollte sie daher ein Ich, ein belebtes, beseeltes Centrum haben, so mußte dieser sich selbst theilen, das eine der zwei Ich, in die er sich theilte, der Natur unterlegen, als wolle, bewege, genieße sie sich vermittelst desselben, das andere aber zurückbehalten, um zuzu- schauen. Ein Centrum ist nun im Objecte selbst, das nicht nur wie im
B. Die Schönheit der organiſchen Natur.
a. Die Schönheit des Pflanzenreichs.
§. 270.
Das erſte lebendige Individuum und ebenhiemit der erſte wahrhaft ver- einigende Mittelpunkt aller bisher dargeſtellten Schönheit iſt die Pflanze. Licht, Luft, Waſſer, Erde verwandelt ſie in einem ſtetigen Kreislaufe in ihre eigenen Säfte, aus denen ſie ihre Geſtalt als ein Ganzes von Organen, worin Alles zugleich Mittel und Zweck iſt, baut, beſtändig erneuert, bis zu dem ihr geſetzten Maaße erweitert und neue Individuen zeugt. Ihr geſammter Ausdruck zeigt das ſaugende, athmende, Säfte führende Weſen, welches an der unorganiſchen Natur vollzieht, was ihre Beſtimmung iſt, nämlich Object und Stoff für ſolche Weſen zu ſein, in welchen die zerſtreute Vielheit der Natur in ſelbſtthätige Einheit zuſammengefaßt iſt. Ein ſolches Leihen wie bei den früheren Erſchei- nungen iſt daher bei dieſem Gebilde nicht mehr nothwendig.
Es iſt noch ein Leihen nothwendig, aber die eine Hälfte dieſes Acts iſt dem Zuſchauer jetzt durch das Object ſelbſt erſpart; worin die andere beſtehe, wird ſich zeigen. Die unorganiſche Natur iſt jetzt für ein Leben- diges da, das zu dem äſthetiſchen Gegenſtande gehört; vorher war ſie nur für den Zuſchauer da, ſollte ſie daher ein Ich, ein belebtes, beſeeltes Centrum haben, ſo mußte dieſer ſich ſelbſt theilen, das eine der zwei Ich, in die er ſich theilte, der Natur unterlegen, als wolle, bewege, genieße ſie ſich vermittelſt desſelben, das andere aber zurückbehalten, um zuzu- ſchauen. Ein Centrum iſt nun im Objecte ſelbſt, das nicht nur wie im
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0091"n="[79]"/><divn="3"><head><hirendition="#b"><hirendition="#aq">B.</hi><lb/>
Die Schönheit der organiſchen Natur.</hi></head><lb/><divn="4"><head><hirendition="#b"><hirendition="#aq">a.</hi><lb/><hirendition="#g">Die Schönheit des Pflanzenreichs</hi>.</hi></head><lb/><divn="5"><head>§. 270.</head><lb/><p><hirendition="#fr">Das erſte lebendige Individuum und ebenhiemit der erſte wahrhaft ver-<lb/>
einigende Mittelpunkt aller bisher dargeſtellten Schönheit iſt die <hirendition="#g">Pflanze</hi>.<lb/>
Licht, Luft, Waſſer, Erde verwandelt ſie in einem ſtetigen Kreislaufe in ihre<lb/>
eigenen Säfte, aus denen ſie ihre Geſtalt als ein Ganzes von Organen, worin<lb/>
Alles zugleich Mittel und Zweck iſt, baut, beſtändig erneuert, bis zu dem ihr<lb/>
geſetzten Maaße erweitert und neue Individuen zeugt. Ihr geſammter Ausdruck<lb/>
zeigt das ſaugende, athmende, Säfte führende Weſen, welches an der unorganiſchen<lb/>
Natur vollzieht, was ihre Beſtimmung iſt, nämlich Object und Stoff für ſolche<lb/>
Weſen zu ſein, in welchen die zerſtreute Vielheit der Natur in ſelbſtthätige<lb/>
Einheit zuſammengefaßt iſt. Ein ſolches Leihen wie bei den früheren Erſchei-<lb/>
nungen iſt daher bei dieſem Gebilde nicht mehr nothwendig.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">Es iſt noch ein Leihen nothwendig, aber die eine Hälfte dieſes Acts<lb/>
iſt dem Zuſchauer jetzt durch das Object ſelbſt erſpart; worin die andere<lb/>
beſtehe, wird ſich zeigen. Die unorganiſche Natur iſt jetzt für ein Leben-<lb/>
diges da, das zu dem äſthetiſchen Gegenſtande gehört; vorher war ſie nur<lb/>
für den Zuſchauer da, ſollte ſie daher ein Ich, ein belebtes, beſeeltes<lb/>
Centrum haben, ſo mußte dieſer ſich ſelbſt theilen, das eine der zwei Ich,<lb/>
in die er ſich theilte, der Natur unterlegen, als wolle, bewege, genieße<lb/>ſie ſich vermittelſt desſelben, das andere aber zurückbehalten, um zuzu-<lb/>ſchauen. Ein Centrum iſt nun im Objecte ſelbſt, das nicht nur wie im<lb/></hi></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[[79]/0091]
B.
Die Schönheit der organiſchen Natur.
a.
Die Schönheit des Pflanzenreichs.
§. 270.
Das erſte lebendige Individuum und ebenhiemit der erſte wahrhaft ver-
einigende Mittelpunkt aller bisher dargeſtellten Schönheit iſt die Pflanze.
Licht, Luft, Waſſer, Erde verwandelt ſie in einem ſtetigen Kreislaufe in ihre
eigenen Säfte, aus denen ſie ihre Geſtalt als ein Ganzes von Organen, worin
Alles zugleich Mittel und Zweck iſt, baut, beſtändig erneuert, bis zu dem ihr
geſetzten Maaße erweitert und neue Individuen zeugt. Ihr geſammter Ausdruck
zeigt das ſaugende, athmende, Säfte führende Weſen, welches an der unorganiſchen
Natur vollzieht, was ihre Beſtimmung iſt, nämlich Object und Stoff für ſolche
Weſen zu ſein, in welchen die zerſtreute Vielheit der Natur in ſelbſtthätige
Einheit zuſammengefaßt iſt. Ein ſolches Leihen wie bei den früheren Erſchei-
nungen iſt daher bei dieſem Gebilde nicht mehr nothwendig.
Es iſt noch ein Leihen nothwendig, aber die eine Hälfte dieſes Acts
iſt dem Zuſchauer jetzt durch das Object ſelbſt erſpart; worin die andere
beſtehe, wird ſich zeigen. Die unorganiſche Natur iſt jetzt für ein Leben-
diges da, das zu dem äſthetiſchen Gegenſtande gehört; vorher war ſie nur
für den Zuſchauer da, ſollte ſie daher ein Ich, ein belebtes, beſeeltes
Centrum haben, ſo mußte dieſer ſich ſelbſt theilen, das eine der zwei Ich,
in die er ſich theilte, der Natur unterlegen, als wolle, bewege, genieße
ſie ſich vermittelſt desſelben, das andere aber zurückbehalten, um zuzu-
ſchauen. Ein Centrum iſt nun im Objecte ſelbſt, das nicht nur wie im
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. [79]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/91>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.