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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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Grün enthält Blau und Gelb, es fordert also noch Roth und umgekehrt.
Gelb entbehrt Blau und Roth, es fordert also Violett und umgekehrt.
Orange enthält Roth und Gelb, es fordert also noch Blau und umgekehrt.

Das Auge selbst macht diese Forderung: neben Roth sieht es die
Umgebung in grünlicher Farbe, neben Grün in röthlicher, Orange wirft
blaue Strahlen, Blau orangegelbe, Gelb violette, Violett gelbe. Da
uns die Farben durchaus einen geistigen Stimmungston darstellen, so
ist damit zugleich ausgesprochen, daß die gesteigerte und leidenschaftlich
gehobene Stimmung des Rothen die Beruhigung des Grünen fordert und
umgekehrt, das schattenlos warme Gelb die unruhige und in's Düstere
führende Bewegung des Violetten und umgekehrt, das reizende und doch
leere Blau die feurige Wärme des Orangegelben und umgekehrt. Göthe
setzt die Genugthuung in dem Zusammentritt der Ergänzungsfarben wohl
zu allgemein blos in die Befreiung aus der gezwungenen Lage, worin
sich das Auge genöthigt sieht, sich auf Eine Farbe zu beschränken (a. a.
O. §. 803 ff.). Muß nun Auge und Sinn die Ergänzungsfarbe nicht erst
suchen, sondern ist sie da, so erhöhen beide Farben einander. Da Grün
rothe Strahlen wirft u. s. f., so erscheint Roth neben Grün röther, Grün
neben Roth grüner u. s. w.

2. Um die mangelhaften Farbenzusammenstellungen und zugleich die
zwei Arten des Mangels, welche unterschieden werden, zu verstehen, ver-
folge man im obigen Kreise, statt Diameter zu ziehen, die Kreislinie,
zuerst so, daß je die Mittelfarbe übersprungen wird, hierauf so, daß je
die zwei benachbarten Farben zusammengefaßt werden.

Bei dem ersten Verfahren erhält man folgende Farbenpaare, zuerst
vom Gelben angefangen:

Gelb und Blau.
Blau und Roth.
Roth und Gelb.

Hierauf vom Grünen angefangen:

Grün und Violett.
Violett und Orange.
Orange und Grün.

Von den sechs Farbenpaaren, welche so entstehen, ist im §. gesagt,
es fehle ihnen bei übrigens wirksamem Unterschied die ungetheilte Kraft
der die Totalität bedingenden Farbe. Ausführlicher muß dieß so lauten:
die Ergänzungsfarbe fehlt zum Theil ganz, zum Theil in ihrer unge-
brochenen Reinheit. Ganz fehlt sie den drei ersten Farbenpaaren: zu
Gelb und Blau fehlt Roth, zu Blau und Roth fehlt Gelb, zu Roth und
Gelb fehlt Blau. Diesen Mangel muß das Auge zu ersetzen suchen:
bei Gelb und Blau sieht es daher im Gelben Orange, im Blauen Violett;

Grün enthält Blau und Gelb, es fordert alſo noch Roth und umgekehrt.
Gelb entbehrt Blau und Roth, es fordert alſo Violett und umgekehrt.
Orange enthält Roth und Gelb, es fordert alſo noch Blau und umgekehrt.

Das Auge ſelbſt macht dieſe Forderung: neben Roth ſieht es die
Umgebung in grünlicher Farbe, neben Grün in röthlicher, Orange wirft
blaue Strahlen, Blau orangegelbe, Gelb violette, Violett gelbe. Da
uns die Farben durchaus einen geiſtigen Stimmungston darſtellen, ſo
iſt damit zugleich ausgeſprochen, daß die geſteigerte und leidenſchaftlich
gehobene Stimmung des Rothen die Beruhigung des Grünen fordert und
umgekehrt, das ſchattenlos warme Gelb die unruhige und in’s Düſtere
führende Bewegung des Violetten und umgekehrt, das reizende und doch
leere Blau die feurige Wärme des Orangegelben und umgekehrt. Göthe
ſetzt die Genugthuung in dem Zuſammentritt der Ergänzungsfarben wohl
zu allgemein blos in die Befreiung aus der gezwungenen Lage, worin
ſich das Auge genöthigt ſieht, ſich auf Eine Farbe zu beſchränken (a. a.
O. §. 803 ff.). Muß nun Auge und Sinn die Ergänzungsfarbe nicht erſt
ſuchen, ſondern iſt ſie da, ſo erhöhen beide Farben einander. Da Grün
rothe Strahlen wirft u. ſ. f., ſo erſcheint Roth neben Grün röther, Grün
neben Roth grüner u. ſ. w.

2. Um die mangelhaften Farbenzuſammenſtellungen und zugleich die
zwei Arten des Mangels, welche unterſchieden werden, zu verſtehen, ver-
folge man im obigen Kreiſe, ſtatt Diameter zu ziehen, die Kreislinie,
zuerſt ſo, daß je die Mittelfarbe überſprungen wird, hierauf ſo, daß je
die zwei benachbarten Farben zuſammengefaßt werden.

Bei dem erſten Verfahren erhält man folgende Farbenpaare, zuerſt
vom Gelben angefangen:

Gelb und Blau.
Blau und Roth.
Roth und Gelb.

Hierauf vom Grünen angefangen:

Grün und Violett.
Violett und Orange.
Orange und Grün.

Von den ſechs Farbenpaaren, welche ſo entſtehen, iſt im §. geſagt,
es fehle ihnen bei übrigens wirkſamem Unterſchied die ungetheilte Kraft
der die Totalität bedingenden Farbe. Ausführlicher muß dieß ſo lauten:
die Ergänzungsfarbe fehlt zum Theil ganz, zum Theil in ihrer unge-
brochenen Reinheit. Ganz fehlt ſie den drei erſten Farbenpaaren: zu
Gelb und Blau fehlt Roth, zu Blau und Roth fehlt Gelb, zu Roth und
Gelb fehlt Blau. Dieſen Mangel muß das Auge zu erſetzen ſuchen:
bei Gelb und Blau ſieht es daher im Gelben Orange, im Blauen Violett;

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[48/0060] Grün enthält Blau und Gelb, es fordert alſo noch Roth und umgekehrt. Gelb entbehrt Blau und Roth, es fordert alſo Violett und umgekehrt. Orange enthält Roth und Gelb, es fordert alſo noch Blau und umgekehrt. Das Auge ſelbſt macht dieſe Forderung: neben Roth ſieht es die Umgebung in grünlicher Farbe, neben Grün in röthlicher, Orange wirft blaue Strahlen, Blau orangegelbe, Gelb violette, Violett gelbe. Da uns die Farben durchaus einen geiſtigen Stimmungston darſtellen, ſo iſt damit zugleich ausgeſprochen, daß die geſteigerte und leidenſchaftlich gehobene Stimmung des Rothen die Beruhigung des Grünen fordert und umgekehrt, das ſchattenlos warme Gelb die unruhige und in’s Düſtere führende Bewegung des Violetten und umgekehrt, das reizende und doch leere Blau die feurige Wärme des Orangegelben und umgekehrt. Göthe ſetzt die Genugthuung in dem Zuſammentritt der Ergänzungsfarben wohl zu allgemein blos in die Befreiung aus der gezwungenen Lage, worin ſich das Auge genöthigt ſieht, ſich auf Eine Farbe zu beſchränken (a. a. O. §. 803 ff.). Muß nun Auge und Sinn die Ergänzungsfarbe nicht erſt ſuchen, ſondern iſt ſie da, ſo erhöhen beide Farben einander. Da Grün rothe Strahlen wirft u. ſ. f., ſo erſcheint Roth neben Grün röther, Grün neben Roth grüner u. ſ. w. 2. Um die mangelhaften Farbenzuſammenſtellungen und zugleich die zwei Arten des Mangels, welche unterſchieden werden, zu verſtehen, ver- folge man im obigen Kreiſe, ſtatt Diameter zu ziehen, die Kreislinie, zuerſt ſo, daß je die Mittelfarbe überſprungen wird, hierauf ſo, daß je die zwei benachbarten Farben zuſammengefaßt werden. Bei dem erſten Verfahren erhält man folgende Farbenpaare, zuerſt vom Gelben angefangen: Gelb und Blau. Blau und Roth. Roth und Gelb. Hierauf vom Grünen angefangen: Grün und Violett. Violett und Orange. Orange und Grün. Von den ſechs Farbenpaaren, welche ſo entſtehen, iſt im §. geſagt, es fehle ihnen bei übrigens wirkſamem Unterſchied die ungetheilte Kraft der die Totalität bedingenden Farbe. Ausführlicher muß dieß ſo lauten: die Ergänzungsfarbe fehlt zum Theil ganz, zum Theil in ihrer unge- brochenen Reinheit. Ganz fehlt ſie den drei erſten Farbenpaaren: zu Gelb und Blau fehlt Roth, zu Blau und Roth fehlt Gelb, zu Roth und Gelb fehlt Blau. Dieſen Mangel muß das Auge zu erſetzen ſuchen: bei Gelb und Blau ſieht es daher im Gelben Orange, im Blauen Violett;

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/60>, abgerufen am 04.05.2024.