Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
diese furchtbaren Gährungen uns vor Augen. Nun erinnert sich das an- Hinzuzusetzen ist nur noch, daß man uns nicht einwenden darf, wir
dieſe furchtbaren Gährungen uns vor Augen. Nun erinnert ſich das an- Hinzuzuſetzen iſt nur noch, daß man uns nicht einwenden darf, wir <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0039" n="27"/> dieſe furchtbaren Gährungen uns vor Augen. Nun erinnert ſich das an-<lb/> ſchauende perſönliche Weſen, daß das, was wir jetzt unorganiſche Natur<lb/> nennen, einſt mehr war, es ſchaut ſie als den Schooß, die Wiege alles<lb/> Lebens an, verlegt ſich ſelbſt in dieſe Wiege zurück, wirft das Explicirte<lb/> hinter ſich ſelbſt, die Zwiſchenglieder überſpringend, in das Implicirte<lb/> zurück, ſieht in den Bewegungen der Natur Stimmungen, Leidenſchaften<lb/> des menſchlichen Gemüths, läßt den künftigen Menſchen aus dem Urgrunde,<lb/> worin er mit allen Lebendigen ſchlummerte, hervor und ſich entgegenblicken.<lb/> Die Empfindung kann allerdings auch eine andere Wendung nehmen; die<lb/> Elemente werden vorgeſtellt als wüßten ſie um das außer ihnen bereits<lb/> vorhandene organiſche und menſchliche Leben und erfreuten ſich daran, es<lb/> zu nähren, ſich ihm zum Genuſſe zu geben oder es neidiſch zu zerſtören.<lb/> Allein die Zurückverlegung des empfindenden und ſelbſtbewußten Lebens<lb/> hinter ſich in die blinde Natur iſt hier dieſelbe, nur daß der Act unver-<lb/> merkt den beſtimmten Widerſpruch in ſich aufnimmt, das höhere Leben da<lb/> zu ſuchen, wo es noch nicht iſt, und doch zugleich es da zu wiſſen, wo es<lb/> iſt. — Die vorchriſtlichen Religionen vollzogen dieſe ganze Unterſchiebung<lb/> förmlich und machten die Erſcheinungen der unorganiſchen Natur zu Göttern,<lb/> die neuere Bildung vollzieht dieſelbe unbeſtimmt in ahnender, blos äſthetiſcher<lb/> Weiſe; denn wo ſie beſtimmt denkt, hat natürlich für ſie die Unterſchiebung<lb/> ein Ende. Dieß leihende Anſchauen kann nun gerade bei dem höchſten<lb/> Producte der unorganiſchen Natur, dem Minerale, am wenigſten eintreten;<lb/> denn für die Täuſchung iſt dieſes zu beſtimmt, um aber ohne Täuſchung<lb/> ihm ein Bild der Perſönlichkeit unterzulegen, zu arm und todt.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Hinzuzuſetzen iſt nur noch, daß man uns nicht einwenden darf, wir<lb/> ſetzen hier unberufener Weiſe die ſchöpferiſche Phantaſie ſchon voraus, die<lb/> ſich uns doch erſt erzeugen ſoll. Das empfindungsvolle, ahnende Schauen<lb/> iſt, wie ſchon zu §. 236 Anm. <hi rendition="#sub">3.</hi> berührt wurde, noch lange nicht das der<lb/> Phantaſie im engeren Sinne. Einen Zuſchauer haben wir in den Begriff<lb/> des Schönen ſelbſt mit eingeſchloſſen (§. 70 ff.); Auge und empfindenden<lb/> Sinn braucht es auch zum äſthetiſchen Anſchauen der organiſchen Schönheit.<lb/> Es wird ſich ſeines Orts allerdings zeigen, daß wir überall in das Natur-<lb/> ſchöne die reine Schönheit erſt hineinſchauen; ein ausdrücklicher und ſelb-<lb/> ſtändiger Gegenſtand der Unterſuchung wird dieß aber erſt da, wo die<lb/> Mängel aller Naturſchönheit zur Sprache kommen. Hier handelt es ſich<lb/> noch vom Unterſchied ihrer Stufen, wie derſelbe freilich bei der einen ein<lb/> beſtimmteres Leihen nöthig macht, bei der andern es erſpart. <hi rendition="#g">Jetzt</hi> zeigt<lb/> ſich, daß der Zuſchauer der unorganiſchen Natur etwas leihen muß, was<lb/> ſie nicht hat; <hi rendition="#g">dann</hi> wird ſich zeigen, daß <hi rendition="#g">außer</hi> dieſem Leihen noch<lb/> etwas ganz Anderes geſchehen muß, um ihre Mängel ſo wie die Mängel<lb/> aller Naturſchönheit zu tilgen und ſie wahrhaft in das Schöne zu erheben.</hi> </p> </div><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [27/0039]
dieſe furchtbaren Gährungen uns vor Augen. Nun erinnert ſich das an-
ſchauende perſönliche Weſen, daß das, was wir jetzt unorganiſche Natur
nennen, einſt mehr war, es ſchaut ſie als den Schooß, die Wiege alles
Lebens an, verlegt ſich ſelbſt in dieſe Wiege zurück, wirft das Explicirte
hinter ſich ſelbſt, die Zwiſchenglieder überſpringend, in das Implicirte
zurück, ſieht in den Bewegungen der Natur Stimmungen, Leidenſchaften
des menſchlichen Gemüths, läßt den künftigen Menſchen aus dem Urgrunde,
worin er mit allen Lebendigen ſchlummerte, hervor und ſich entgegenblicken.
Die Empfindung kann allerdings auch eine andere Wendung nehmen; die
Elemente werden vorgeſtellt als wüßten ſie um das außer ihnen bereits
vorhandene organiſche und menſchliche Leben und erfreuten ſich daran, es
zu nähren, ſich ihm zum Genuſſe zu geben oder es neidiſch zu zerſtören.
Allein die Zurückverlegung des empfindenden und ſelbſtbewußten Lebens
hinter ſich in die blinde Natur iſt hier dieſelbe, nur daß der Act unver-
merkt den beſtimmten Widerſpruch in ſich aufnimmt, das höhere Leben da
zu ſuchen, wo es noch nicht iſt, und doch zugleich es da zu wiſſen, wo es
iſt. — Die vorchriſtlichen Religionen vollzogen dieſe ganze Unterſchiebung
förmlich und machten die Erſcheinungen der unorganiſchen Natur zu Göttern,
die neuere Bildung vollzieht dieſelbe unbeſtimmt in ahnender, blos äſthetiſcher
Weiſe; denn wo ſie beſtimmt denkt, hat natürlich für ſie die Unterſchiebung
ein Ende. Dieß leihende Anſchauen kann nun gerade bei dem höchſten
Producte der unorganiſchen Natur, dem Minerale, am wenigſten eintreten;
denn für die Täuſchung iſt dieſes zu beſtimmt, um aber ohne Täuſchung
ihm ein Bild der Perſönlichkeit unterzulegen, zu arm und todt.
Hinzuzuſetzen iſt nur noch, daß man uns nicht einwenden darf, wir
ſetzen hier unberufener Weiſe die ſchöpferiſche Phantaſie ſchon voraus, die
ſich uns doch erſt erzeugen ſoll. Das empfindungsvolle, ahnende Schauen
iſt, wie ſchon zu §. 236 Anm. 3. berührt wurde, noch lange nicht das der
Phantaſie im engeren Sinne. Einen Zuſchauer haben wir in den Begriff
des Schönen ſelbſt mit eingeſchloſſen (§. 70 ff.); Auge und empfindenden
Sinn braucht es auch zum äſthetiſchen Anſchauen der organiſchen Schönheit.
Es wird ſich ſeines Orts allerdings zeigen, daß wir überall in das Natur-
ſchöne die reine Schönheit erſt hineinſchauen; ein ausdrücklicher und ſelb-
ſtändiger Gegenſtand der Unterſuchung wird dieß aber erſt da, wo die
Mängel aller Naturſchönheit zur Sprache kommen. Hier handelt es ſich
noch vom Unterſchied ihrer Stufen, wie derſelbe freilich bei der einen ein
beſtimmteres Leihen nöthig macht, bei der andern es erſpart. Jetzt zeigt
ſich, daß der Zuſchauer der unorganiſchen Natur etwas leihen muß, was
ſie nicht hat; dann wird ſich zeigen, daß außer dieſem Leihen noch
etwas ganz Anderes geſchehen muß, um ihre Mängel ſo wie die Mängel
aller Naturſchönheit zu tilgen und ſie wahrhaft in das Schöne zu erheben.
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