Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.als Leidenschaft den innersten Menschen aussaugende, wogegen Mord 2. Der Ackerbau hat bald der Landschaft jedes Stück Erde wegge- Wichtig ist besonders die Tracht. Die Revolution rasirte auch auf als Leidenſchaft den innerſten Menſchen ausſaugende, wogegen Mord 2. Der Ackerbau hat bald der Landſchaft jedes Stück Erde wegge- Wichtig iſt beſonders die Tracht. Die Revolution raſirte auch auf <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <pb facs="#f0304" n="292"/> <hi rendition="#et">als Leidenſchaft den innerſten Menſchen ausſaugende, wogegen Mord<lb/> Poeſie iſt, hat Dichtern den eckelhafteſten Stoff gegeben. Das beſte<lb/> Zeugniß, wie mitleidswerth unſere Geſellſchaft iſt, wenn ſie ſich anlügt,<lb/> luſtig zu ſein, iſt der Tanz, der ohne Aufſprung am Boden klebt, zu<lb/> einem Gehen geworden iſt, wobei jeder Zug des Tänzers ſagt: ich könnte<lb/> es ebenſo gut bleiben laſſen. Die Bäder ſind Hauptſitz der blaſirten<lb/> langen Weile, des <hi rendition="#aq">ennuy.</hi> Das Volk trinkt Gift im Branntwein. Die<lb/> Volksfeſte ſind todt; der Städter lorgnettirt das Volk, das ſich bereits<lb/> ſelbſt der Luſt ſchämt und ſie dem Geſindel überläßt. Die neu gemachten<lb/> Feſte, die Zweckeſſen u. dergl. ſind eine Ironie wahrer Feſtfreude.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">2. Der Ackerbau hat bald der Landſchaft jedes Stück Erde wegge-<lb/> nommen, die Oekonomie verbannt das weidende Rind von der Wieſe<lb/> in den Stall, die Volksrechte verlangen Vertilgung des Wilds, der<lb/> Künſtler hat Noth, einen Hirſch, einen Eber zu ſehen. Der Krieg iſt<lb/> durch Napoleon vom Geſchleppe der alten Schule befreit, aber dadurch<lb/> vollends abſtract geworden, ein raſcher Kampf ungeheurer uniformer<lb/> Maſſen. Die großen Schlachten der letzten Kriege haben allen heroiſchen<lb/> Styl verloren; Alles ſitzt in der Combination des Feldherrn. Napoleon bei<lb/> Wagram mit dem Perſpectiv in das Schlachtgetümmel ſich wie mit Adler-<lb/> augen einbohrend iſt wohl ein großes Bild; aber da iſt doch zu wenig<lb/> Anſchaulichkeit. Nirgends findet man den Moment, wo in Einer Gruppe<lb/> mächtig ringender ſinnlicher Kräfte das Ganze entſchiede; die Thätigkeit<lb/> des Feldherrn iſt ungreiflich, geiſtig, verborgen, und die ſinnlich Thätigen<lb/> ſind commandirt: dort die Abſtractheit, hier das Commiß- und Feldwebel-<lb/> mäßige. Der Geiſt und das ſinnliche Thun fallen nicht in <hi rendition="#g">heroiſche</hi><lb/> Perſönlichkeit zuſammen. Und nun ſoll die Schießwolle ſelbſt den er-<lb/> habenen Donner der Geſchoße wegnehmen. — Die hier genannten<lb/> Erſcheinungen ſind großentheils Fortſchritt; man ſieht alſo, wie wahr<lb/> der Satz §. 365, 2 iſt.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Wichtig iſt beſonders die Tracht. Die Revolution raſirte auch auf<lb/> dieſem Gebiete, ſie ſchnitt die Schnörkel und den Zwang, aber auch jede<lb/> Phantaſie mit weg. Der runde Hut mit immer ſchmälerer Krempe<lb/> verdrängte den Dreimaſter, als lächerliche Neuerung kam der Stürmer<lb/> (preußiſche Hut) auf. Die Friſur wich dem Titus, ſelbſt bei Frauen,<lb/> die aber bald das Haar in jetziger Weiſe hinten zuſammenfaßten. Mit<lb/> der Verjagung des Puders wagte ſich der Bart wieder hervor, zuerſt<lb/> nur, und jetzt noch zum Theil, als Monopol des Soldaten. Rock,<lb/> Frack, Weſte (aber ohne Schöße) blieb, die Taille wurde kürzer. All-<lb/> mählich aber kam das Kummet, der jetzige Rockkragen auf, der mit ſo<lb/> falſcher Linie die Form des Halſes durchſchneidet und, wie die bezeich-<lb/> nende Kravatte, ſeine ſchön eingezogene Bildung, dieſe ſchwungvolle<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [292/0304]
als Leidenſchaft den innerſten Menſchen ausſaugende, wogegen Mord
Poeſie iſt, hat Dichtern den eckelhafteſten Stoff gegeben. Das beſte
Zeugniß, wie mitleidswerth unſere Geſellſchaft iſt, wenn ſie ſich anlügt,
luſtig zu ſein, iſt der Tanz, der ohne Aufſprung am Boden klebt, zu
einem Gehen geworden iſt, wobei jeder Zug des Tänzers ſagt: ich könnte
es ebenſo gut bleiben laſſen. Die Bäder ſind Hauptſitz der blaſirten
langen Weile, des ennuy. Das Volk trinkt Gift im Branntwein. Die
Volksfeſte ſind todt; der Städter lorgnettirt das Volk, das ſich bereits
ſelbſt der Luſt ſchämt und ſie dem Geſindel überläßt. Die neu gemachten
Feſte, die Zweckeſſen u. dergl. ſind eine Ironie wahrer Feſtfreude.
2. Der Ackerbau hat bald der Landſchaft jedes Stück Erde wegge-
nommen, die Oekonomie verbannt das weidende Rind von der Wieſe
in den Stall, die Volksrechte verlangen Vertilgung des Wilds, der
Künſtler hat Noth, einen Hirſch, einen Eber zu ſehen. Der Krieg iſt
durch Napoleon vom Geſchleppe der alten Schule befreit, aber dadurch
vollends abſtract geworden, ein raſcher Kampf ungeheurer uniformer
Maſſen. Die großen Schlachten der letzten Kriege haben allen heroiſchen
Styl verloren; Alles ſitzt in der Combination des Feldherrn. Napoleon bei
Wagram mit dem Perſpectiv in das Schlachtgetümmel ſich wie mit Adler-
augen einbohrend iſt wohl ein großes Bild; aber da iſt doch zu wenig
Anſchaulichkeit. Nirgends findet man den Moment, wo in Einer Gruppe
mächtig ringender ſinnlicher Kräfte das Ganze entſchiede; die Thätigkeit
des Feldherrn iſt ungreiflich, geiſtig, verborgen, und die ſinnlich Thätigen
ſind commandirt: dort die Abſtractheit, hier das Commiß- und Feldwebel-
mäßige. Der Geiſt und das ſinnliche Thun fallen nicht in heroiſche
Perſönlichkeit zuſammen. Und nun ſoll die Schießwolle ſelbſt den er-
habenen Donner der Geſchoße wegnehmen. — Die hier genannten
Erſcheinungen ſind großentheils Fortſchritt; man ſieht alſo, wie wahr
der Satz §. 365, 2 iſt.
Wichtig iſt beſonders die Tracht. Die Revolution raſirte auch auf
dieſem Gebiete, ſie ſchnitt die Schnörkel und den Zwang, aber auch jede
Phantaſie mit weg. Der runde Hut mit immer ſchmälerer Krempe
verdrängte den Dreimaſter, als lächerliche Neuerung kam der Stürmer
(preußiſche Hut) auf. Die Friſur wich dem Titus, ſelbſt bei Frauen,
die aber bald das Haar in jetziger Weiſe hinten zuſammenfaßten. Mit
der Verjagung des Puders wagte ſich der Bart wieder hervor, zuerſt
nur, und jetzt noch zum Theil, als Monopol des Soldaten. Rock,
Frack, Weſte (aber ohne Schöße) blieb, die Taille wurde kürzer. All-
mählich aber kam das Kummet, der jetzige Rockkragen auf, der mit ſo
falſcher Linie die Form des Halſes durchſchneidet und, wie die bezeich-
nende Kravatte, ſeine ſchön eingezogene Bildung, dieſe ſchwungvolle
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