Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
bedeutende tragische Erscheinungen (Leiden der Albigenser, Waldenser, 2. Das wissenschaftliche Leben des Mittelalters und sein Aufschwung §. 364. In dieser allgemeinen Auflösung und Gährung entsteht eine neue, äußerst1 1. Etwa in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts beginnt mit
bedeutende tragiſche Erſcheinungen (Leiden der Albigenſer, Waldenſer, 2. Das wiſſenſchaftliche Leben des Mittelalters und ſein Aufſchwung §. 364. In dieſer allgemeinen Auflöſung und Gährung entſteht eine neue, äußerſt1 1. Etwa in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts beginnt mit <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0277" n="265"/> bedeutende tragiſche Erſcheinungen (Leiden der Albigenſer, Waldenſer,<lb/> Kriege der Huſſiten). Das Hauptmittel, das die Kirche gegen die Ketzer<lb/> anwendet, die Inquiſition, das Ketzergericht, die blutige Verfolgung wühlt<lb/> menſchliches Leiden, aber auch Muth und Willen in allen ihren für den<lb/> Künſtler ſo fruchtbaren Tiefen doppelt wirkſam durch die Wirkungen des<lb/> Kontraſtes auf.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">2. Das wiſſenſchaftliche Leben des Mittelalters und ſein Aufſchwung<lb/> durch das Wiedererwachen der klaſſiſchen Studien ſeit der türkiſchen<lb/> Eroberung Conſtantinopels gehört hieher nur, ſofern es unmittelbar und<lb/> mittelbar anſchauliche Erſcheinungen bewirkt. Unmittelbar bieten namentlich<lb/> die Univerſitäten viel Anſchauliches dar, denn ſie ſind gegliederte Corpora-<lb/> tionen mit dem ganzen trotzigen Zunftgeiſte des Mittelalters. Studenten-<lb/> leben, noch lange in die neuere Zeit herein ein buntes Stück Mittelalter:<lb/> Landsmannſchaften, Spiele, Trinkſitten, Zweikampf, Kriege gegen die<lb/> ungeiſtigen Rivalen, die Handwerksburſchen. Mittelbar: ungemeine<lb/> Wirkung der humaniſtiſchen Studien auf die ganze Erſcheinung, Sitte.<lb/> Man lernt wieder ungebrochene Menſchen, poſitive Sittlichkeit, gerade<lb/> Tugend, Leben im Mittelpunkte kennen und alle Kunſt und Grazie, die<lb/> daraus hervorgegangen; dieß muß ſich auch in der äußern Erſcheinung<lb/> des Lebens zeigen, doch nicht ſo ſchnell wird die Wirkung ſichtbar.</hi> </p> </div> </div><lb/> <div n="6"> <head>§. 364.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">In dieſer allgemeinen Auflöſung und Gährung entſteht eine neue, äußerſt<note place="right">1</note><lb/> bunte Welt von Formen. Insbeſondere entbinden ſich nun erſt die germaniſchen<lb/> Beſtandtheile der Tracht und es entwickelt ſich daraus eine Mannigfaltigkeit<lb/> und Willkühr, worin man die Anfänge der <hi rendition="#g">Mode</hi> erkennt. Zugleich aber<note place="right">2</note><lb/> greifen in dieſe entfeſſelte Welt neue Erfindungen und Ordnungen ein und<lb/> beginnen, vorerſt ohne den Charakter individueller Lebendigkeit aufzuheben,<lb/> abſtracte Formen zu begründen. So insbeſondere im Kriege das Schießpulver<lb/> und das Söldnerweſen. Von unabſehlich zerſtörenden Folgen aber iſt die<lb/> Buchdruckerkunſt.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">1. Etwa in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts beginnt mit<lb/> der Entfeſſelung des unruhigen Geiſtes der neueren Völker erſt die große<lb/> Buntheit und Ausſchweifung der Trachten. Man benützt nun insbeſondere<lb/> erſt das in den Beinkleidern gegebene Motiv: die Tunica wird immer<lb/> kürzer und endlich zum Wammſe, Bein und Hüfte werden in der knappen<lb/> Hoſe ſichtbar. Später, im fünfzehnten Jahrhundert, ſuchte man wieder das<lb/> längere Ueberkleid hervor, das nun über das Wamms geworfen wurde.<lb/> Die Dalmatica war theils in einen ärmelloſen, glockenförmigen, ſpäter<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [265/0277]
bedeutende tragiſche Erſcheinungen (Leiden der Albigenſer, Waldenſer,
Kriege der Huſſiten). Das Hauptmittel, das die Kirche gegen die Ketzer
anwendet, die Inquiſition, das Ketzergericht, die blutige Verfolgung wühlt
menſchliches Leiden, aber auch Muth und Willen in allen ihren für den
Künſtler ſo fruchtbaren Tiefen doppelt wirkſam durch die Wirkungen des
Kontraſtes auf.
2. Das wiſſenſchaftliche Leben des Mittelalters und ſein Aufſchwung
durch das Wiedererwachen der klaſſiſchen Studien ſeit der türkiſchen
Eroberung Conſtantinopels gehört hieher nur, ſofern es unmittelbar und
mittelbar anſchauliche Erſcheinungen bewirkt. Unmittelbar bieten namentlich
die Univerſitäten viel Anſchauliches dar, denn ſie ſind gegliederte Corpora-
tionen mit dem ganzen trotzigen Zunftgeiſte des Mittelalters. Studenten-
leben, noch lange in die neuere Zeit herein ein buntes Stück Mittelalter:
Landsmannſchaften, Spiele, Trinkſitten, Zweikampf, Kriege gegen die
ungeiſtigen Rivalen, die Handwerksburſchen. Mittelbar: ungemeine
Wirkung der humaniſtiſchen Studien auf die ganze Erſcheinung, Sitte.
Man lernt wieder ungebrochene Menſchen, poſitive Sittlichkeit, gerade
Tugend, Leben im Mittelpunkte kennen und alle Kunſt und Grazie, die
daraus hervorgegangen; dieß muß ſich auch in der äußern Erſcheinung
des Lebens zeigen, doch nicht ſo ſchnell wird die Wirkung ſichtbar.
§. 364.
In dieſer allgemeinen Auflöſung und Gährung entſteht eine neue, äußerſt
bunte Welt von Formen. Insbeſondere entbinden ſich nun erſt die germaniſchen
Beſtandtheile der Tracht und es entwickelt ſich daraus eine Mannigfaltigkeit
und Willkühr, worin man die Anfänge der Mode erkennt. Zugleich aber
greifen in dieſe entfeſſelte Welt neue Erfindungen und Ordnungen ein und
beginnen, vorerſt ohne den Charakter individueller Lebendigkeit aufzuheben,
abſtracte Formen zu begründen. So insbeſondere im Kriege das Schießpulver
und das Söldnerweſen. Von unabſehlich zerſtörenden Folgen aber iſt die
Buchdruckerkunſt.
1. Etwa in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts beginnt mit
der Entfeſſelung des unruhigen Geiſtes der neueren Völker erſt die große
Buntheit und Ausſchweifung der Trachten. Man benützt nun insbeſondere
erſt das in den Beinkleidern gegebene Motiv: die Tunica wird immer
kürzer und endlich zum Wammſe, Bein und Hüfte werden in der knappen
Hoſe ſichtbar. Später, im fünfzehnten Jahrhundert, ſuchte man wieder das
längere Ueberkleid hervor, das nun über das Wamms geworfen wurde.
Die Dalmatica war theils in einen ärmelloſen, glockenförmigen, ſpäter
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