Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

in Formen festlicher Freude. Die Spanier hatten ihre Stiergefechte, die
Venetianer ihre Vermählung des Dogen mit dem Meer, überall die
Bürger ihre Armbrustschießen, Schifferstechen. Meist waren die Spiele
auch des Mittelalters gefährlich; man muß jederzeit einige Leben opfern,
wenn man tüchtige Menschen erziehen will. Außerdem hatte jede Jahrszeit
ihre besonderen kleineren Freuden, Ballspiel, Falkenbeize, Martinsgänse,
Valentinstage u. s. w. -- Die allgemeine Form des Reisens ist Reiten,
auch die Frauen sitzen zu Pferde und die gewaltigen, breithufigen, lang-
mähnigen Thiere sind noch lange nicht so mechanisch und sicher abgerichtet
wie jetzt.

Ausgang.
§. 362.

Inzwischen hat in dieser Welt der zersprengten Individualität die Kraft1
des Allgemeinen in Form eines Zusammenschlußes, einer Verbrüderung sich
thätig erwiesen im Ritterwesen und den Ritter-Orden, im regen, zu Republiken
anwachsenden, gewerbfleißigen und muthigen Bürgerleben der Städte und ihren
Bündnissen, endlich in Kämpfen der Bauern um ihre Freiheit. Umgekehrt2
entwickelt sich von oben übergreifend die monarchische Einheit, indem Ein
Gewalthaber die andern, zum Theil unter blutigen Kämpfen, worin eine neue,
wilde Form des Bösen ausbricht, überwältigt, zu Ständen herabsetzt und die
Durchführung des Allgemeinen in seine Hand nimmt.

1. Die Bewegung des Mittelalters zum Modernen geschieht in zwei
entgegengesetzten Linien. Die eine Bewegung geht von unten herauf und
ist republikanischer Natur: Entwicklung des vernünftig Allgemeinen, des
Staats, aus der Corporation, der Zusammenschließung freier Individuen
zu allgemeinen Zwecken. Dieser Bewegung widerspricht es eigentlich, einen
Monarchen auf ihrer Spitze anzusetzen, denn es ist Widerspruch, daß das
Allgemeine selbst wieder Individuum sein soll; die Einzelheit schließt aus,
der Körper verdunkelt. Diese Allgemeinheit realisirt sich aber zunächst
noch ächt mittelalterlich nur im kleinen Raume, die Corporationen stehen
in der Reihe der willkührlich trotzigen Einzelkräfte, Reichsstädte neben
Ritterburgen, Klöstern, und indem daher das Gemeinschaftliche im
beschränkten Kreise sich nach innen schön ausbildet, ist der Kreis selbst
nur ein Punkt unter Punkten, über den sich unvermerkt von oben die
langen Arme des Monarchen ausbreiten. -- Das Ritterwesen ist oben
als ächt mittelalterliche Erscheinung genannt; es hat aber noch eine andere
Seite. Ritterschaft und Adel war nicht dasselbe, der Ritterschlag setzte
gewisse Vorbildung, Gelöbnisse, Verdienste voraus und ward nach und

in Formen feſtlicher Freude. Die Spanier hatten ihre Stiergefechte, die
Venetianer ihre Vermählung des Dogen mit dem Meer, überall die
Bürger ihre Armbruſtſchießen, Schifferſtechen. Meiſt waren die Spiele
auch des Mittelalters gefährlich; man muß jederzeit einige Leben opfern,
wenn man tüchtige Menſchen erziehen will. Außerdem hatte jede Jahrszeit
ihre beſonderen kleineren Freuden, Ballſpiel, Falkenbeize, Martinsgänſe,
Valentinstage u. ſ. w. — Die allgemeine Form des Reiſens iſt Reiten,
auch die Frauen ſitzen zu Pferde und die gewaltigen, breithufigen, lang-
mähnigen Thiere ſind noch lange nicht ſo mechaniſch und ſicher abgerichtet
wie jetzt.

Ausgang.
§. 362.

Inzwiſchen hat in dieſer Welt der zerſprengten Individualität die Kraft1
des Allgemeinen in Form eines Zuſammenſchlußes, einer Verbrüderung ſich
thätig erwieſen im Ritterweſen und den Ritter-Orden, im regen, zu Republiken
anwachſenden, gewerbfleißigen und muthigen Bürgerleben der Städte und ihren
Bündniſſen, endlich in Kämpfen der Bauern um ihre Freiheit. Umgekehrt2
entwickelt ſich von oben übergreifend die monarchiſche Einheit, indem Ein
Gewalthaber die andern, zum Theil unter blutigen Kämpfen, worin eine neue,
wilde Form des Böſen ausbricht, überwältigt, zu Ständen herabſetzt und die
Durchführung des Allgemeinen in ſeine Hand nimmt.

1. Die Bewegung des Mittelalters zum Modernen geſchieht in zwei
entgegengeſetzten Linien. Die eine Bewegung geht von unten herauf und
iſt republikaniſcher Natur: Entwicklung des vernünftig Allgemeinen, des
Staats, aus der Corporation, der Zuſammenſchließung freier Individuen
zu allgemeinen Zwecken. Dieſer Bewegung widerſpricht es eigentlich, einen
Monarchen auf ihrer Spitze anzuſetzen, denn es iſt Widerſpruch, daß das
Allgemeine ſelbſt wieder Individuum ſein ſoll; die Einzelheit ſchließt aus,
der Körper verdunkelt. Dieſe Allgemeinheit realiſirt ſich aber zunächſt
noch ächt mittelalterlich nur im kleinen Raume, die Corporationen ſtehen
in der Reihe der willkührlich trotzigen Einzelkräfte, Reichsſtädte neben
Ritterburgen, Klöſtern, und indem daher das Gemeinſchaftliche im
beſchränkten Kreiſe ſich nach innen ſchön ausbildet, iſt der Kreis ſelbſt
nur ein Punkt unter Punkten, über den ſich unvermerkt von oben die
langen Arme des Monarchen ausbreiten. — Das Ritterweſen iſt oben
als ächt mittelalterliche Erſcheinung genannt; es hat aber noch eine andere
Seite. Ritterſchaft und Adel war nicht daſſelbe, der Ritterſchlag ſetzte
gewiſſe Vorbildung, Gelöbniſſe, Verdienſte voraus und ward nach und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0273" n="261"/>
in Formen fe&#x017F;tlicher Freude. Die Spanier hatten ihre Stiergefechte, die<lb/>
Venetianer ihre Vermählung des Dogen mit dem Meer, überall die<lb/>
Bürger ihre Armbru&#x017F;t&#x017F;chießen, Schiffer&#x017F;techen. Mei&#x017F;t waren die Spiele<lb/>
auch des Mittelalters gefährlich; man muß jederzeit einige Leben opfern,<lb/>
wenn man tüchtige Men&#x017F;chen erziehen will. Außerdem hatte jede Jahrszeit<lb/>
ihre be&#x017F;onderen kleineren Freuden, Ball&#x017F;piel, Falkenbeize, Martinsgän&#x017F;e,<lb/>
Valentinstage u. &#x017F;. w. &#x2014; Die allgemeine Form des Rei&#x017F;ens i&#x017F;t Reiten,<lb/>
auch die Frauen &#x017F;itzen zu Pferde und die gewaltigen, breithufigen, lang-<lb/>
mähnigen Thiere &#x017F;ind noch lange nicht &#x017F;o mechani&#x017F;ch und &#x017F;icher abgerichtet<lb/>
wie jetzt.</hi> </p>
                  </div>
                </div><lb/>
                <div n="6">
                  <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Ausgang</hi>.</hi> </head><lb/>
                  <div n="7">
                    <head>§. 362.</head><lb/>
                    <p> <hi rendition="#fr">Inzwi&#x017F;chen hat in die&#x017F;er Welt der zer&#x017F;prengten Individualität die Kraft<note place="right">1</note><lb/>
des Allgemeinen in Form eines Zu&#x017F;ammen&#x017F;chlußes, einer Verbrüderung &#x017F;ich<lb/>
thätig erwie&#x017F;en im Ritterwe&#x017F;en und den Ritter-Orden, im regen, zu Republiken<lb/>
anwach&#x017F;enden, gewerbfleißigen und muthigen Bürgerleben der Städte und ihren<lb/>
Bündni&#x017F;&#x017F;en, endlich in Kämpfen der Bauern um ihre Freiheit. Umgekehrt<note place="right">2</note><lb/>
entwickelt &#x017F;ich von oben übergreifend die monarchi&#x017F;che Einheit, indem Ein<lb/>
Gewalthaber die andern, zum Theil unter blutigen Kämpfen, worin eine neue,<lb/>
wilde Form des Bö&#x017F;en ausbricht, überwältigt, zu Ständen herab&#x017F;etzt und die<lb/>
Durchführung des Allgemeinen in &#x017F;eine Hand nimmt.</hi> </p><lb/>
                    <p> <hi rendition="#et">1. Die Bewegung des Mittelalters zum Modernen ge&#x017F;chieht in zwei<lb/>
entgegenge&#x017F;etzten Linien. Die eine Bewegung geht von unten herauf und<lb/>
i&#x017F;t republikani&#x017F;cher Natur: Entwicklung des vernünftig Allgemeinen, des<lb/>
Staats, aus der Corporation, der Zu&#x017F;ammen&#x017F;chließung freier Individuen<lb/>
zu allgemeinen Zwecken. Die&#x017F;er Bewegung wider&#x017F;pricht es eigentlich, einen<lb/>
Monarchen auf ihrer Spitze anzu&#x017F;etzen, denn es i&#x017F;t Wider&#x017F;pruch, daß das<lb/>
Allgemeine &#x017F;elb&#x017F;t wieder Individuum &#x017F;ein &#x017F;oll; die Einzelheit &#x017F;chließt aus,<lb/>
der Körper verdunkelt. Die&#x017F;e Allgemeinheit reali&#x017F;irt &#x017F;ich aber zunäch&#x017F;t<lb/>
noch ächt mittelalterlich nur im kleinen Raume, die Corporationen &#x017F;tehen<lb/>
in der Reihe der willkührlich trotzigen Einzelkräfte, Reichs&#x017F;tädte neben<lb/>
Ritterburgen, Klö&#x017F;tern, und indem daher das Gemein&#x017F;chaftliche im<lb/>
be&#x017F;chränkten Krei&#x017F;e &#x017F;ich nach innen &#x017F;chön ausbildet, i&#x017F;t der Kreis &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
nur ein Punkt unter Punkten, über den &#x017F;ich unvermerkt von oben die<lb/>
langen Arme des Monarchen ausbreiten. &#x2014; Das Ritterwe&#x017F;en i&#x017F;t oben<lb/>
als ächt mittelalterliche Er&#x017F;cheinung genannt; es hat aber noch eine andere<lb/>
Seite. Ritter&#x017F;chaft und Adel war nicht da&#x017F;&#x017F;elbe, der Ritter&#x017F;chlag &#x017F;etzte<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;e Vorbildung, Gelöbni&#x017F;&#x017F;e, Verdien&#x017F;te voraus und ward nach und<lb/></hi> </p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[261/0273] in Formen feſtlicher Freude. Die Spanier hatten ihre Stiergefechte, die Venetianer ihre Vermählung des Dogen mit dem Meer, überall die Bürger ihre Armbruſtſchießen, Schifferſtechen. Meiſt waren die Spiele auch des Mittelalters gefährlich; man muß jederzeit einige Leben opfern, wenn man tüchtige Menſchen erziehen will. Außerdem hatte jede Jahrszeit ihre beſonderen kleineren Freuden, Ballſpiel, Falkenbeize, Martinsgänſe, Valentinstage u. ſ. w. — Die allgemeine Form des Reiſens iſt Reiten, auch die Frauen ſitzen zu Pferde und die gewaltigen, breithufigen, lang- mähnigen Thiere ſind noch lange nicht ſo mechaniſch und ſicher abgerichtet wie jetzt. Ausgang. §. 362. Inzwiſchen hat in dieſer Welt der zerſprengten Individualität die Kraft des Allgemeinen in Form eines Zuſammenſchlußes, einer Verbrüderung ſich thätig erwieſen im Ritterweſen und den Ritter-Orden, im regen, zu Republiken anwachſenden, gewerbfleißigen und muthigen Bürgerleben der Städte und ihren Bündniſſen, endlich in Kämpfen der Bauern um ihre Freiheit. Umgekehrt entwickelt ſich von oben übergreifend die monarchiſche Einheit, indem Ein Gewalthaber die andern, zum Theil unter blutigen Kämpfen, worin eine neue, wilde Form des Böſen ausbricht, überwältigt, zu Ständen herabſetzt und die Durchführung des Allgemeinen in ſeine Hand nimmt. 1. Die Bewegung des Mittelalters zum Modernen geſchieht in zwei entgegengeſetzten Linien. Die eine Bewegung geht von unten herauf und iſt republikaniſcher Natur: Entwicklung des vernünftig Allgemeinen, des Staats, aus der Corporation, der Zuſammenſchließung freier Individuen zu allgemeinen Zwecken. Dieſer Bewegung widerſpricht es eigentlich, einen Monarchen auf ihrer Spitze anzuſetzen, denn es iſt Widerſpruch, daß das Allgemeine ſelbſt wieder Individuum ſein ſoll; die Einzelheit ſchließt aus, der Körper verdunkelt. Dieſe Allgemeinheit realiſirt ſich aber zunächſt noch ächt mittelalterlich nur im kleinen Raume, die Corporationen ſtehen in der Reihe der willkührlich trotzigen Einzelkräfte, Reichsſtädte neben Ritterburgen, Klöſtern, und indem daher das Gemeinſchaftliche im beſchränkten Kreiſe ſich nach innen ſchön ausbildet, iſt der Kreis ſelbſt nur ein Punkt unter Punkten, über den ſich unvermerkt von oben die langen Arme des Monarchen ausbreiten. — Das Ritterweſen iſt oben als ächt mittelalterliche Erſcheinung genannt; es hat aber noch eine andere Seite. Ritterſchaft und Adel war nicht daſſelbe, der Ritterſchlag ſetzte gewiſſe Vorbildung, Gelöbniſſe, Verdienſte voraus und ward nach und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/273
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/273>, abgerufen am 23.11.2024.