Dorier erscheint nordischer oder gleicht, wenn man will, dem herben Semiten und dann ist der Jonier dem Indier zu vergleichen.
2. Der Gliederbau des Griechen war kräftig breit und doch von schlanker Linie, geschmeidigen Formen, er hatte, nicht nur durch Gymnastik, sondern schon durch Race, den Charakter des Gelösten, Herausgearbeiteten, Entwickelten, besonders in der frei gewölbten Brust. Dem Profil war bekanntlich der gerade Gesichtswinkel mit kaum merklicher Einziehung der Nasenwurzel und fast gerader, nur ganz leise gebogener Nase, das rund und satt hervortretende Kinn eigen, und zwar war es gewiß nicht nur in der Kunst, sondern in der Natur selbst, wie unter And. Blumenbachs herrlicher Griechenschädel und einzelne Profile, die man noch heute in Griechenland findet, beweisen. Die Griechen kannten aber auch wohl das grupon und seinen Gegensatz, das simon. Jenes scheint dorisch gewesen zu sein, dieses kam vereinzelt überall vor und zeigt sich über- haupt in der unentwickelten Nase der Kinder. Ueber den Ausdruck des geraden Profils hat Hegel (Aesth. B. 2, S. 387 ff.) Treffliches gesagt. Die Nase wird dadurch gleichsam der Stirn angeeignet, der Sitz des Denkens bleibt in unmittelbarer Einheit mit dem Organ des sinnlichen Spürens und Suchens und umgekehrt wird dieses und mit ihm der ganze untere sinnlichere Theil des Gesichtes für das Geistige wie eine reine Fortsetzung desselben gewonnen; das Obere, Geistige setzt sich ohne Unterbrechung in das Untere, Animalische fort. Tief eingeschnittene Kluft der Nasenwurzel trennt das Untere und Obere und dann spielen auch beide Theile, freigelassen vom Bande der Einheit, in ungesetzlichen, willkührlichen Formen. Das volle Kinn aber gab diesem schönen Ganzen die satte Begründung, die abschließende Basis und zeigte den in sich und in Naturmitte festen, runden Menschen an. Die Stirne war mäßig gewölbt, nicht allzuhoch, was Uebergewicht des getrennten Denkens anzeigt, sie hatte einen Theil ihrer Entwicklung dem Gesichte abgegeben; berühmt das volle, runde, leuchtende Auge unter fein gezogenen Augbraunen, der lockige Haarschmuck. Dieses Profil sprach das Gleichgewicht des Tempera- ments aus. Man nennt die Griechen gern sanguinisch, aber sie hatten auch die Gabe von Phlegma und Melancholie, die zur Wissenschaft und zum ganzen Gefühl des Tragischen gehört, und man darf nur den Achilles sich vergegenwärtigen, um die Stärke des cholerischen Feuers zu erkennen. Auf der Grundlage dieser reinen Mischung ist ihre Begabung als all- seitig und daher genial zu bezeichnen.
3. Alle Culturformen verkündeten die schöne Menschlichkeit. Die Tracht ließ das Haupt, wo es nicht den Schutz des Helms, der Schiffer- mütze, des Reisehuts bedurfte, frei, die Beine in ihrer schönen Zeichnung nackt, Hosen galten für barbarisch, auch der ganze oder halbe Arm sah
Dorier erſcheint nordiſcher oder gleicht, wenn man will, dem herben Semiten und dann iſt der Jonier dem Indier zu vergleichen.
2. Der Gliederbau des Griechen war kräftig breit und doch von ſchlanker Linie, geſchmeidigen Formen, er hatte, nicht nur durch Gymnaſtik, ſondern ſchon durch Race, den Charakter des Gelösten, Herausgearbeiteten, Entwickelten, beſonders in der frei gewölbten Bruſt. Dem Profil war bekanntlich der gerade Geſichtswinkel mit kaum merklicher Einziehung der Naſenwurzel und faſt gerader, nur ganz leiſe gebogener Naſe, das rund und ſatt hervortretende Kinn eigen, und zwar war es gewiß nicht nur in der Kunſt, ſondern in der Natur ſelbſt, wie unter And. Blumenbachs herrlicher Griechenſchädel und einzelne Profile, die man noch heute in Griechenland findet, beweiſen. Die Griechen kannten aber auch wohl das γρυπὸν und ſeinen Gegenſatz, das σιμὸν. Jenes ſcheint doriſch geweſen zu ſein, dieſes kam vereinzelt überall vor und zeigt ſich über- haupt in der unentwickelten Naſe der Kinder. Ueber den Ausdruck des geraden Profils hat Hegel (Aeſth. B. 2, S. 387 ff.) Treffliches geſagt. Die Naſe wird dadurch gleichſam der Stirn angeeignet, der Sitz des Denkens bleibt in unmittelbarer Einheit mit dem Organ des ſinnlichen Spürens und Suchens und umgekehrt wird dieſes und mit ihm der ganze untere ſinnlichere Theil des Geſichtes für das Geiſtige wie eine reine Fortſetzung desſelben gewonnen; das Obere, Geiſtige ſetzt ſich ohne Unterbrechung in das Untere, Animaliſche fort. Tief eingeſchnittene Kluft der Naſenwurzel trennt das Untere und Obere und dann ſpielen auch beide Theile, freigelaſſen vom Bande der Einheit, in ungeſetzlichen, willkührlichen Formen. Das volle Kinn aber gab dieſem ſchönen Ganzen die ſatte Begründung, die abſchließende Baſis und zeigte den in ſich und in Naturmitte feſten, runden Menſchen an. Die Stirne war mäßig gewölbt, nicht allzuhoch, was Uebergewicht des getrennten Denkens anzeigt, ſie hatte einen Theil ihrer Entwicklung dem Geſichte abgegeben; berühmt das volle, runde, leuchtende Auge unter fein gezogenen Augbraunen, der lockige Haarſchmuck. Dieſes Profil ſprach das Gleichgewicht des Tempera- ments aus. Man nennt die Griechen gern ſanguiniſch, aber ſie hatten auch die Gabe von Phlegma und Melancholie, die zur Wiſſenſchaft und zum ganzen Gefühl des Tragiſchen gehört, und man darf nur den Achilles ſich vergegenwärtigen, um die Stärke des choleriſchen Feuers zu erkennen. Auf der Grundlage dieſer reinen Miſchung iſt ihre Begabung als all- ſeitig und daher genial zu bezeichnen.
3. Alle Culturformen verkündeten die ſchöne Menſchlichkeit. Die Tracht ließ das Haupt, wo es nicht den Schutz des Helms, der Schiffer- mütze, des Reiſehuts bedurfte, frei, die Beine in ihrer ſchönen Zeichnung nackt, Hoſen galten für barbariſch, auch der ganze oder halbe Arm ſah
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><divn="7"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0247"n="235"/>
Dorier erſcheint nordiſcher oder gleicht, wenn man will, dem herben Semiten<lb/>
und dann iſt der Jonier dem Indier zu vergleichen.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">2. Der Gliederbau des Griechen war kräftig breit und doch von<lb/>ſchlanker Linie, geſchmeidigen Formen, er hatte, nicht nur durch Gymnaſtik,<lb/>ſondern ſchon durch Race, den Charakter des Gelösten, Herausgearbeiteten,<lb/>
Entwickelten, beſonders in der frei gewölbten Bruſt. Dem Profil war<lb/>
bekanntlich der gerade Geſichtswinkel mit kaum merklicher Einziehung der<lb/>
Naſenwurzel und faſt gerader, nur ganz leiſe gebogener Naſe, das rund<lb/>
und ſatt hervortretende Kinn eigen, und zwar war es gewiß nicht nur in<lb/>
der Kunſt, ſondern in der Natur ſelbſt, wie unter And. Blumenbachs<lb/>
herrlicher Griechenſchädel und einzelne Profile, die man noch heute in<lb/>
Griechenland findet, beweiſen. Die Griechen kannten aber auch wohl<lb/>
das γρυπὸν und ſeinen Gegenſatz, das σιμὸν. Jenes ſcheint doriſch<lb/>
geweſen zu ſein, dieſes kam vereinzelt überall vor und zeigt ſich über-<lb/>
haupt in der unentwickelten Naſe der Kinder. Ueber den Ausdruck des<lb/>
geraden Profils hat Hegel (Aeſth. B. 2, S. 387 ff.) Treffliches geſagt.<lb/>
Die Naſe wird dadurch gleichſam der Stirn angeeignet, der Sitz des<lb/>
Denkens bleibt in unmittelbarer Einheit mit dem Organ des ſinnlichen<lb/>
Spürens und Suchens und umgekehrt wird dieſes und mit ihm der ganze<lb/>
untere ſinnlichere Theil des Geſichtes für das Geiſtige wie eine reine<lb/>
Fortſetzung desſelben gewonnen; das Obere, Geiſtige ſetzt ſich ohne<lb/>
Unterbrechung in das Untere, Animaliſche fort. Tief eingeſchnittene Kluft<lb/>
der Naſenwurzel trennt das Untere und Obere und dann ſpielen auch<lb/>
beide Theile, freigelaſſen vom Bande der Einheit, in ungeſetzlichen,<lb/>
willkührlichen Formen. Das volle Kinn aber gab dieſem ſchönen Ganzen<lb/>
die ſatte Begründung, die abſchließende Baſis und zeigte den in ſich und<lb/>
in Naturmitte feſten, runden Menſchen an. Die Stirne war mäßig<lb/>
gewölbt, nicht allzuhoch, was Uebergewicht des getrennten Denkens anzeigt,<lb/>ſie hatte einen Theil ihrer Entwicklung dem Geſichte abgegeben; berühmt<lb/>
das volle, runde, leuchtende Auge unter fein gezogenen Augbraunen, der<lb/>
lockige Haarſchmuck. Dieſes Profil ſprach das Gleichgewicht des Tempera-<lb/>
ments aus. Man nennt die Griechen gern ſanguiniſch, aber ſie hatten<lb/>
auch die Gabe von Phlegma und Melancholie, die zur Wiſſenſchaft und<lb/>
zum ganzen Gefühl des Tragiſchen gehört, und man darf nur den Achilles<lb/>ſich vergegenwärtigen, um die Stärke des choleriſchen Feuers zu erkennen.<lb/>
Auf der Grundlage dieſer reinen Miſchung iſt ihre Begabung als all-<lb/>ſeitig und daher genial zu bezeichnen.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">3. Alle Culturformen verkündeten die ſchöne Menſchlichkeit. Die<lb/>
Tracht ließ das Haupt, wo es nicht den Schutz des Helms, der Schiffer-<lb/>
mütze, des Reiſehuts bedurfte, frei, die Beine in ihrer ſchönen Zeichnung<lb/>
nackt, Hoſen galten für barbariſch, auch der ganze oder halbe Arm ſah<lb/></hi></p></div></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[235/0247]
Dorier erſcheint nordiſcher oder gleicht, wenn man will, dem herben Semiten
und dann iſt der Jonier dem Indier zu vergleichen.
2. Der Gliederbau des Griechen war kräftig breit und doch von
ſchlanker Linie, geſchmeidigen Formen, er hatte, nicht nur durch Gymnaſtik,
ſondern ſchon durch Race, den Charakter des Gelösten, Herausgearbeiteten,
Entwickelten, beſonders in der frei gewölbten Bruſt. Dem Profil war
bekanntlich der gerade Geſichtswinkel mit kaum merklicher Einziehung der
Naſenwurzel und faſt gerader, nur ganz leiſe gebogener Naſe, das rund
und ſatt hervortretende Kinn eigen, und zwar war es gewiß nicht nur in
der Kunſt, ſondern in der Natur ſelbſt, wie unter And. Blumenbachs
herrlicher Griechenſchädel und einzelne Profile, die man noch heute in
Griechenland findet, beweiſen. Die Griechen kannten aber auch wohl
das γρυπὸν und ſeinen Gegenſatz, das σιμὸν. Jenes ſcheint doriſch
geweſen zu ſein, dieſes kam vereinzelt überall vor und zeigt ſich über-
haupt in der unentwickelten Naſe der Kinder. Ueber den Ausdruck des
geraden Profils hat Hegel (Aeſth. B. 2, S. 387 ff.) Treffliches geſagt.
Die Naſe wird dadurch gleichſam der Stirn angeeignet, der Sitz des
Denkens bleibt in unmittelbarer Einheit mit dem Organ des ſinnlichen
Spürens und Suchens und umgekehrt wird dieſes und mit ihm der ganze
untere ſinnlichere Theil des Geſichtes für das Geiſtige wie eine reine
Fortſetzung desſelben gewonnen; das Obere, Geiſtige ſetzt ſich ohne
Unterbrechung in das Untere, Animaliſche fort. Tief eingeſchnittene Kluft
der Naſenwurzel trennt das Untere und Obere und dann ſpielen auch
beide Theile, freigelaſſen vom Bande der Einheit, in ungeſetzlichen,
willkührlichen Formen. Das volle Kinn aber gab dieſem ſchönen Ganzen
die ſatte Begründung, die abſchließende Baſis und zeigte den in ſich und
in Naturmitte feſten, runden Menſchen an. Die Stirne war mäßig
gewölbt, nicht allzuhoch, was Uebergewicht des getrennten Denkens anzeigt,
ſie hatte einen Theil ihrer Entwicklung dem Geſichte abgegeben; berühmt
das volle, runde, leuchtende Auge unter fein gezogenen Augbraunen, der
lockige Haarſchmuck. Dieſes Profil ſprach das Gleichgewicht des Tempera-
ments aus. Man nennt die Griechen gern ſanguiniſch, aber ſie hatten
auch die Gabe von Phlegma und Melancholie, die zur Wiſſenſchaft und
zum ganzen Gefühl des Tragiſchen gehört, und man darf nur den Achilles
ſich vergegenwärtigen, um die Stärke des choleriſchen Feuers zu erkennen.
Auf der Grundlage dieſer reinen Miſchung iſt ihre Begabung als all-
ſeitig und daher genial zu bezeichnen.
3. Alle Culturformen verkündeten die ſchöne Menſchlichkeit. Die
Tracht ließ das Haupt, wo es nicht den Schutz des Helms, der Schiffer-
mütze, des Reiſehuts bedurfte, frei, die Beine in ihrer ſchönen Zeichnung
nackt, Hoſen galten für barbariſch, auch der ganze oder halbe Arm ſah
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/247>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.