Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

Stamms die Indier und Perser auf. Jene weich, träumerisch, bieten ein1
geschichtlich stoffarmes Wunderland und Zauberreich voll süßer, anmuthiger,
prächtiger, berauschend üppiger Erscheinungen dar; diese fester, gesammelter,2
thatkräftiger treten als Erbauer eines mächtigen Weltreichs in die Geschichte ein
und entfalten allerdings mehr ästhetischen Stoff von sittlichem Gehalte, theils
durch ihr inneres Staatsleben, theils durch ihre bedeutungsvollen Kriege mit
den Griechen, worin aber auch diese Form orientalischer Erhabenheit an der
Freiheit des Westens zerschellt.

1. Wir rücken vom Süd-Osten gegen den Westen herüber. Die
Chinesen fallen weg als mongolisches Volk; alles Menschliche ist bei
ihnen da, aber Alles in Abgeschmacktheit verkehrt und es kann nur eine
pikante Grille sein, einen Roman in China spielen zu lassen. Mit den
Indiern und Persern nun verhält es sich im vorliegenden Abschnitt umge-
kehrt gegen den folgenden (vergl. §. 341 Anm.): im jetzigen bedeuten
die Perser mehr, die Indier weniger, jene geben der Aesthetik geschichtliche
Stoffe in Fülle, diese, wenn wir die Schauspiele wilder Ausschweifung,
trüber Ascese als häßlich ausstoßen, nur anmuthige in dem beschränkten
Gebiete, worin die Erscheinung seelenvoll empfindender, weicher, üppig
genießender Menschheit eingegrenzt ist. Werden wir aber von der eigenen
productiven Phantasie der Völker sprechen, so werden die Indier reicher
sein, die Perser kaum in Betracht kommen. Die Indier sind selbst ein
ästhetisches Volk, ihr träumerischer Gaukelsinn hat keine Geschichte zu
erzeugen vermocht; dieses vorzugsweise stabile Reich war nur immer
gesucht (Hegel Philos. der Gesch. S. 146), mit seinen Wundern ein
Gegenstand der Sehnsucht für die europäische Welt, leblos lebte es fort,
bis die moderne Geschichte es erfaßte. Im indischen Typus ist auch die
in §. 343 Anm. 1 gegebene Zeichnung noch am meisten in Weichheit
zurückgehalten. Der Wuchs ist schlank und gelenkig, wenig muskulös,
die Stirne schmal und rund, die Nase fein gebogen, aber nicht die kräftige
Adlernase der übrigen Orientalen, berühmt ist das sanfte Gazellen-Auge,
Kinn und Unterkiefer drängt sich nicht mit Schärfe vor, sondern weicht
leicht und weich zurück. Der genügsame Genuß der vegetabilischen Kost,
so lange nicht die losbrechende Sinnlichkeit sich auf berauschende Genüsse
wirft, bezeichnet schon dieß sanfte Pflanzenleben, dieß Land "wo stille,
schöne Menschen vor Lothosblumen knien." Hinter dem Süßen und
Weichen liegt aber die ganze Härte des Kastenwesens, die ganze An-
maßung des Priesters, die Verachtung, die auf den ehrwürdigen Ständen
des Ackerbaus und Gewerbs liegt.

2. Schon der kräftigere Bau, das schärfere Profil mit markirterer
Basis des Kinns zeigt an, daß die Perser ein thatkräftigeres, ein han-

Stamms die Indier und Perſer auf. Jene weich, träumeriſch, bieten ein1
geſchichtlich ſtoffarmes Wunderland und Zauberreich voll ſüßer, anmuthiger,
prächtiger, berauſchend üppiger Erſcheinungen dar; dieſe feſter, geſammelter,2
thatkräftiger treten als Erbauer eines mächtigen Weltreichs in die Geſchichte ein
und entfalten allerdings mehr äſthetiſchen Stoff von ſittlichem Gehalte, theils
durch ihr inneres Staatsleben, theils durch ihre bedeutungsvollen Kriege mit
den Griechen, worin aber auch dieſe Form orientaliſcher Erhabenheit an der
Freiheit des Weſtens zerſchellt.

1. Wir rücken vom Süd-Oſten gegen den Weſten herüber. Die
Chineſen fallen weg als mongoliſches Volk; alles Menſchliche iſt bei
ihnen da, aber Alles in Abgeſchmacktheit verkehrt und es kann nur eine
pikante Grille ſein, einen Roman in China ſpielen zu laſſen. Mit den
Indiern und Perſern nun verhält es ſich im vorliegenden Abſchnitt umge-
kehrt gegen den folgenden (vergl. §. 341 Anm.): im jetzigen bedeuten
die Perſer mehr, die Indier weniger, jene geben der Aeſthetik geſchichtliche
Stoffe in Fülle, dieſe, wenn wir die Schauſpiele wilder Ausſchweifung,
trüber Aſceſe als häßlich ausſtoßen, nur anmuthige in dem beſchränkten
Gebiete, worin die Erſcheinung ſeelenvoll empfindender, weicher, üppig
genießender Menſchheit eingegrenzt iſt. Werden wir aber von der eigenen
productiven Phantaſie der Völker ſprechen, ſo werden die Indier reicher
ſein, die Perſer kaum in Betracht kommen. Die Indier ſind ſelbſt ein
äſthetiſches Volk, ihr träumeriſcher Gaukelſinn hat keine Geſchichte zu
erzeugen vermocht; dieſes vorzugsweiſe ſtabile Reich war nur immer
geſucht (Hegel Philoſ. der Geſch. S. 146), mit ſeinen Wundern ein
Gegenſtand der Sehnſucht für die europäiſche Welt, leblos lebte es fort,
bis die moderne Geſchichte es erfaßte. Im indiſchen Typus iſt auch die
in §. 343 Anm. 1 gegebene Zeichnung noch am meiſten in Weichheit
zurückgehalten. Der Wuchs iſt ſchlank und gelenkig, wenig muskulös,
die Stirne ſchmal und rund, die Naſe fein gebogen, aber nicht die kräftige
Adlernaſe der übrigen Orientalen, berühmt iſt das ſanfte Gazellen-Auge,
Kinn und Unterkiefer drängt ſich nicht mit Schärfe vor, ſondern weicht
leicht und weich zurück. Der genügſame Genuß der vegetabiliſchen Koſt,
ſo lange nicht die losbrechende Sinnlichkeit ſich auf berauſchende Genüſſe
wirft, bezeichnet ſchon dieß ſanfte Pflanzenleben, dieß Land „wo ſtille,
ſchöne Menſchen vor Lothosblumen knien.“ Hinter dem Süßen und
Weichen liegt aber die ganze Härte des Kaſtenweſens, die ganze An-
maßung des Prieſters, die Verachtung, die auf den ehrwürdigen Ständen
des Ackerbaus und Gewerbs liegt.

2. Schon der kräftigere Bau, das ſchärfere Profil mit markirterer
Baſis des Kinns zeigt an, daß die Perſer ein thatkräftigeres, ein han-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p> <hi rendition="#fr"><pb facs="#f0241" n="229"/>
Stamms die <hi rendition="#g">Indier</hi> und <hi rendition="#g">Per&#x017F;er</hi> auf. Jene weich, träumeri&#x017F;ch, bieten ein<note place="right">1</note><lb/>
ge&#x017F;chichtlich &#x017F;toffarmes Wunderland und Zauberreich voll &#x017F;üßer, anmuthiger,<lb/>
prächtiger, berau&#x017F;chend üppiger Er&#x017F;cheinungen dar; die&#x017F;e fe&#x017F;ter, ge&#x017F;ammelter,<note place="right">2</note><lb/>
thatkräftiger treten als Erbauer eines mächtigen Weltreichs in die Ge&#x017F;chichte ein<lb/>
und entfalten allerdings mehr ä&#x017F;theti&#x017F;chen Stoff von &#x017F;ittlichem Gehalte, theils<lb/>
durch ihr inneres Staatsleben, theils durch ihre bedeutungsvollen Kriege mit<lb/>
den Griechen, worin aber auch die&#x017F;e Form orientali&#x017F;cher Erhabenheit an der<lb/>
Freiheit des We&#x017F;tens zer&#x017F;chellt.</hi> </p><lb/>
                    <p> <hi rendition="#et">1. Wir rücken vom Süd-O&#x017F;ten gegen den We&#x017F;ten herüber. Die<lb/>
Chine&#x017F;en fallen weg als mongoli&#x017F;ches Volk; alles Men&#x017F;chliche i&#x017F;t bei<lb/>
ihnen da, aber Alles in Abge&#x017F;chmacktheit verkehrt und es kann nur eine<lb/>
pikante Grille &#x017F;ein, einen Roman in China &#x017F;pielen zu la&#x017F;&#x017F;en. Mit den<lb/>
Indiern und Per&#x017F;ern nun verhält es &#x017F;ich im vorliegenden Ab&#x017F;chnitt umge-<lb/>
kehrt gegen den folgenden (vergl. §. 341 Anm.): im jetzigen bedeuten<lb/>
die Per&#x017F;er mehr, die Indier weniger, jene geben der Ae&#x017F;thetik ge&#x017F;chichtliche<lb/>
Stoffe in Fülle, die&#x017F;e, wenn wir die Schau&#x017F;piele wilder Aus&#x017F;chweifung,<lb/>
trüber A&#x017F;ce&#x017F;e als häßlich aus&#x017F;toßen, nur anmuthige in dem be&#x017F;chränkten<lb/>
Gebiete, worin die Er&#x017F;cheinung &#x017F;eelenvoll empfindender, weicher, üppig<lb/>
genießender Men&#x017F;chheit eingegrenzt i&#x017F;t. Werden wir aber von der eigenen<lb/>
productiven Phanta&#x017F;ie der Völker &#x017F;prechen, &#x017F;o werden die Indier reicher<lb/>
&#x017F;ein, die Per&#x017F;er kaum in Betracht kommen. Die Indier &#x017F;ind &#x017F;elb&#x017F;t ein<lb/>
ä&#x017F;theti&#x017F;ches Volk, ihr träumeri&#x017F;cher Gaukel&#x017F;inn hat keine Ge&#x017F;chichte zu<lb/>
erzeugen vermocht; die&#x017F;es vorzugswei&#x017F;e &#x017F;tabile Reich war nur immer<lb/><hi rendition="#g">ge&#x017F;ucht</hi> (Hegel Philo&#x017F;. der Ge&#x017F;ch. S. 146), mit &#x017F;einen Wundern ein<lb/>
Gegen&#x017F;tand der Sehn&#x017F;ucht für die europäi&#x017F;che Welt, leblos lebte es fort,<lb/>
bis die moderne Ge&#x017F;chichte es erfaßte. Im indi&#x017F;chen Typus i&#x017F;t auch die<lb/>
in §. 343 Anm. <hi rendition="#sub">1</hi> gegebene Zeichnung noch am mei&#x017F;ten in Weichheit<lb/>
zurückgehalten. Der Wuchs i&#x017F;t &#x017F;chlank und gelenkig, wenig muskulös,<lb/>
die Stirne &#x017F;chmal und rund, die Na&#x017F;e fein gebogen, aber nicht die kräftige<lb/>
Adlerna&#x017F;e der übrigen Orientalen, berühmt i&#x017F;t das &#x017F;anfte Gazellen-Auge,<lb/>
Kinn und Unterkiefer drängt &#x017F;ich nicht mit Schärfe vor, &#x017F;ondern weicht<lb/>
leicht und weich zurück. Der genüg&#x017F;ame Genuß der vegetabili&#x017F;chen Ko&#x017F;t,<lb/>
&#x017F;o lange nicht die losbrechende Sinnlichkeit &#x017F;ich auf berau&#x017F;chende Genü&#x017F;&#x017F;e<lb/>
wirft, bezeichnet &#x017F;chon dieß &#x017F;anfte Pflanzenleben, dieß Land &#x201E;wo &#x017F;tille,<lb/>
&#x017F;chöne Men&#x017F;chen vor Lothosblumen knien.&#x201C; Hinter dem Süßen und<lb/>
Weichen liegt aber die ganze Härte des Ka&#x017F;tenwe&#x017F;ens, die ganze An-<lb/>
maßung des Prie&#x017F;ters, die Verachtung, die auf den ehrwürdigen Ständen<lb/>
des Ackerbaus und Gewerbs liegt.</hi> </p><lb/>
                    <p> <hi rendition="#et">2. Schon der kräftigere Bau, das &#x017F;chärfere Profil mit markirterer<lb/>
Ba&#x017F;is des Kinns zeigt an, daß die Per&#x017F;er ein thatkräftigeres, ein han-<lb/></hi> </p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[229/0241] Stamms die Indier und Perſer auf. Jene weich, träumeriſch, bieten ein geſchichtlich ſtoffarmes Wunderland und Zauberreich voll ſüßer, anmuthiger, prächtiger, berauſchend üppiger Erſcheinungen dar; dieſe feſter, geſammelter, thatkräftiger treten als Erbauer eines mächtigen Weltreichs in die Geſchichte ein und entfalten allerdings mehr äſthetiſchen Stoff von ſittlichem Gehalte, theils durch ihr inneres Staatsleben, theils durch ihre bedeutungsvollen Kriege mit den Griechen, worin aber auch dieſe Form orientaliſcher Erhabenheit an der Freiheit des Weſtens zerſchellt. 1. Wir rücken vom Süd-Oſten gegen den Weſten herüber. Die Chineſen fallen weg als mongoliſches Volk; alles Menſchliche iſt bei ihnen da, aber Alles in Abgeſchmacktheit verkehrt und es kann nur eine pikante Grille ſein, einen Roman in China ſpielen zu laſſen. Mit den Indiern und Perſern nun verhält es ſich im vorliegenden Abſchnitt umge- kehrt gegen den folgenden (vergl. §. 341 Anm.): im jetzigen bedeuten die Perſer mehr, die Indier weniger, jene geben der Aeſthetik geſchichtliche Stoffe in Fülle, dieſe, wenn wir die Schauſpiele wilder Ausſchweifung, trüber Aſceſe als häßlich ausſtoßen, nur anmuthige in dem beſchränkten Gebiete, worin die Erſcheinung ſeelenvoll empfindender, weicher, üppig genießender Menſchheit eingegrenzt iſt. Werden wir aber von der eigenen productiven Phantaſie der Völker ſprechen, ſo werden die Indier reicher ſein, die Perſer kaum in Betracht kommen. Die Indier ſind ſelbſt ein äſthetiſches Volk, ihr träumeriſcher Gaukelſinn hat keine Geſchichte zu erzeugen vermocht; dieſes vorzugsweiſe ſtabile Reich war nur immer geſucht (Hegel Philoſ. der Geſch. S. 146), mit ſeinen Wundern ein Gegenſtand der Sehnſucht für die europäiſche Welt, leblos lebte es fort, bis die moderne Geſchichte es erfaßte. Im indiſchen Typus iſt auch die in §. 343 Anm. 1 gegebene Zeichnung noch am meiſten in Weichheit zurückgehalten. Der Wuchs iſt ſchlank und gelenkig, wenig muskulös, die Stirne ſchmal und rund, die Naſe fein gebogen, aber nicht die kräftige Adlernaſe der übrigen Orientalen, berühmt iſt das ſanfte Gazellen-Auge, Kinn und Unterkiefer drängt ſich nicht mit Schärfe vor, ſondern weicht leicht und weich zurück. Der genügſame Genuß der vegetabiliſchen Koſt, ſo lange nicht die losbrechende Sinnlichkeit ſich auf berauſchende Genüſſe wirft, bezeichnet ſchon dieß ſanfte Pflanzenleben, dieß Land „wo ſtille, ſchöne Menſchen vor Lothosblumen knien.“ Hinter dem Süßen und Weichen liegt aber die ganze Härte des Kaſtenweſens, die ganze An- maßung des Prieſters, die Verachtung, die auf den ehrwürdigen Ständen des Ackerbaus und Gewerbs liegt. 2. Schon der kräftigere Bau, das ſchärfere Profil mit markirterer Baſis des Kinns zeigt an, daß die Perſer ein thatkräftigeres, ein han-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/241
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/241>, abgerufen am 03.12.2024.