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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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ungereimt, wohl auch heimtückisch aussieht. Breite erscheint bei verhältniß-
mäßiger Höhe großartig, megalopsukhos, Schmalheit engherzig, dürftig.
Diese ganz wenigen Bemerkungen, die bei jeder weiteren Ausdehnung in
Willkühr verirren könnten, streifen zum Theil an das, was C. G. Carus
(Grundzüge einer neuen und wissenschaftl. begründeten Cranioskopie)
aufgestellt hat. Er verwirft die Organe-Aufsuchung und Betastung und
mißt dafür nur im Großen drei Hauptregionen: Vorderhauptwirbel, die
Hemisphären enthaltend: Region der Intelligenz; Mittelhauptwirbel, die
Vierhügel enthaltend: Region des Gemüths; Hinterhauptwirbel, das kleine
Gehirn umschließend: Region des Wollens und Begehrens. Je nach der
Größe dieser Theile soll das Individuum in einer der genannten Regionen
stark organisirt sein. Unter den drei Dimensionen soll die Ausbildung
dieser Theile in die Länge (Tiefe) von geringerer Dignität, thierähnlich
sein, Höhe eine subjectivere Intensität der je durch den betreffenden Theil
ausgesprochenen Geistesrichtung, Breite eine objectivere, derbere, gröbere
Ausbildung bezeichnen. Physiologie und Psychologie werden wohl gleich
viele Zweifel gegen diese Hypothese haben, während sie doch zugleich viel
Einladendes, der weiteren Ueberlegung Werthes enthält.

Durch die Stirne macht die Cranioskopie den Uebergang zur Betrach-
tung des Angesichts: eigentliche, gewöhnlich so genannte Physiognomik.
Die weichen Formen, die beweglichen Theile sprechen zugleich mit den
festen, kommen jedoch noch nicht nach ihrer wirklichen Bewegung, sondern
nach ihrer ursprünglichen Form in Betracht, wie sie in der Ruhe erscheint.
Die Stirne wird als Theil des Angesichts jetzt zu diesem gezogen. Hier
kommt nun als wichtiges Moment des Ausdrucks auch die Farbe hinzu,
an Haaren, Haut, insbesondere Lippen, Auge. Die Art des Haarwuchses
vergaßen die Alten in ihrer Physiognomik nicht; harte Haare zeigen nach
Aristoteles Muth, weiche Furchtsamkeit an nach der Analogie von Thieren
u. s. w. Es ist ein großer Unterschied, ob ein Gesicht von gelockten oder
straffen Haaren eingefaßt ist, dieses erscheint prosaischer, jenes heiterer,
phantasiereicher, genialer. Beginnen wir nun von der Stirne, so treten
als Hauptformen der Richtung die zurückfliehende, die überhängende, die
gerade, die kuglich gewölbte auf. Die erste Form erscheint schlau und
kühn, die zweite eigensinnig, stößig, die dritte zeigt inneres Ebenmaß an,
die vierte geringe Vernunft. In Betreff der Ausdehnung wird die allzu-
große Höhe und Breite immer dumm aussehen, während eine bedeutende
entschieden die Kraft der Intelligenz auszudrücken scheint; denn den Aus-
druck der Intelligenz überhaupt suchen wir allerdings vornämlich in diesen
oberen Theilen und die eben genannten mehr sittlichen Eigenschaften sind
nach dieser Richtung zu verstehen, so z. B., daß der Eigensinn in seiner
theoretischen Wurzel, der Zähheit des Denkens, die keine Dialektik

Vischer's Aesthetik. 2. Band. 14

ungereimt, wohl auch heimtückiſch ausſieht. Breite erſcheint bei verhältniß-
mäßiger Höhe großartig, μεγαλόψυχος, Schmalheit engherzig, dürftig.
Dieſe ganz wenigen Bemerkungen, die bei jeder weiteren Ausdehnung in
Willkühr verirren könnten, ſtreifen zum Theil an das, was C. G. Carus
(Grundzüge einer neuen und wiſſenſchaftl. begründeten Cranioſkopie)
aufgeſtellt hat. Er verwirft die Organe-Aufſuchung und Betaſtung und
mißt dafür nur im Großen drei Hauptregionen: Vorderhauptwirbel, die
Hemiſphären enthaltend: Region der Intelligenz; Mittelhauptwirbel, die
Vierhügel enthaltend: Region des Gemüths; Hinterhauptwirbel, das kleine
Gehirn umſchließend: Region des Wollens und Begehrens. Je nach der
Größe dieſer Theile ſoll das Individuum in einer der genannten Regionen
ſtark organiſirt ſein. Unter den drei Dimenſionen ſoll die Ausbildung
dieſer Theile in die Länge (Tiefe) von geringerer Dignität, thierähnlich
ſein, Höhe eine ſubjectivere Intenſität der je durch den betreffenden Theil
ausgeſprochenen Geiſtesrichtung, Breite eine objectivere, derbere, gröbere
Ausbildung bezeichnen. Phyſiologie und Pſychologie werden wohl gleich
viele Zweifel gegen dieſe Hypotheſe haben, während ſie doch zugleich viel
Einladendes, der weiteren Ueberlegung Werthes enthält.

Durch die Stirne macht die Cranioſkopie den Uebergang zur Betrach-
tung des Angeſichts: eigentliche, gewöhnlich ſo genannte Phyſiognomik.
Die weichen Formen, die beweglichen Theile ſprechen zugleich mit den
feſten, kommen jedoch noch nicht nach ihrer wirklichen Bewegung, ſondern
nach ihrer urſprünglichen Form in Betracht, wie ſie in der Ruhe erſcheint.
Die Stirne wird als Theil des Angeſichts jetzt zu dieſem gezogen. Hier
kommt nun als wichtiges Moment des Ausdrucks auch die Farbe hinzu,
an Haaren, Haut, insbeſondere Lippen, Auge. Die Art des Haarwuchſes
vergaßen die Alten in ihrer Phyſiognomik nicht; harte Haare zeigen nach
Ariſtoteles Muth, weiche Furchtſamkeit an nach der Analogie von Thieren
u. ſ. w. Es iſt ein großer Unterſchied, ob ein Geſicht von gelockten oder
ſtraffen Haaren eingefaßt iſt, dieſes erſcheint proſaiſcher, jenes heiterer,
phantaſiereicher, genialer. Beginnen wir nun von der Stirne, ſo treten
als Hauptformen der Richtung die zurückfliehende, die überhängende, die
gerade, die kuglich gewölbte auf. Die erſte Form erſcheint ſchlau und
kühn, die zweite eigenſinnig, ſtößig, die dritte zeigt inneres Ebenmaß an,
die vierte geringe Vernunft. In Betreff der Ausdehnung wird die allzu-
große Höhe und Breite immer dumm ausſehen, während eine bedeutende
entſchieden die Kraft der Intelligenz auszudrücken ſcheint; denn den Aus-
druck der Intelligenz überhaupt ſuchen wir allerdings vornämlich in dieſen
oberen Theilen und die eben genannten mehr ſittlichen Eigenſchaften ſind
nach dieſer Richtung zu verſtehen, ſo z. B., daß der Eigenſinn in ſeiner
theoretiſchen Wurzel, der Zähheit des Denkens, die keine Dialektik

Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 14
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[209/0221] ungereimt, wohl auch heimtückiſch ausſieht. Breite erſcheint bei verhältniß- mäßiger Höhe großartig, μεγαλόψυχος, Schmalheit engherzig, dürftig. Dieſe ganz wenigen Bemerkungen, die bei jeder weiteren Ausdehnung in Willkühr verirren könnten, ſtreifen zum Theil an das, was C. G. Carus (Grundzüge einer neuen und wiſſenſchaftl. begründeten Cranioſkopie) aufgeſtellt hat. Er verwirft die Organe-Aufſuchung und Betaſtung und mißt dafür nur im Großen drei Hauptregionen: Vorderhauptwirbel, die Hemiſphären enthaltend: Region der Intelligenz; Mittelhauptwirbel, die Vierhügel enthaltend: Region des Gemüths; Hinterhauptwirbel, das kleine Gehirn umſchließend: Region des Wollens und Begehrens. Je nach der Größe dieſer Theile ſoll das Individuum in einer der genannten Regionen ſtark organiſirt ſein. Unter den drei Dimenſionen ſoll die Ausbildung dieſer Theile in die Länge (Tiefe) von geringerer Dignität, thierähnlich ſein, Höhe eine ſubjectivere Intenſität der je durch den betreffenden Theil ausgeſprochenen Geiſtesrichtung, Breite eine objectivere, derbere, gröbere Ausbildung bezeichnen. Phyſiologie und Pſychologie werden wohl gleich viele Zweifel gegen dieſe Hypotheſe haben, während ſie doch zugleich viel Einladendes, der weiteren Ueberlegung Werthes enthält. Durch die Stirne macht die Cranioſkopie den Uebergang zur Betrach- tung des Angeſichts: eigentliche, gewöhnlich ſo genannte Phyſiognomik. Die weichen Formen, die beweglichen Theile ſprechen zugleich mit den feſten, kommen jedoch noch nicht nach ihrer wirklichen Bewegung, ſondern nach ihrer urſprünglichen Form in Betracht, wie ſie in der Ruhe erſcheint. Die Stirne wird als Theil des Angeſichts jetzt zu dieſem gezogen. Hier kommt nun als wichtiges Moment des Ausdrucks auch die Farbe hinzu, an Haaren, Haut, insbeſondere Lippen, Auge. Die Art des Haarwuchſes vergaßen die Alten in ihrer Phyſiognomik nicht; harte Haare zeigen nach Ariſtoteles Muth, weiche Furchtſamkeit an nach der Analogie von Thieren u. ſ. w. Es iſt ein großer Unterſchied, ob ein Geſicht von gelockten oder ſtraffen Haaren eingefaßt iſt, dieſes erſcheint proſaiſcher, jenes heiterer, phantaſiereicher, genialer. Beginnen wir nun von der Stirne, ſo treten als Hauptformen der Richtung die zurückfliehende, die überhängende, die gerade, die kuglich gewölbte auf. Die erſte Form erſcheint ſchlau und kühn, die zweite eigenſinnig, ſtößig, die dritte zeigt inneres Ebenmaß an, die vierte geringe Vernunft. In Betreff der Ausdehnung wird die allzu- große Höhe und Breite immer dumm ausſehen, während eine bedeutende entſchieden die Kraft der Intelligenz auszudrücken ſcheint; denn den Aus- druck der Intelligenz überhaupt ſuchen wir allerdings vornämlich in dieſen oberen Theilen und die eben genannten mehr ſittlichen Eigenſchaften ſind nach dieſer Richtung zu verſtehen, ſo z. B., daß der Eigenſinn in ſeiner theoretiſchen Wurzel, der Zähheit des Denkens, die keine Dialektik Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 14

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/221>, abgerufen am 23.11.2024.