Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

scheinen vorzüglich Würde ansprechen zu dürfen, die Ersteren um der
rein geistigen Beschäftigung willen, die anderen, weil ihnen zugleich mehr
oder weniger Macht beiwohnt. Allein ihr Geschäft zieht sie von der
Natur ab und sie sind die eigentlichen Philister, daher ästhetisch entweder sehr
wenig oder besonders im komischen Sinne brauchbar. Den Gelehrten fehlt
außer dem körperlichen Schwung häufig der praktische Blick. Aerzte ver-
kehren mit der Natur in einer Weise, die sie gern zu Cynikern macht
(Katzenberger). Schulleute sind meist hochweis. Der Beamte verknöchert
zum Subalternen nach der Schnur, zum Bureaukraten; Amtsstubengeruch.
Den auf freieres Handeln gestellten Staatsmann mag Antonio in Göthe's
Tasso charakterisiren und der Held dieses Dramas den Dichter (und Künstler),
wie er das Vorrecht genießt, vom Athem der Freiheit umgeben zu sein,
den die Beschäftigung mit dem Schönen haucht, aber darüber leicht
launenhaft, eitel, empfindlich, unordentlich wird. -- In diesem flüchtigen
Ueberblick über die Stände sind bloß diejenigen genannt, welche alle
Staatseinrichtung mit sich bringt, nicht die rein historischen: Adel und
Gipfel des Adels Fürst, Geistlichkeit und Soldat. Alle diese Stände sind
nicht allgemeiner, rationaler Art, Adel und Fürstenthum ruht auf Geburts-
vorrecht, Clerus auf positiver Offenbarung und der Kriegerstand behauptet
sich in strengem Zusammenhang mit dem Positiven ebenfalls als exceptionell.
Es ist schon zu §. 327, 4. gesagt, daß ein besonderer Stand der Krieger nicht
rationell ist. Alle diese Stände gehören also nur in die geschichtliche Schönheit.

2. Soll nun ein Staatsleben schön sein, so muß Flüssigkeit des
allgemein Menschlichen die Beschränktheit dieser Standes-Gepräge er-
mäßigen. In Italien ist der Bauer fein und spricht gebildet, der Schneider
und Schuster hat den verhockten Handwerkstempel nicht, Beamte und
Gelehrte sind nicht Philister. Hier erleichtert die Nace, der Himmel,
aber auch die republicanische Vergangenheit. Am meisten bei nördlichen
Völkern sind diese Vortheile durch ein Thun zu ersetzen. Bildung zum
Kriege, also die Gymnastik, jedoch mit dem Reiz und Interesse der
militärischen Uebung, ist Hauptmittel, nicht nur wegen der Veredlung der
Formen an sich, sondern wegen des geistigen Schwunges, den sie gibt,
wenn sie nicht Dressur von Söldnern ist. Sokrates kämpfte tapfer,
Zwingli fiel in der Schlacht. Johannes Osiander commandirte Regimenter;
solche Gelehrte sind Menschen. Es versteht sich, daß freies Staatsleben
noch andere wichtigere Hebel der Verbreitung ganzen menschlichen Lebens
mit sich führt, der genannte aber ist erste Bedingung, ist überall zuerst
vorausgesetzt. In Hermann und Dorothea erscheint der Geistliche würdig
durch hellen und edlen Sinn, aber mit poetischem Takte erzählt der
Dichter, daß er Pferde wohl zu lenken wußte; der Philister des Gedichtes,
der Apotheker, glaubt es nicht und sitzt zum Sprunge gerüstet.


ſcheinen vorzüglich Würde anſprechen zu dürfen, die Erſteren um der
rein geiſtigen Beſchäftigung willen, die anderen, weil ihnen zugleich mehr
oder weniger Macht beiwohnt. Allein ihr Geſchäft zieht ſie von der
Natur ab und ſie ſind die eigentlichen Philiſter, daher äſthetiſch entweder ſehr
wenig oder beſonders im komiſchen Sinne brauchbar. Den Gelehrten fehlt
außer dem körperlichen Schwung häufig der praktiſche Blick. Aerzte ver-
kehren mit der Natur in einer Weiſe, die ſie gern zu Cynikern macht
(Katzenberger). Schulleute ſind meiſt hochweis. Der Beamte verknöchert
zum Subalternen nach der Schnur, zum Bureaukraten; Amtsſtubengeruch.
Den auf freieres Handeln geſtellten Staatsmann mag Antonio in Göthe’s
Taſſo charakteriſiren und der Held dieſes Dramas den Dichter (und Künſtler),
wie er das Vorrecht genießt, vom Athem der Freiheit umgeben zu ſein,
den die Beſchäftigung mit dem Schönen haucht, aber darüber leicht
launenhaft, eitel, empfindlich, unordentlich wird. — In dieſem flüchtigen
Ueberblick über die Stände ſind bloß diejenigen genannt, welche alle
Staatseinrichtung mit ſich bringt, nicht die rein hiſtoriſchen: Adel und
Gipfel des Adels Fürſt, Geiſtlichkeit und Soldat. Alle dieſe Stände ſind
nicht allgemeiner, rationaler Art, Adel und Fürſtenthum ruht auf Geburts-
vorrecht, Clerus auf poſitiver Offenbarung und der Kriegerſtand behauptet
ſich in ſtrengem Zuſammenhang mit dem Poſitiven ebenfalls als exceptionell.
Es iſt ſchon zu §. 327, 4. geſagt, daß ein beſonderer Stand der Krieger nicht
rationell iſt. Alle dieſe Stände gehören alſo nur in die geſchichtliche Schönheit.

2. Soll nun ein Staatsleben ſchön ſein, ſo muß Flüſſigkeit des
allgemein Menſchlichen die Beſchränktheit dieſer Standes-Gepräge er-
mäßigen. In Italien iſt der Bauer fein und ſpricht gebildet, der Schneider
und Schuſter hat den verhockten Handwerkſtempel nicht, Beamte und
Gelehrte ſind nicht Philiſter. Hier erleichtert die Nace, der Himmel,
aber auch die republicaniſche Vergangenheit. Am meiſten bei nördlichen
Völkern ſind dieſe Vortheile durch ein Thun zu erſetzen. Bildung zum
Kriege, alſo die Gymnaſtik, jedoch mit dem Reiz und Intereſſe der
militäriſchen Uebung, iſt Hauptmittel, nicht nur wegen der Veredlung der
Formen an ſich, ſondern wegen des geiſtigen Schwunges, den ſie gibt,
wenn ſie nicht Dreſſur von Söldnern iſt. Sokrates kämpfte tapfer,
Zwingli fiel in der Schlacht. Johannes Oſiander commandirte Regimenter;
ſolche Gelehrte ſind Menſchen. Es verſteht ſich, daß freies Staatsleben
noch andere wichtigere Hebel der Verbreitung ganzen menſchlichen Lebens
mit ſich führt, der genannte aber iſt erſte Bedingung, iſt überall zuerſt
vorausgeſetzt. In Hermann und Dorothea erſcheint der Geiſtliche würdig
durch hellen und edlen Sinn, aber mit poetiſchem Takte erzählt der
Dichter, daß er Pferde wohl zu lenken wußte; der Philiſter des Gedichtes,
der Apotheker, glaubt es nicht und ſitzt zum Sprunge gerüſtet.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0204" n="192"/>
&#x017F;cheinen vorzüglich Würde an&#x017F;prechen zu dürfen, die Er&#x017F;teren um der<lb/>
rein gei&#x017F;tigen Be&#x017F;chäftigung willen, die anderen, weil ihnen zugleich mehr<lb/>
oder weniger Macht beiwohnt. Allein ihr Ge&#x017F;chäft zieht &#x017F;ie von der<lb/>
Natur ab und &#x017F;ie &#x017F;ind die eigentlichen Phili&#x017F;ter, daher ä&#x017F;theti&#x017F;ch entweder &#x017F;ehr<lb/>
wenig oder be&#x017F;onders im komi&#x017F;chen Sinne brauchbar. Den Gelehrten fehlt<lb/>
außer dem körperlichen Schwung häufig der prakti&#x017F;che Blick. Aerzte ver-<lb/>
kehren mit der Natur in einer Wei&#x017F;e, die &#x017F;ie gern zu Cynikern macht<lb/>
(Katzenberger). Schulleute &#x017F;ind mei&#x017F;t hochweis. Der Beamte verknöchert<lb/>
zum Subalternen nach der Schnur, zum Bureaukraten; Amts&#x017F;tubengeruch.<lb/>
Den auf freieres Handeln ge&#x017F;tellten Staatsmann mag Antonio in Göthe&#x2019;s<lb/>
Ta&#x017F;&#x017F;o charakteri&#x017F;iren und der Held die&#x017F;es Dramas den Dichter (und Kün&#x017F;tler),<lb/>
wie er das Vorrecht genießt, vom Athem der Freiheit umgeben zu &#x017F;ein,<lb/>
den die Be&#x017F;chäftigung mit dem Schönen haucht, aber darüber leicht<lb/>
launenhaft, eitel, empfindlich, unordentlich wird. &#x2014; In die&#x017F;em flüchtigen<lb/>
Ueberblick über die Stände &#x017F;ind bloß diejenigen genannt, welche alle<lb/>
Staatseinrichtung mit &#x017F;ich bringt, nicht die rein hi&#x017F;tori&#x017F;chen: Adel und<lb/>
Gipfel des Adels Für&#x017F;t, Gei&#x017F;tlichkeit und Soldat. Alle die&#x017F;e Stände &#x017F;ind<lb/>
nicht allgemeiner, rationaler Art, Adel und Für&#x017F;tenthum ruht auf Geburts-<lb/>
vorrecht, Clerus auf po&#x017F;itiver Offenbarung und der Krieger&#x017F;tand behauptet<lb/>
&#x017F;ich in &#x017F;trengem Zu&#x017F;ammenhang mit dem Po&#x017F;itiven ebenfalls als exceptionell.<lb/>
Es i&#x017F;t &#x017F;chon zu §. 327, 4. ge&#x017F;agt, daß ein be&#x017F;onderer Stand der Krieger nicht<lb/>
rationell i&#x017F;t. Alle die&#x017F;e Stände gehören al&#x017F;o nur in die ge&#x017F;chichtliche Schönheit.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">2. Soll nun ein Staatsleben &#x017F;chön &#x017F;ein, &#x017F;o muß Flü&#x017F;&#x017F;igkeit des<lb/>
allgemein Men&#x017F;chlichen die Be&#x017F;chränktheit die&#x017F;er Standes-Gepräge er-<lb/>
mäßigen. In Italien i&#x017F;t der Bauer fein und &#x017F;pricht gebildet, der Schneider<lb/>
und Schu&#x017F;ter hat den verhockten Handwerk&#x017F;tempel nicht, Beamte und<lb/>
Gelehrte &#x017F;ind nicht Phili&#x017F;ter. Hier erleichtert die Nace, der Himmel,<lb/>
aber auch die republicani&#x017F;che Vergangenheit. Am mei&#x017F;ten bei nördlichen<lb/>
Völkern &#x017F;ind die&#x017F;e Vortheile durch ein Thun zu er&#x017F;etzen. Bildung zum<lb/>
Kriege, al&#x017F;o die Gymna&#x017F;tik, jedoch mit dem Reiz und Intere&#x017F;&#x017F;e der<lb/>
militäri&#x017F;chen Uebung, i&#x017F;t Hauptmittel, nicht nur wegen der Veredlung der<lb/>
Formen an &#x017F;ich, &#x017F;ondern wegen des gei&#x017F;tigen Schwunges, den &#x017F;ie gibt,<lb/>
wenn &#x017F;ie nicht Dre&#x017F;&#x017F;ur von Söldnern i&#x017F;t. Sokrates kämpfte tapfer,<lb/>
Zwingli fiel in der Schlacht. Johannes O&#x017F;iander commandirte Regimenter;<lb/>
&#x017F;olche Gelehrte &#x017F;ind Men&#x017F;chen. Es ver&#x017F;teht &#x017F;ich, daß freies Staatsleben<lb/>
noch andere wichtigere Hebel der Verbreitung ganzen men&#x017F;chlichen Lebens<lb/>
mit &#x017F;ich führt, der genannte aber i&#x017F;t er&#x017F;te Bedingung, i&#x017F;t überall zuer&#x017F;t<lb/>
vorausge&#x017F;etzt. In Hermann und Dorothea er&#x017F;cheint der Gei&#x017F;tliche würdig<lb/>
durch hellen und edlen Sinn, aber mit poeti&#x017F;chem Takte erzählt der<lb/>
Dichter, daß er Pferde wohl zu lenken wußte; der Phili&#x017F;ter des Gedichtes,<lb/>
der Apotheker, glaubt es nicht und &#x017F;itzt zum Sprunge gerü&#x017F;tet.</hi> </p>
                </div>
              </div><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[192/0204] ſcheinen vorzüglich Würde anſprechen zu dürfen, die Erſteren um der rein geiſtigen Beſchäftigung willen, die anderen, weil ihnen zugleich mehr oder weniger Macht beiwohnt. Allein ihr Geſchäft zieht ſie von der Natur ab und ſie ſind die eigentlichen Philiſter, daher äſthetiſch entweder ſehr wenig oder beſonders im komiſchen Sinne brauchbar. Den Gelehrten fehlt außer dem körperlichen Schwung häufig der praktiſche Blick. Aerzte ver- kehren mit der Natur in einer Weiſe, die ſie gern zu Cynikern macht (Katzenberger). Schulleute ſind meiſt hochweis. Der Beamte verknöchert zum Subalternen nach der Schnur, zum Bureaukraten; Amtsſtubengeruch. Den auf freieres Handeln geſtellten Staatsmann mag Antonio in Göthe’s Taſſo charakteriſiren und der Held dieſes Dramas den Dichter (und Künſtler), wie er das Vorrecht genießt, vom Athem der Freiheit umgeben zu ſein, den die Beſchäftigung mit dem Schönen haucht, aber darüber leicht launenhaft, eitel, empfindlich, unordentlich wird. — In dieſem flüchtigen Ueberblick über die Stände ſind bloß diejenigen genannt, welche alle Staatseinrichtung mit ſich bringt, nicht die rein hiſtoriſchen: Adel und Gipfel des Adels Fürſt, Geiſtlichkeit und Soldat. Alle dieſe Stände ſind nicht allgemeiner, rationaler Art, Adel und Fürſtenthum ruht auf Geburts- vorrecht, Clerus auf poſitiver Offenbarung und der Kriegerſtand behauptet ſich in ſtrengem Zuſammenhang mit dem Poſitiven ebenfalls als exceptionell. Es iſt ſchon zu §. 327, 4. geſagt, daß ein beſonderer Stand der Krieger nicht rationell iſt. Alle dieſe Stände gehören alſo nur in die geſchichtliche Schönheit. 2. Soll nun ein Staatsleben ſchön ſein, ſo muß Flüſſigkeit des allgemein Menſchlichen die Beſchränktheit dieſer Standes-Gepräge er- mäßigen. In Italien iſt der Bauer fein und ſpricht gebildet, der Schneider und Schuſter hat den verhockten Handwerkſtempel nicht, Beamte und Gelehrte ſind nicht Philiſter. Hier erleichtert die Nace, der Himmel, aber auch die republicaniſche Vergangenheit. Am meiſten bei nördlichen Völkern ſind dieſe Vortheile durch ein Thun zu erſetzen. Bildung zum Kriege, alſo die Gymnaſtik, jedoch mit dem Reiz und Intereſſe der militäriſchen Uebung, iſt Hauptmittel, nicht nur wegen der Veredlung der Formen an ſich, ſondern wegen des geiſtigen Schwunges, den ſie gibt, wenn ſie nicht Dreſſur von Söldnern iſt. Sokrates kämpfte tapfer, Zwingli fiel in der Schlacht. Johannes Oſiander commandirte Regimenter; ſolche Gelehrte ſind Menſchen. Es verſteht ſich, daß freies Staatsleben noch andere wichtigere Hebel der Verbreitung ganzen menſchlichen Lebens mit ſich führt, der genannte aber iſt erſte Bedingung, iſt überall zuerſt vorausgeſetzt. In Hermann und Dorothea erſcheint der Geiſtliche würdig durch hellen und edlen Sinn, aber mit poetiſchem Takte erzählt der Dichter, daß er Pferde wohl zu lenken wußte; der Philiſter des Gedichtes, der Apotheker, glaubt es nicht und ſitzt zum Sprunge gerüſtet.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/204
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/204>, abgerufen am 21.11.2024.