Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
Natur zu karg ist, so daß der Menschengeist im Kampfe mit ihr, während
Natur zu karg iſt, ſo daß der Menſchengeiſt im Kampfe mit ihr, während <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0195" n="183"/> Natur zu karg iſt, ſo daß der Menſchengeiſt im Kampfe mit ihr, während<lb/> er zunächſt durch dieſen Kampf ſeine Freiheit zu bethätigen ſcheint, viel-<lb/> mehr durch die ewige Noth der Mühe ganz Knecht der Natur wird,<lb/> wobei nothwendig auch ſeine Geſtalt verkümmert; aber bis zu dieſem<lb/> Extrem hin gibt es manche, immer noch äſthetiſche Stufen. Der andere<lb/> Fall tritt ein, wo die Natur ſo freigebig iſt, daß ſie der Thätigkeit zu<lb/> wenig übrig läßt, wo ebendaher auch die Geſtalt in’s Thierähnliche<lb/> wuchert; auch hier gibt es jedoch bis an die unäſthetiſche Grenze reichliche<lb/> Uebergänge. In dem Spielraum aber, der bis an dieſe Grenze geht,<lb/> tritt auf beiden Seiten wieder eine doppelte Neigung zu einer andern<lb/> Ueberſchreitung der Grenze ein: zunächſt nämlich wird der Menſch in<lb/> beiden Fällen zu wenig thun, um den Formen die zum Aeſthetiſchen<lb/> nöthige Leichtigkeit und Fülle zu geben, ſie ſind zu hart und ſteif im<lb/> Norden, zu nackt im heißen Oſten; aber mit beiden Mängeln iſt zugleich<lb/> eine begreifliche Neigung vorhanden, zu viel zu thun, von der Kargheit<lb/> und Nacktheit in einen abentheuerlichen Ueberfluß überzugehen: da wird<lb/> alſo die geforderte Einfachheit überſchritten. Beiſpiele werden ſich ſogleich<lb/> bei der Tracht zeigen. Hier iſt zunächſt die Rede von einem localen,<lb/> durch die äußere Natur bedingten Mangel oder unſchönen Ueberfluß; es<lb/> tritt nun aber als weiterer Punkt der Unterſchied der Culturperioden ein.<lb/> Vor dem Uebergang aus der Wildheit in die erſte, jugendliche Bildung<lb/> wird jener Mangel und Ueberfluß auch bei denjenigen Völkern Statt finden,<lb/> welche eine gemäßigte Zone zur rechten Mitte, zum ſchönen Gleichgewichte<lb/> führt. Dann tritt die geforderte jugendliche und mittlere Bildung ein.<lb/> Dieſe Culturperiode erreichen natürlich die begünſtigten Völker am leichteſten,<lb/> die von der Natur zu wenig oder zu reichlich begünſtigten folgen ihnen<lb/> ſchwer und kurz. In dieſer Bildung nun, welche Natur bleibt, blühen die<lb/> im §. geforderten Formen, welche eine zugleich geiſtig gebildete und doch<lb/> ſinnlich lebendige, edel einfache Erſcheinung darbieten. <hi rendition="#g">Hegel</hi> gibt darüber<lb/> (Aeſth. B. 1, S. 335 ff. u. a. and. Stellen) bekanntlich vortreffliche<lb/> Bemerkungen. Es ſind Formen, welche die Bearbeitung der Natur, die<lb/> Bewegung in ihr, die Herbeiſchaffung des Nöthigen und Angenehmen ſo<lb/> weit erleichtern, daß der Anblick der gemeinen Noth verſchwindet, aber<lb/> nicht bis zu der Grenze, wo die lebendige Perſönlichkeit ſich zurückzieht,<lb/> die Maſchine arbeiten läßt, ihre Genüſſe zur Raffinerie ſteigert. Die<lb/> Geſchichte, wenn wir ſie mit den Culturformen zuſammenfaſſen, wird dieß<lb/> Alles ins Licht ſetzen. — Durch eine ſolche Mitte von Natur und<lb/> Bildung ſind die in §. 23, <hi rendition="#sub">2</hi>. in Ausſicht geſtellten Bedingungen, unter<lb/> welchen das Zweckmäßige ſchön wird, erfüllt. Es heißt dort zunächſt:<lb/> „wenn von den höheren Zwecken, die als Selbſtzwecke den Mittelpunkt<lb/> einer Perſönlichkeit bilden können, abgeſehen und die perſönliche Welt<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [183/0195]
Natur zu karg iſt, ſo daß der Menſchengeiſt im Kampfe mit ihr, während
er zunächſt durch dieſen Kampf ſeine Freiheit zu bethätigen ſcheint, viel-
mehr durch die ewige Noth der Mühe ganz Knecht der Natur wird,
wobei nothwendig auch ſeine Geſtalt verkümmert; aber bis zu dieſem
Extrem hin gibt es manche, immer noch äſthetiſche Stufen. Der andere
Fall tritt ein, wo die Natur ſo freigebig iſt, daß ſie der Thätigkeit zu
wenig übrig läßt, wo ebendaher auch die Geſtalt in’s Thierähnliche
wuchert; auch hier gibt es jedoch bis an die unäſthetiſche Grenze reichliche
Uebergänge. In dem Spielraum aber, der bis an dieſe Grenze geht,
tritt auf beiden Seiten wieder eine doppelte Neigung zu einer andern
Ueberſchreitung der Grenze ein: zunächſt nämlich wird der Menſch in
beiden Fällen zu wenig thun, um den Formen die zum Aeſthetiſchen
nöthige Leichtigkeit und Fülle zu geben, ſie ſind zu hart und ſteif im
Norden, zu nackt im heißen Oſten; aber mit beiden Mängeln iſt zugleich
eine begreifliche Neigung vorhanden, zu viel zu thun, von der Kargheit
und Nacktheit in einen abentheuerlichen Ueberfluß überzugehen: da wird
alſo die geforderte Einfachheit überſchritten. Beiſpiele werden ſich ſogleich
bei der Tracht zeigen. Hier iſt zunächſt die Rede von einem localen,
durch die äußere Natur bedingten Mangel oder unſchönen Ueberfluß; es
tritt nun aber als weiterer Punkt der Unterſchied der Culturperioden ein.
Vor dem Uebergang aus der Wildheit in die erſte, jugendliche Bildung
wird jener Mangel und Ueberfluß auch bei denjenigen Völkern Statt finden,
welche eine gemäßigte Zone zur rechten Mitte, zum ſchönen Gleichgewichte
führt. Dann tritt die geforderte jugendliche und mittlere Bildung ein.
Dieſe Culturperiode erreichen natürlich die begünſtigten Völker am leichteſten,
die von der Natur zu wenig oder zu reichlich begünſtigten folgen ihnen
ſchwer und kurz. In dieſer Bildung nun, welche Natur bleibt, blühen die
im §. geforderten Formen, welche eine zugleich geiſtig gebildete und doch
ſinnlich lebendige, edel einfache Erſcheinung darbieten. Hegel gibt darüber
(Aeſth. B. 1, S. 335 ff. u. a. and. Stellen) bekanntlich vortreffliche
Bemerkungen. Es ſind Formen, welche die Bearbeitung der Natur, die
Bewegung in ihr, die Herbeiſchaffung des Nöthigen und Angenehmen ſo
weit erleichtern, daß der Anblick der gemeinen Noth verſchwindet, aber
nicht bis zu der Grenze, wo die lebendige Perſönlichkeit ſich zurückzieht,
die Maſchine arbeiten läßt, ihre Genüſſe zur Raffinerie ſteigert. Die
Geſchichte, wenn wir ſie mit den Culturformen zuſammenfaſſen, wird dieß
Alles ins Licht ſetzen. — Durch eine ſolche Mitte von Natur und
Bildung ſind die in §. 23, 2. in Ausſicht geſtellten Bedingungen, unter
welchen das Zweckmäßige ſchön wird, erfüllt. Es heißt dort zunächſt:
„wenn von den höheren Zwecken, die als Selbſtzwecke den Mittelpunkt
einer Perſönlichkeit bilden können, abgeſehen und die perſönliche Welt
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