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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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ihm pfeife, und Liebe zur Musik wird ihm selbst von Naturforschern noch
nachgerühmt. Auch die Arionsage lebt noch; man glaubt, daß er Schiff-
brüchige rette, nur solche nicht, die Delphinfleisch gegessen. Anhänglichkeit
an den Menschen, die er außer der bekannten Anhänglichkeit und Sympathie
im Unglück für seines Gleichen zeigt, ist die höchste thierische Eigenschaft;
es ist der beruhigendste, erheiterndste Eindruck, nach einem Sturme bei
noch empörtem Meere diese edlen Thiere um das Schiff scherzen zu sehen,
im wilden Elemente selbst das wunderbar befreundete Thier zu erblicken. --
Die Natur geht aber noch ganz andere Wege, um den Werth der inneren
Organisation und des Thuns mit der äußeren Form in Einklang zu bringen.

§. 302.

Unter den Amphibien tritt auf der untersten Stufe die unheimliche1
Schlange auf. Ausgebildeter erscheinen durch kurze Bewegungsorgane der2
widerliche Molch, die theils zierliche, theils furchtbar häßliche Eidechse. In3
dem verkürzten, schwanzlosen Leibe der Kröte und noch mehr des weniger miß-
farbigen Frosches, dessen längere Hinterfüße zugleich zum Sprunge dienen, dessen
Stimme ein beseelteres Wesen verräth, wird die Häßlichkeit des Amphibiums komisch.

1. Alle Völker haben in der Schlange etwas Unheimliches gesehen,
jedes Gefühl sträubt sich vor ihr und der Gedanke an eine trügerische
dunkle Macht liegt durchaus nahe. Zunächst muß der Grund davon in
dem Widerspruch liegen, der zwischen der unläugbaren Schönheit der
Bewegungen, Farben und zwischen der zerstörenden Kraft der Muskel,
Zähne, insbesondere der Giftzähne besteht. Allein dieß ist nicht Alles;
man würde die Schlangen vielleicht selbst dann für giftig halten, wenn
man es auch nicht aus Erfahrung wüßte. Die Linien der Bewegung sind
zwar schön, aber nur in ganz abstractem Sinne; als Bewegungsweise
eines verhältnißmäßig schon bedeutend organisirten Landthiers ist dieses
sich Schieben durch Spiralbewegungen der Muskel an sich schon äußerst
unheimlich: ein Mißverhältniß, ein Gehen ohne Gang, ein Nahen ohne
Füße, geisterhaft. Erst durch die Geräuschlosigkeit und scheinbare Mittel-
losigkeit der Annäherung wird der gefährliche Anfall doppelt fürchterlich.
Die Farbenpracht erhöht den Eindruck der Falschheit. Neben dem Biß ist
das Zusammenschnüren des Opfers qualvoll beängstigend; man denke an
den Laokoon.

2. Ein langer, geschwänzter Körper wird auf kurzen Füßen wie ein
Block fortgeschoben; zu dieser häßlichen Form und Bewegung kommt bei
dem Molche die Trägheit, die nackte, klebrige, mißfarbige Haut. Dagegen
mag die rasche Lazerte manchem individuellen Gefühle zwar ebenfalls

ihm pfeife, und Liebe zur Muſik wird ihm ſelbſt von Naturforſchern noch
nachgerühmt. Auch die Arionſage lebt noch; man glaubt, daß er Schiff-
brüchige rette, nur ſolche nicht, die Delphinfleiſch gegeſſen. Anhänglichkeit
an den Menſchen, die er außer der bekannten Anhänglichkeit und Sympathie
im Unglück für ſeines Gleichen zeigt, iſt die höchſte thieriſche Eigenſchaft;
es iſt der beruhigendſte, erheiterndſte Eindruck, nach einem Sturme bei
noch empörtem Meere dieſe edlen Thiere um das Schiff ſcherzen zu ſehen,
im wilden Elemente ſelbſt das wunderbar befreundete Thier zu erblicken. —
Die Natur geht aber noch ganz andere Wege, um den Werth der inneren
Organiſation und des Thuns mit der äußeren Form in Einklang zu bringen.

§. 302.

Unter den Amphibien tritt auf der unterſten Stufe die unheimliche1
Schlange auf. Ausgebildeter erſcheinen durch kurze Bewegungsorgane der2
widerliche Molch, die theils zierliche, theils furchtbar häßliche Eidechſe. In3
dem verkürzten, ſchwanzloſen Leibe der Kröte und noch mehr des weniger miß-
farbigen Froſches, deſſen längere Hinterfüße zugleich zum Sprunge dienen, deſſen
Stimme ein beſeelteres Weſen verräth, wird die Häßlichkeit des Amphibiums komiſch.

1. Alle Völker haben in der Schlange etwas Unheimliches geſehen,
jedes Gefühl ſträubt ſich vor ihr und der Gedanke an eine trügeriſche
dunkle Macht liegt durchaus nahe. Zunächſt muß der Grund davon in
dem Widerſpruch liegen, der zwiſchen der unläugbaren Schönheit der
Bewegungen, Farben und zwiſchen der zerſtörenden Kraft der Muskel,
Zähne, insbeſondere der Giftzähne beſteht. Allein dieß iſt nicht Alles;
man würde die Schlangen vielleicht ſelbſt dann für giftig halten, wenn
man es auch nicht aus Erfahrung wüßte. Die Linien der Bewegung ſind
zwar ſchön, aber nur in ganz abſtractem Sinne; als Bewegungsweiſe
eines verhältnißmäßig ſchon bedeutend organiſirten Landthiers iſt dieſes
ſich Schieben durch Spiralbewegungen der Muskel an ſich ſchon äußerſt
unheimlich: ein Mißverhältniß, ein Gehen ohne Gang, ein Nahen ohne
Füße, geiſterhaft. Erſt durch die Geräuſchloſigkeit und ſcheinbare Mittel-
loſigkeit der Annäherung wird der gefährliche Anfall doppelt fürchterlich.
Die Farbenpracht erhöht den Eindruck der Falſchheit. Neben dem Biß iſt
das Zuſammenſchnüren des Opfers qualvoll beängſtigend; man denke an
den Laokoon.

2. Ein langer, geſchwänzter Körper wird auf kurzen Füßen wie ein
Block fortgeſchoben; zu dieſer häßlichen Form und Bewegung kommt bei
dem Molche die Trägheit, die nackte, klebrige, mißfarbige Haut. Dagegen
mag die raſche Lazerte manchem individuellen Gefühle zwar ebenfalls

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[133/0145] ihm pfeife, und Liebe zur Muſik wird ihm ſelbſt von Naturforſchern noch nachgerühmt. Auch die Arionſage lebt noch; man glaubt, daß er Schiff- brüchige rette, nur ſolche nicht, die Delphinfleiſch gegeſſen. Anhänglichkeit an den Menſchen, die er außer der bekannten Anhänglichkeit und Sympathie im Unglück für ſeines Gleichen zeigt, iſt die höchſte thieriſche Eigenſchaft; es iſt der beruhigendſte, erheiterndſte Eindruck, nach einem Sturme bei noch empörtem Meere dieſe edlen Thiere um das Schiff ſcherzen zu ſehen, im wilden Elemente ſelbſt das wunderbar befreundete Thier zu erblicken. — Die Natur geht aber noch ganz andere Wege, um den Werth der inneren Organiſation und des Thuns mit der äußeren Form in Einklang zu bringen. §. 302. Unter den Amphibien tritt auf der unterſten Stufe die unheimliche Schlange auf. Ausgebildeter erſcheinen durch kurze Bewegungsorgane der widerliche Molch, die theils zierliche, theils furchtbar häßliche Eidechſe. In dem verkürzten, ſchwanzloſen Leibe der Kröte und noch mehr des weniger miß- farbigen Froſches, deſſen längere Hinterfüße zugleich zum Sprunge dienen, deſſen Stimme ein beſeelteres Weſen verräth, wird die Häßlichkeit des Amphibiums komiſch. 1. Alle Völker haben in der Schlange etwas Unheimliches geſehen, jedes Gefühl ſträubt ſich vor ihr und der Gedanke an eine trügeriſche dunkle Macht liegt durchaus nahe. Zunächſt muß der Grund davon in dem Widerſpruch liegen, der zwiſchen der unläugbaren Schönheit der Bewegungen, Farben und zwiſchen der zerſtörenden Kraft der Muskel, Zähne, insbeſondere der Giftzähne beſteht. Allein dieß iſt nicht Alles; man würde die Schlangen vielleicht ſelbſt dann für giftig halten, wenn man es auch nicht aus Erfahrung wüßte. Die Linien der Bewegung ſind zwar ſchön, aber nur in ganz abſtractem Sinne; als Bewegungsweiſe eines verhältnißmäßig ſchon bedeutend organiſirten Landthiers iſt dieſes ſich Schieben durch Spiralbewegungen der Muskel an ſich ſchon äußerſt unheimlich: ein Mißverhältniß, ein Gehen ohne Gang, ein Nahen ohne Füße, geiſterhaft. Erſt durch die Geräuſchloſigkeit und ſcheinbare Mittel- loſigkeit der Annäherung wird der gefährliche Anfall doppelt fürchterlich. Die Farbenpracht erhöht den Eindruck der Falſchheit. Neben dem Biß iſt das Zuſammenſchnüren des Opfers qualvoll beängſtigend; man denke an den Laokoon. 2. Ein langer, geſchwänzter Körper wird auf kurzen Füßen wie ein Block fortgeſchoben; zu dieſer häßlichen Form und Bewegung kommt bei dem Molche die Trägheit, die nackte, klebrige, mißfarbige Haut. Dagegen mag die raſche Lazerte manchem individuellen Gefühle zwar ebenfalls

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/145>, abgerufen am 23.11.2024.