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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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betreffende Moment unmittelbar ausdrucksvoll darstellt. Da das Zeitwort
unbestimmter ist, als das Hauptwort, das der Gebrauch zur Bestimmtheit
eines Terminus fixirt, so kann man vom Thiere aussagen, es verstehe, aber
nicht, es habe Verstand. Verstehen kann entweder ein bloßes Merken
bedeuten oder ein Durchdringen mit Reflexion; jenes ist dem Thiere gegeben,
dieses nicht. So kann man denn freilich auch, wenn man sich nur genauere
Unterscheidung vorbehält, vom Thiere aussagen, es sei dumm oder gescheut.
Ein Hund z. B. versteht das Deuten mit dem Finger, er vermag eine
Linie mit dem Auge in der Richtung zu ziehen, wohin der Finger deutet,
ein anderer meint, man wolle spielen und beißt in den Finger, er ist nie
dahin zu bringen, daß er merkt, was man will.

§. 289.

Wie vielseitig das Thier gegen seine Außenwelt gespannt ist, so viele1
Triebe hat es, und da kein Denken die durch vielfache Reize stets erregten
Triebe mäßigt, so ist der Grundcharakter ein leidenschaftlicher. Die Ruhe
und Stille der Pflanzenwelt verschwindet in Unruhe und Lärm. Außer den
Thätigkeiten, welche unmittelbar der Erregung folgen, verrichtet jedoch das
Thier Vieles, was ein Ansichhalten, einen Bruch des bloßen Triebs durch
ein Denken, darauf begründete Negation des unmittelbaren Anstoßes und eine
auf einen weiterhinaus liegenden Zweck gerichtete Vermittlung ausdrückt. Diese
Eigenschaft, vermöge deren es Solches, was nur durch Denken möglich zu sein
scheint, ohne Denken durch bloßes Fühlen und Vorstellen thut, heißt im engeren
Sinn Instinct. Die niedrigere Sphäre des Instincts umfaßt eine Reihe von2
Thätigkeiten, welche durch technisches Bilden, gesellige Unterordnung der
Individuen zu einem gemeinschaftlichen Zwecke der Selbsterhaltung dient; eine
zweite, höhere die zufälligen Handlungen der List zu demselben Zwecke; die
dritte, höchste begreift Aeußerungen von Liebe und entsagender Thätigkeit,
indem das Thier theils aus Anhänglichkeit an seines Gleichen für sie entbehrt
und arbeitet, theils aber im Gefühle, daß ihm die Persönlichkeit mangelt, sich
an den Menschen anschließt, ihm gehorcht, von ihm lernt, dem Herrn treu
bleibt: die Form, worin das Thier Sittlichkeit hat.

1. Man nennt wohl auch das unmittelbare, dem ersten Reize fol-
gende Thun des leidenschaftlichen, heißen Thiers ein Thun aus Instinct.
Nimmt man es aber genauer, so wird man finden, daß der Sprach-
gebrauch durch diesen Begriff wesentlich ein vermitteltes Thun bezeichnet,
das ein Denken, wie davon im vorherigen §. die Rede war, vorauszu-
setzen scheint. Der Unterschied der jetzigen und der dortigen Betrachtung
ist nur der, daß dieses scheinbare Denken jetzt in seiner praktischen Bedeutung

betreffende Moment unmittelbar ausdrucksvoll darſtellt. Da das Zeitwort
unbeſtimmter iſt, als das Hauptwort, das der Gebrauch zur Beſtimmtheit
eines Terminus fixirt, ſo kann man vom Thiere ausſagen, es verſtehe, aber
nicht, es habe Verſtand. Verſtehen kann entweder ein bloßes Merken
bedeuten oder ein Durchdringen mit Reflexion; jenes iſt dem Thiere gegeben,
dieſes nicht. So kann man denn freilich auch, wenn man ſich nur genauere
Unterſcheidung vorbehält, vom Thiere ausſagen, es ſei dumm oder geſcheut.
Ein Hund z. B. verſteht das Deuten mit dem Finger, er vermag eine
Linie mit dem Auge in der Richtung zu ziehen, wohin der Finger deutet,
ein anderer meint, man wolle ſpielen und beißt in den Finger, er iſt nie
dahin zu bringen, daß er merkt, was man will.

§. 289.

Wie vielſeitig das Thier gegen ſeine Außenwelt geſpannt iſt, ſo viele1
Triebe hat es, und da kein Denken die durch vielfache Reize ſtets erregten
Triebe mäßigt, ſo iſt der Grundcharakter ein leidenſchaftlicher. Die Ruhe
und Stille der Pflanzenwelt verſchwindet in Unruhe und Lärm. Außer den
Thätigkeiten, welche unmittelbar der Erregung folgen, verrichtet jedoch das
Thier Vieles, was ein Anſichhalten, einen Bruch des bloßen Triebs durch
ein Denken, darauf begründete Negation des unmittelbaren Anſtoßes und eine
auf einen weiterhinaus liegenden Zweck gerichtete Vermittlung ausdrückt. Dieſe
Eigenſchaft, vermöge deren es Solches, was nur durch Denken möglich zu ſein
ſcheint, ohne Denken durch bloßes Fühlen und Vorſtellen thut, heißt im engeren
Sinn Inſtinct. Die niedrigere Sphäre des Inſtincts umfaßt eine Reihe von2
Thätigkeiten, welche durch techniſches Bilden, geſellige Unterordnung der
Individuen zu einem gemeinſchaftlichen Zwecke der Selbſterhaltung dient; eine
zweite, höhere die zufälligen Handlungen der Liſt zu demſelben Zwecke; die
dritte, höchſte begreift Aeußerungen von Liebe und entſagender Thätigkeit,
indem das Thier theils aus Anhänglichkeit an ſeines Gleichen für ſie entbehrt
und arbeitet, theils aber im Gefühle, daß ihm die Perſönlichkeit mangelt, ſich
an den Menſchen anſchließt, ihm gehorcht, von ihm lernt, dem Herrn treu
bleibt: die Form, worin das Thier Sittlichkeit hat.

1. Man nennt wohl auch das unmittelbare, dem erſten Reize fol-
gende Thun des leidenſchaftlichen, heißen Thiers ein Thun aus Inſtinct.
Nimmt man es aber genauer, ſo wird man finden, daß der Sprach-
gebrauch durch dieſen Begriff weſentlich ein vermitteltes Thun bezeichnet,
das ein Denken, wie davon im vorherigen §. die Rede war, vorauszu-
ſetzen ſcheint. Der Unterſchied der jetzigen und der dortigen Betrachtung
iſt nur der, daß dieſes ſcheinbare Denken jetzt in ſeiner praktiſchen Bedeutung

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[111/0123] betreffende Moment unmittelbar ausdrucksvoll darſtellt. Da das Zeitwort unbeſtimmter iſt, als das Hauptwort, das der Gebrauch zur Beſtimmtheit eines Terminus fixirt, ſo kann man vom Thiere ausſagen, es verſtehe, aber nicht, es habe Verſtand. Verſtehen kann entweder ein bloßes Merken bedeuten oder ein Durchdringen mit Reflexion; jenes iſt dem Thiere gegeben, dieſes nicht. So kann man denn freilich auch, wenn man ſich nur genauere Unterſcheidung vorbehält, vom Thiere ausſagen, es ſei dumm oder geſcheut. Ein Hund z. B. verſteht das Deuten mit dem Finger, er vermag eine Linie mit dem Auge in der Richtung zu ziehen, wohin der Finger deutet, ein anderer meint, man wolle ſpielen und beißt in den Finger, er iſt nie dahin zu bringen, daß er merkt, was man will. §. 289. Wie vielſeitig das Thier gegen ſeine Außenwelt geſpannt iſt, ſo viele Triebe hat es, und da kein Denken die durch vielfache Reize ſtets erregten Triebe mäßigt, ſo iſt der Grundcharakter ein leidenſchaftlicher. Die Ruhe und Stille der Pflanzenwelt verſchwindet in Unruhe und Lärm. Außer den Thätigkeiten, welche unmittelbar der Erregung folgen, verrichtet jedoch das Thier Vieles, was ein Anſichhalten, einen Bruch des bloßen Triebs durch ein Denken, darauf begründete Negation des unmittelbaren Anſtoßes und eine auf einen weiterhinaus liegenden Zweck gerichtete Vermittlung ausdrückt. Dieſe Eigenſchaft, vermöge deren es Solches, was nur durch Denken möglich zu ſein ſcheint, ohne Denken durch bloßes Fühlen und Vorſtellen thut, heißt im engeren Sinn Inſtinct. Die niedrigere Sphäre des Inſtincts umfaßt eine Reihe von Thätigkeiten, welche durch techniſches Bilden, geſellige Unterordnung der Individuen zu einem gemeinſchaftlichen Zwecke der Selbſterhaltung dient; eine zweite, höhere die zufälligen Handlungen der Liſt zu demſelben Zwecke; die dritte, höchſte begreift Aeußerungen von Liebe und entſagender Thätigkeit, indem das Thier theils aus Anhänglichkeit an ſeines Gleichen für ſie entbehrt und arbeitet, theils aber im Gefühle, daß ihm die Perſönlichkeit mangelt, ſich an den Menſchen anſchließt, ihm gehorcht, von ihm lernt, dem Herrn treu bleibt: die Form, worin das Thier Sittlichkeit hat. 1. Man nennt wohl auch das unmittelbare, dem erſten Reize fol- gende Thun des leidenſchaftlichen, heißen Thiers ein Thun aus Inſtinct. Nimmt man es aber genauer, ſo wird man finden, daß der Sprach- gebrauch durch dieſen Begriff weſentlich ein vermitteltes Thun bezeichnet, das ein Denken, wie davon im vorherigen §. die Rede war, vorauszu- ſetzen ſcheint. Der Unterſchied der jetzigen und der dortigen Betrachtung iſt nur der, daß dieſes ſcheinbare Denken jetzt in ſeiner praktiſchen Bedeutung

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/123>, abgerufen am 28.04.2024.