aussetzung des Theismus zerstört. Die höchste Einheit des Subjects und Objects ist auf keinem einzelnen Punkte der Zeit und des Raums wirklich, aber ein geistiges Gesetz fordert den Schein dieser Wirklichkeit. Der Theismus, wie er sich immer sträuben mag, setzt einen solchen Punkt; dieser Punkt ist Gott, dem bei irgend einiger Consequenz ein eigener Leib und ein Wohnort vom Theismus zugeschrieben werden muß. Aeltere Kirchen- lehrer waren so aufrichtig, diese Consequenz zu ziehen, Tertullian spricht sie aus, die Clementinischen Homilieen stellen einen leiblichen Gott als Ideal der Schönheit auf. Die Darstellung dieses Gottes, wie er einmal vorgestellt wird, muß dann für die höchste Aufgabe der Kunst erklärt werden, während die wahre Auffassung solche Versuche als etwas rein Phänomenologisches in die Kunstgeschichte einreiht. Als ein Aufblick zu diesem transscendenten Leibe muß aber dann das Schöne vornherein con- struirt werden. Es ist nicht reiner Schein, es ist Porträtiren eines absoluten Körpers, der ihm freilich niemals sitzt. Der Theismus, der diesen über- irdischen Leib begriffsmäßig zu halten sucht, ist gar keine Form der Wissen- schaft; er ist ein Versuch des gemeinen Menschenverstands, die Phantas- magorie des Doppeltsetzens zu systematisiren.
2. Die einzige Transcendenz, welche die Philosophie kennt. Die absolute Idee ist ewiger Prozeß. Der Theismus hat einen todten d. h. einen ein für allemal fertigen, der Pantheismus einen lebendigen Ueber- schuß, und dadurch Raum genug für alle die poetischen Kräfte des Gemüths, die man ihm abstreiten will, Sehnsucht, Hoffnung, Glauben, Beugung vor einer unendlichen Tiefe, die kein Zeitmoment erschöpft. Nicht von diesen Kräften ist aber hier die Rede; der Fortgang der Begriffsfolge wird sich zeigen.
§. 11.
Die absolute Idee legt sich in einen Umkreis bestimmter Ideen aus- einander, und auch die einzelne bestimmte Idee ist auf keinem gegebenen Punkte des Raums und der Zeit unmittelbar wirklich, sondern sie verwirklicht sich nur in der unendlichen Zahl und Bewegung der unter ihr begriffenen Wesen.
Der §. bereitet die Ergänzung eines wesentlichen Mangels der Hegel'schen Aesthetik vor, wovon nachher. -- Die bestimmten Ideen sind die Reiche des Lebens, sofern ihre Wirklichkeit als ihrem Begriffe entsprechend gedacht wird; denn Idee bezeichnet immer den in seiner Wirklichkeit rein und mangellos gegenwärtigen Begriff. Dieß reine
Vischer's Aesthetik. 1. Bd. 4
ausſetzung des Theismus zerſtört. Die höchſte Einheit des Subjects und Objects iſt auf keinem einzelnen Punkte der Zeit und des Raums wirklich, aber ein geiſtiges Geſetz fordert den Schein dieſer Wirklichkeit. Der Theismus, wie er ſich immer ſträuben mag, ſetzt einen ſolchen Punkt; dieſer Punkt iſt Gott, dem bei irgend einiger Conſequenz ein eigener Leib und ein Wohnort vom Theismus zugeſchrieben werden muß. Aeltere Kirchen- lehrer waren ſo aufrichtig, dieſe Conſequenz zu ziehen, Tertullian ſpricht ſie aus, die Clementiniſchen Homilieen ſtellen einen leiblichen Gott als Ideal der Schönheit auf. Die Darſtellung dieſes Gottes, wie er einmal vorgeſtellt wird, muß dann für die höchſte Aufgabe der Kunſt erklärt werden, während die wahre Auffaſſung ſolche Verſuche als etwas rein Phänomenologiſches in die Kunſtgeſchichte einreiht. Als ein Aufblick zu dieſem transſcendenten Leibe muß aber dann das Schöne vornherein con- ſtruirt werden. Es iſt nicht reiner Schein, es iſt Porträtiren eines abſoluten Körpers, der ihm freilich niemals ſitzt. Der Theismus, der dieſen über- irdiſchen Leib begriffsmäßig zu halten ſucht, iſt gar keine Form der Wiſſen- ſchaft; er iſt ein Verſuch des gemeinen Menſchenverſtands, die Phantas- magorie des Doppeltſetzens zu ſyſtematiſiren.
2. Die einzige Tranſcendenz, welche die Philoſophie kennt. Die abſolute Idee iſt ewiger Prozeß. Der Theismus hat einen todten d. h. einen ein für allemal fertigen, der Pantheismus einen lebendigen Ueber- ſchuß, und dadurch Raum genug für alle die poetiſchen Kräfte des Gemüths, die man ihm abſtreiten will, Sehnſucht, Hoffnung, Glauben, Beugung vor einer unendlichen Tiefe, die kein Zeitmoment erſchöpft. Nicht von dieſen Kräften iſt aber hier die Rede; der Fortgang der Begriffsfolge wird ſich zeigen.
§. 11.
Die abſolute Idee legt ſich in einen Umkreis beſtimmter Ideen aus- einander, und auch die einzelne beſtimmte Idee iſt auf keinem gegebenen Punkte des Raums und der Zeit unmittelbar wirklich, ſondern ſie verwirklicht ſich nur in der unendlichen Zahl und Bewegung der unter ihr begriffenen Weſen.
Der §. bereitet die Ergänzung eines weſentlichen Mangels der Hegel’ſchen Aeſthetik vor, wovon nachher. — Die beſtimmten Ideen ſind die Reiche des Lebens, ſofern ihre Wirklichkeit als ihrem Begriffe entſprechend gedacht wird; denn Idee bezeichnet immer den in ſeiner Wirklichkeit rein und mangellos gegenwärtigen Begriff. Dieß reine
Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 4
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Theismus, wie er ſich immer ſträuben mag, ſetzt einen ſolchen Punkt;
dieſer Punkt iſt Gott, dem bei irgend einiger Conſequenz ein eigener Leib
und ein Wohnort vom Theismus zugeſchrieben werden muß. Aeltere Kirchen-
lehrer waren ſo aufrichtig, dieſe Conſequenz zu ziehen, Tertullian ſpricht
ſie aus, die Clementiniſchen Homilieen ſtellen einen leiblichen Gott als
Ideal der Schönheit auf. Die Darſtellung dieſes Gottes, wie er einmal
vorgeſtellt wird, muß dann für die höchſte Aufgabe der Kunſt erklärt
werden, während die wahre Auffaſſung ſolche Verſuche als etwas rein
Phänomenologiſches in die Kunſtgeſchichte einreiht. Als ein Aufblick zu
dieſem transſcendenten Leibe muß aber dann das Schöne vornherein con-
ſtruirt werden. Es iſt nicht reiner Schein, es iſt Porträtiren eines abſoluten
Körpers, der ihm freilich niemals ſitzt. Der Theismus, der dieſen über-
irdiſchen Leib begriffsmäßig zu halten ſucht, iſt gar keine Form der Wiſſen-
ſchaft; er iſt ein Verſuch des gemeinen Menſchenverſtands, die Phantas-
magorie des Doppeltſetzens zu ſyſtematiſiren.
2. Die einzige Tranſcendenz, welche die Philoſophie kennt. Die
abſolute Idee iſt ewiger Prozeß. Der Theismus hat einen todten d. h.
einen ein für allemal fertigen, der Pantheismus einen lebendigen Ueber-
ſchuß, und dadurch Raum genug für alle die poetiſchen Kräfte des
Gemüths, die man ihm abſtreiten will, Sehnſucht, Hoffnung, Glauben,
Beugung vor einer unendlichen Tiefe, die kein Zeitmoment erſchöpft.
Nicht von dieſen Kräften iſt aber hier die Rede; der Fortgang der
Begriffsfolge wird ſich zeigen.
§. 11.
Die abſolute Idee legt ſich in einen Umkreis beſtimmter Ideen aus-
einander, und auch die einzelne beſtimmte Idee iſt auf keinem gegebenen Punkte
des Raums und der Zeit unmittelbar wirklich, ſondern ſie verwirklicht ſich nur
in der unendlichen Zahl und Bewegung der unter ihr begriffenen Weſen.
Der §. bereitet die Ergänzung eines weſentlichen Mangels der
Hegel’ſchen Aeſthetik vor, wovon nachher. — Die beſtimmten Ideen
ſind die Reiche des Lebens, ſofern ihre Wirklichkeit als ihrem Begriffe
entſprechend gedacht wird; denn Idee bezeichnet immer den in ſeiner
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/63>, abgerufen am 03.12.2024.
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