Form keinen Raum zu haben. Allein man denke sich eine Porzia getroffen von dem wahrhaft männlichen Bewußtseyn des Weltwiderspruchs in seiner Tiefe und nicht blos von dem Gefühle solcher Uebel, welche mit ihrer unmittelbaren weiblichen Angelegenheit, der Liebe und Ehe, in näherem oder entfernterem Zusammenhang stehen, so wird ihr der Humor nicht mehr ausreichen, sondern nur der Ernst des Charakters. Denn sie ist Weib; nur der männliche Geist kann zugleich in die Tiefe des ganzen Weltübels sehen und auch dieses Bewußtseyn in der Form des Scherzes überwinden.
§. 219.
Aber die tiefere Arbeit der Bildung bricht auch diese letzte Leichtigkeit1 der naiven Selbsthilfe. Das denkende Subject geht in sich und erkennt den eige- nen Widerspruch und den der Welt in seiner schneidenden Herbe dadurch, daß es ihn in seiner Allgemeinheit denkt, erliegt aber mitten im Versuche der Befreiung von diesem Schmerze, entweder weil es selbst in realem Sinne zu tief in den Wi- derspruch verstrickt ist und, nach außen gebunden, sich in kranker Bitterkeit zerarbeitet, oder weil es, bei verhältnißmäßig geringem Drucke des selbsterlebten Widerspruchs, gemäß der nun eingetretenen Innerlichkeit des Bewußtseyns, ein2 selbstquälerisches Denken in sich nährt, das Störungen erfindet, die nicht sind, die wirklich vorhandenen dichtend vervielfältigt und so jenes unendliche Schmerzgefühl des Humors (§. 208) noch verdoppelt. In beiden Fällen stockt die Selbstbefreiung und es bleibt eine nicht aufgelöste Verzweiflung an der Kraft der Idee, sich in ihren Widersprüchen und durch sie fortzubehaupten, ein nicht überwundener Aerger zurück. Es sind Subjecte, welche die Erfahrung nicht überwinden können.
1. Zu tief verstrickt in eine reale Collision der Aufgabe des Handelns mit der Innerlichkeit einer edeln, denkenden Natur ist z. B. Hamlet. Dagegen ist die reale Verstrickung anderer Art, wo das Subject sein Leben durch Leidenschaft, frühen Genuß, wilde Sitten getrübt hat, wie Byron, Grabbe, durch Maßlosigkeit und Haltungslosigkeit irgend einer Art bei idealen Anforderungen des reineren Selbst. Theodor Hoffmann, Heine mögen ebenfalls im gebrochenen Humor hängen geblieben seyn, weil sie ihr Leben nicht mit wesentlichem Gehalte zu erfüllen, mit Besonnenheit zu ordnen wußten. Es bleibt im Humor solcher Naturen ein Rest von Bitterkeit und Verzweiflung, der nie ganz in die reine Freiheit des Bewußtseyns aufgeht. Eine interessante Frage ist, ob Shakespeare als Mensch und Charakter, wenn man alle seine Werke zusammennimmt
Vischer's Aesthetik. 1. Bd. 30
Form keinen Raum zu haben. Allein man denke ſich eine Porzia getroffen von dem wahrhaft männlichen Bewußtſeyn des Weltwiderſpruchs in ſeiner Tiefe und nicht blos von dem Gefühle ſolcher Uebel, welche mit ihrer unmittelbaren weiblichen Angelegenheit, der Liebe und Ehe, in näherem oder entfernterem Zuſammenhang ſtehen, ſo wird ihr der Humor nicht mehr ausreichen, ſondern nur der Ernſt des Charakters. Denn ſie iſt Weib; nur der männliche Geiſt kann zugleich in die Tiefe des ganzen Weltübels ſehen und auch dieſes Bewußtſeyn in der Form des Scherzes überwinden.
§. 219.
Aber die tiefere Arbeit der Bildung bricht auch dieſe letzte Leichtigkeit1 der naiven Selbſthilfe. Das denkende Subject geht in ſich und erkennt den eige- nen Widerſpruch und den der Welt in ſeiner ſchneidenden Herbe dadurch, daß es ihn in ſeiner Allgemeinheit denkt, erliegt aber mitten im Verſuche der Befreiung von dieſem Schmerze, entweder weil es ſelbſt in realem Sinne zu tief in den Wi- derſpruch verſtrickt iſt und, nach außen gebunden, ſich in kranker Bitterkeit zerarbeitet, oder weil es, bei verhältnißmäßig geringem Drucke des ſelbſterlebten Widerſpruchs, gemäß der nun eingetretenen Innerlichkeit des Bewußtſeyns, ein2 ſelbſtquäleriſches Denken in ſich nährt, das Störungen erfindet, die nicht ſind, die wirklich vorhandenen dichtend vervielfältigt und ſo jenes unendliche Schmerzgefühl des Humors (§. 208) noch verdoppelt. In beiden Fällen ſtockt die Selbſtbefreiung und es bleibt eine nicht aufgelöste Verzweiflung an der Kraft der Idee, ſich in ihren Widerſprüchen und durch ſie fortzubehaupten, ein nicht überwundener Aerger zurück. Es ſind Subjecte, welche die Erfahrung nicht überwinden können.
1. Zu tief verſtrickt in eine reale Colliſion der Aufgabe des Handelns mit der Innerlichkeit einer edeln, denkenden Natur iſt z. B. Hamlet. Dagegen iſt die reale Verſtrickung anderer Art, wo das Subject ſein Leben durch Leidenſchaft, frühen Genuß, wilde Sitten getrübt hat, wie Byron, Grabbe, durch Maßloſigkeit und Haltungsloſigkeit irgend einer Art bei idealen Anforderungen des reineren Selbſt. Theodor Hoffmann, Heine mögen ebenfalls im gebrochenen Humor hängen geblieben ſeyn, weil ſie ihr Leben nicht mit weſentlichem Gehalte zu erfüllen, mit Beſonnenheit zu ordnen wußten. Es bleibt im Humor ſolcher Naturen ein Reſt von Bitterkeit und Verzweiflung, der nie ganz in die reine Freiheit des Bewußtſeyns aufgeht. Eine intereſſante Frage iſt, ob Shakespeare als Menſch und Charakter, wenn man alle ſeine Werke zuſammennimmt
Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 30
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0479"n="465"/>
Form keinen Raum zu haben. Allein man denke ſich eine Porzia getroffen<lb/>
von dem wahrhaft männlichen Bewußtſeyn des Weltwiderſpruchs in ſeiner<lb/>
Tiefe und nicht blos von dem Gefühle ſolcher Uebel, welche mit ihrer<lb/>
unmittelbaren weiblichen Angelegenheit, der Liebe und Ehe, in näherem<lb/>
oder entfernterem Zuſammenhang ſtehen, ſo wird ihr der Humor nicht<lb/>
mehr ausreichen, ſondern nur der Ernſt des Charakters. Denn ſie iſt<lb/>
Weib; nur der männliche Geiſt kann zugleich in die Tiefe des ganzen<lb/>
Weltübels ſehen und auch dieſes Bewußtſeyn in der Form des Scherzes<lb/>
überwinden.</hi></p></div><lb/><divn="6"><head>§. 219.</head><lb/><p><hirendition="#fr">Aber die tiefere Arbeit der Bildung bricht auch dieſe letzte Leichtigkeit<noteplace="right">1</note><lb/>
der naiven Selbſthilfe. Das denkende Subject geht in ſich und erkennt den eige-<lb/>
nen Widerſpruch und den der Welt in ſeiner ſchneidenden Herbe dadurch, daß es<lb/>
ihn in ſeiner Allgemeinheit denkt, erliegt aber mitten im Verſuche der Befreiung<lb/>
von dieſem Schmerze, entweder weil es ſelbſt in realem Sinne zu tief in den Wi-<lb/>
derſpruch verſtrickt iſt und, nach außen gebunden, ſich in kranker Bitterkeit<lb/>
zerarbeitet, oder weil es, bei verhältnißmäßig geringem Drucke des ſelbſterlebten<lb/>
Widerſpruchs, gemäß der nun eingetretenen Innerlichkeit des Bewußtſeyns, ein<noteplace="right">2</note><lb/>ſelbſtquäleriſches Denken in ſich nährt, das Störungen erfindet, die nicht ſind, die<lb/>
wirklich vorhandenen dichtend vervielfältigt und ſo jenes unendliche Schmerzgefühl<lb/>
des Humors (§. 208) noch verdoppelt. In beiden Fällen ſtockt die Selbſtbefreiung<lb/>
und es bleibt eine nicht aufgelöste Verzweiflung an der Kraft der Idee, ſich in<lb/>
ihren Widerſprüchen und durch ſie fortzubehaupten, ein nicht überwundener Aerger<lb/>
zurück. Es ſind Subjecte, welche die Erfahrung nicht überwinden können.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">1. Zu tief verſtrickt in eine reale Colliſion der Aufgabe des Handelns<lb/>
mit der Innerlichkeit einer edeln, denkenden Natur iſt z. B. Hamlet.<lb/>
Dagegen iſt die reale Verſtrickung anderer Art, wo das Subject ſein<lb/>
Leben durch Leidenſchaft, frühen Genuß, wilde Sitten getrübt hat, wie<lb/><hirendition="#g">Byron, Grabbe</hi>, durch Maßloſigkeit und Haltungsloſigkeit irgend einer<lb/>
Art bei idealen Anforderungen des reineren Selbſt. <hirendition="#g">Theodor Hoffmann,<lb/>
Heine</hi> mögen ebenfalls im gebrochenen Humor hängen geblieben ſeyn, weil<lb/>ſie ihr Leben nicht mit weſentlichem Gehalte zu erfüllen, mit Beſonnenheit zu<lb/>
ordnen wußten. Es bleibt im Humor ſolcher Naturen ein Reſt von<lb/>
Bitterkeit und Verzweiflung, der nie ganz in die reine Freiheit des<lb/>
Bewußtſeyns aufgeht. Eine intereſſante Frage iſt, ob <hirendition="#g">Shakespeare</hi><lb/>
als Menſch und Charakter, wenn man alle ſeine Werke zuſammennimmt</hi><lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Viſcher’s</hi> Aeſthetik. 1. Bd. 30</fw><lb/></p></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[465/0479]
Form keinen Raum zu haben. Allein man denke ſich eine Porzia getroffen
von dem wahrhaft männlichen Bewußtſeyn des Weltwiderſpruchs in ſeiner
Tiefe und nicht blos von dem Gefühle ſolcher Uebel, welche mit ihrer
unmittelbaren weiblichen Angelegenheit, der Liebe und Ehe, in näherem
oder entfernterem Zuſammenhang ſtehen, ſo wird ihr der Humor nicht
mehr ausreichen, ſondern nur der Ernſt des Charakters. Denn ſie iſt
Weib; nur der männliche Geiſt kann zugleich in die Tiefe des ganzen
Weltübels ſehen und auch dieſes Bewußtſeyn in der Form des Scherzes
überwinden.
§. 219.
Aber die tiefere Arbeit der Bildung bricht auch dieſe letzte Leichtigkeit
der naiven Selbſthilfe. Das denkende Subject geht in ſich und erkennt den eige-
nen Widerſpruch und den der Welt in ſeiner ſchneidenden Herbe dadurch, daß es
ihn in ſeiner Allgemeinheit denkt, erliegt aber mitten im Verſuche der Befreiung
von dieſem Schmerze, entweder weil es ſelbſt in realem Sinne zu tief in den Wi-
derſpruch verſtrickt iſt und, nach außen gebunden, ſich in kranker Bitterkeit
zerarbeitet, oder weil es, bei verhältnißmäßig geringem Drucke des ſelbſterlebten
Widerſpruchs, gemäß der nun eingetretenen Innerlichkeit des Bewußtſeyns, ein
ſelbſtquäleriſches Denken in ſich nährt, das Störungen erfindet, die nicht ſind, die
wirklich vorhandenen dichtend vervielfältigt und ſo jenes unendliche Schmerzgefühl
des Humors (§. 208) noch verdoppelt. In beiden Fällen ſtockt die Selbſtbefreiung
und es bleibt eine nicht aufgelöste Verzweiflung an der Kraft der Idee, ſich in
ihren Widerſprüchen und durch ſie fortzubehaupten, ein nicht überwundener Aerger
zurück. Es ſind Subjecte, welche die Erfahrung nicht überwinden können.
1. Zu tief verſtrickt in eine reale Colliſion der Aufgabe des Handelns
mit der Innerlichkeit einer edeln, denkenden Natur iſt z. B. Hamlet.
Dagegen iſt die reale Verſtrickung anderer Art, wo das Subject ſein
Leben durch Leidenſchaft, frühen Genuß, wilde Sitten getrübt hat, wie
Byron, Grabbe, durch Maßloſigkeit und Haltungsloſigkeit irgend einer
Art bei idealen Anforderungen des reineren Selbſt. Theodor Hoffmann,
Heine mögen ebenfalls im gebrochenen Humor hängen geblieben ſeyn, weil
ſie ihr Leben nicht mit weſentlichem Gehalte zu erfüllen, mit Beſonnenheit zu
ordnen wußten. Es bleibt im Humor ſolcher Naturen ein Reſt von
Bitterkeit und Verzweiflung, der nie ganz in die reine Freiheit des
Bewußtſeyns aufgeht. Eine intereſſante Frage iſt, ob Shakespeare
als Menſch und Charakter, wenn man alle ſeine Werke zuſammennimmt
Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 30
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 465. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/479>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.