Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

Ernstes glaubt, es gebe Individuen, die zugleich Individuen und
schlechtweg das Absolute seyen, der Widerspruch sey also unmittelbar
sinnlich gelöst. Die letzte Lösung aber ist eben nur da, wo das Subject
jenen Widerspruch in seiner Strenge denkt und denkend aufhebt. Der
Philosoph bleibt nun freilich ein Einzelner in Fleisch und Blut, aber er
begreift sich auch als diesen Einzelnen im Ganzen und Allgemeinen als
Glied desselben; er muß sterben, weil er dennoch Einzelner bleibt, aber
auch darüber erhebt er sich, weil er den Tod als nothwendigen Act
des Allgemeinen gegen das Einzelne begreift. Soll denn dagegen viel-
mehr dies die letzte Lösung seyn, wenn ich mir vorstelle: ich zwar bleibe,
wie ich auch das Allgemeine denkend bin, doch dieser Einzelne, aber
über den Wolken ist Einer, der auch ein Einzelner und doch zugleich
real das absolute Ganze ist? Dahin kann der Philosoph nicht zurück,
und dies ist die Hauptsache: wenn das Subject einmal so weit ist,
um den Gegensatz des Allgemeinen und Einzelnen in seiner Schärfe zu
denken, so kann es ihn nicht mehr in der Form der Unmittelbar-
keit,
welche das Schöne ist, lösen, sondern der durch die Vermittlung
des Denkens erfaßte Gegensatz kann nur durch dieselbe Vermittlung ge-
hoben werden, wird aber dadurch auch tiefer gelöst, und wenn nach
einem bekannten Gesetze allerdings auch Vermittlung wieder in Un-
mittelbarkeit erlischt, so ist dies doch in diesem Sinne hier durchaus
nicht anzuwenden. Die gemeine Erfahrung zeigt, daß die philosophische
Bildung später ist als die ästhetische, daß das philosophische Denken
die Unmittelbarkeit der ästhetischen Anschauung, der erfindenden Phantasie
in dem denkenden Subjecte aufhebt (worüber Schiller so aufrichtig
klagt) und daß ebenso ganze Zeitalter, in denen die Spekulation und
Kritik herrscht, die Frische des künstlerischen Schaffens und des unmittel-
baren Kunstgenusses verlieren. Weiße bestimmt nun (§. 9) die Schön-
heit als die aufgehobene Wahrheit, sie ist aber vielmehr, wie sich
im folgenden Systeme weiter begründen wird, die noch nicht vor-
handene Wahrheit, d. h. die noch nicht vorhandene speculative Erkenntniß,
und es kann hier in der Einleitung gegen seine Bestimmung ganz einfach
die Kantische gesetzt werden, daß das Schöne wesentlich in einer
Uebereinstimmung der Form eines Gegenstandes in der Auffassung des-
selben vor allem Begriff mit dem Erkenntnißvermögen bestehe. Das
Schöne ist demnach keineswegs mehr, sondern weniger als das
Wahre. Weiße setzt das Irrationale, d. h. das Sinnliche hier, wie
in der Stellung, die er dem Inhalte der Theologie, d. h. dem anthropomi-

Ernſtes glaubt, es gebe Individuen, die zugleich Individuen und
ſchlechtweg das Abſolute ſeyen, der Widerſpruch ſey alſo unmittelbar
ſinnlich gelöst. Die letzte Löſung aber iſt eben nur da, wo das Subject
jenen Widerſpruch in ſeiner Strenge denkt und denkend aufhebt. Der
Philoſoph bleibt nun freilich ein Einzelner in Fleiſch und Blut, aber er
begreift ſich auch als dieſen Einzelnen im Ganzen und Allgemeinen als
Glied desſelben; er muß ſterben, weil er dennoch Einzelner bleibt, aber
auch darüber erhebt er ſich, weil er den Tod als nothwendigen Act
des Allgemeinen gegen das Einzelne begreift. Soll denn dagegen viel-
mehr dies die letzte Löſung ſeyn, wenn ich mir vorſtelle: ich zwar bleibe,
wie ich auch das Allgemeine denkend bin, doch dieſer Einzelne, aber
über den Wolken iſt Einer, der auch ein Einzelner und doch zugleich
real das abſolute Ganze iſt? Dahin kann der Philoſoph nicht zurück,
und dies iſt die Hauptſache: wenn das Subject einmal ſo weit iſt,
um den Gegenſatz des Allgemeinen und Einzelnen in ſeiner Schärfe zu
denken, ſo kann es ihn nicht mehr in der Form der Unmittelbar-
keit,
welche das Schöne iſt, löſen, ſondern der durch die Vermittlung
des Denkens erfaßte Gegenſatz kann nur durch dieſelbe Vermittlung ge-
hoben werden, wird aber dadurch auch tiefer gelöst, und wenn nach
einem bekannten Geſetze allerdings auch Vermittlung wieder in Un-
mittelbarkeit erliſcht, ſo iſt dies doch in dieſem Sinne hier durchaus
nicht anzuwenden. Die gemeine Erfahrung zeigt, daß die philoſophiſche
Bildung ſpäter iſt als die äſthetiſche, daß das philoſophiſche Denken
die Unmittelbarkeit der äſthetiſchen Anſchauung, der erfindenden Phantaſie
in dem denkenden Subjecte aufhebt (worüber Schiller ſo aufrichtig
klagt) und daß ebenſo ganze Zeitalter, in denen die Spekulation und
Kritik herrſcht, die Friſche des künſtleriſchen Schaffens und des unmittel-
baren Kunſtgenuſſes verlieren. Weiße beſtimmt nun (§. 9) die Schön-
heit als die aufgehobene Wahrheit, ſie iſt aber vielmehr, wie ſich
im folgenden Syſteme weiter begründen wird, die noch nicht vor-
handene Wahrheit, d. h. die noch nicht vorhandene ſpeculative Erkenntniß,
und es kann hier in der Einleitung gegen ſeine Beſtimmung ganz einfach
die Kantiſche geſetzt werden, daß das Schöne weſentlich in einer
Uebereinſtimmung der Form eines Gegenſtandes in der Auffaſſung des-
ſelben vor allem Begriff mit dem Erkenntnißvermögen beſtehe. Das
Schöne iſt demnach keineswegs mehr, ſondern weniger als das
Wahre. Weiße ſetzt das Irrationale, d. h. das Sinnliche hier, wie
in der Stellung, die er dem Inhalte der Theologie, d. h. dem anthropomi-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0044" n="30"/>
Ern&#x017F;tes <hi rendition="#g">glaubt,</hi> es gebe Individuen, die zugleich Individuen und<lb/>
&#x017F;chlechtweg das Ab&#x017F;olute &#x017F;eyen, der Wider&#x017F;pruch &#x017F;ey al&#x017F;o unmittelbar<lb/><hi rendition="#g">&#x017F;innlich</hi> gelöst. Die letzte Lö&#x017F;ung aber i&#x017F;t eben nur da, wo das Subject<lb/>
jenen Wider&#x017F;pruch in &#x017F;einer Strenge denkt und denkend aufhebt. Der<lb/>
Philo&#x017F;oph bleibt nun freilich ein Einzelner in Flei&#x017F;ch und Blut, aber er<lb/>
begreift &#x017F;ich auch als die&#x017F;en Einzelnen im Ganzen und Allgemeinen als<lb/>
Glied des&#x017F;elben; er muß &#x017F;terben, weil er dennoch Einzelner bleibt, aber<lb/>
auch darüber erhebt er &#x017F;ich, weil er den Tod als nothwendigen Act<lb/>
des Allgemeinen gegen das Einzelne begreift. Soll denn dagegen viel-<lb/>
mehr dies die letzte Lö&#x017F;ung &#x017F;eyn, wenn ich mir vor&#x017F;telle: ich zwar bleibe,<lb/>
wie ich auch das Allgemeine denkend bin, doch die&#x017F;er Einzelne, aber<lb/>
über den Wolken i&#x017F;t Einer, der auch ein Einzelner und doch zugleich<lb/>
real das ab&#x017F;olute Ganze i&#x017F;t? Dahin kann der Philo&#x017F;oph nicht zurück,<lb/>
und dies i&#x017F;t die Haupt&#x017F;ache: wenn das Subject einmal &#x017F;o weit i&#x017F;t,<lb/>
um den Gegen&#x017F;atz des Allgemeinen und Einzelnen in &#x017F;einer Schärfe zu<lb/>
denken, &#x017F;o <hi rendition="#g">kann</hi> es ihn nicht <hi rendition="#g">mehr</hi> in der Form der <hi rendition="#g">Unmittelbar-<lb/>
keit,</hi> welche das Schöne i&#x017F;t, lö&#x017F;en, &#x017F;ondern der durch die <hi rendition="#g">Vermittlung</hi><lb/>
des Denkens erfaßte Gegen&#x017F;atz kann nur durch die&#x017F;elbe Vermittlung ge-<lb/>
hoben werden, wird aber dadurch auch tiefer gelöst, und wenn nach<lb/>
einem bekannten Ge&#x017F;etze allerdings auch Vermittlung wieder in Un-<lb/>
mittelbarkeit erli&#x017F;cht, &#x017F;o i&#x017F;t dies doch in die&#x017F;em Sinne hier durchaus<lb/>
nicht anzuwenden. Die gemeine Erfahrung zeigt, daß die philo&#x017F;ophi&#x017F;che<lb/>
Bildung &#x017F;päter i&#x017F;t als die ä&#x017F;theti&#x017F;che, daß das philo&#x017F;ophi&#x017F;che Denken<lb/>
die Unmittelbarkeit der ä&#x017F;theti&#x017F;chen An&#x017F;chauung, der erfindenden Phanta&#x017F;ie<lb/>
in dem denkenden Subjecte aufhebt (worüber <hi rendition="#g">Schiller</hi> &#x017F;o aufrichtig<lb/>
klagt) und daß eben&#x017F;o ganze Zeitalter, in denen die Spekulation und<lb/>
Kritik herr&#x017F;cht, die Fri&#x017F;che des kün&#x017F;tleri&#x017F;chen Schaffens und des unmittel-<lb/>
baren Kun&#x017F;tgenu&#x017F;&#x017F;es verlieren. <hi rendition="#g">Weiße</hi> be&#x017F;timmt nun (§. 9) die Schön-<lb/>
heit als die <hi rendition="#g">aufgehobene</hi> Wahrheit, &#x017F;ie i&#x017F;t aber vielmehr, wie &#x017F;ich<lb/>
im folgenden Sy&#x017F;teme weiter begründen wird, die <hi rendition="#g">noch nicht</hi> vor-<lb/>
handene Wahrheit, d. h. die noch nicht vorhandene &#x017F;peculative Erkenntniß,<lb/>
und es kann hier in der Einleitung gegen &#x017F;eine Be&#x017F;timmung ganz einfach<lb/>
die <hi rendition="#g">Kanti&#x017F;che</hi> ge&#x017F;etzt werden, daß das Schöne we&#x017F;entlich in einer<lb/>
Ueberein&#x017F;timmung der Form eines Gegen&#x017F;tandes in der Auffa&#x017F;&#x017F;ung des-<lb/>
&#x017F;elben <hi rendition="#g">vor</hi> allem Begriff mit dem Erkenntnißvermögen be&#x017F;tehe. Das<lb/>
Schöne i&#x017F;t demnach keineswegs <hi rendition="#g">mehr,</hi> &#x017F;ondern <hi rendition="#g">weniger</hi> als das<lb/>
Wahre. <hi rendition="#g">Weiße</hi> &#x017F;etzt das Irrationale, d. h. das Sinnliche hier, wie<lb/>
in der Stellung, die er dem Inhalte der Theologie, d. h. dem anthropomi-<lb/></hi> </p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[30/0044] Ernſtes glaubt, es gebe Individuen, die zugleich Individuen und ſchlechtweg das Abſolute ſeyen, der Widerſpruch ſey alſo unmittelbar ſinnlich gelöst. Die letzte Löſung aber iſt eben nur da, wo das Subject jenen Widerſpruch in ſeiner Strenge denkt und denkend aufhebt. Der Philoſoph bleibt nun freilich ein Einzelner in Fleiſch und Blut, aber er begreift ſich auch als dieſen Einzelnen im Ganzen und Allgemeinen als Glied desſelben; er muß ſterben, weil er dennoch Einzelner bleibt, aber auch darüber erhebt er ſich, weil er den Tod als nothwendigen Act des Allgemeinen gegen das Einzelne begreift. Soll denn dagegen viel- mehr dies die letzte Löſung ſeyn, wenn ich mir vorſtelle: ich zwar bleibe, wie ich auch das Allgemeine denkend bin, doch dieſer Einzelne, aber über den Wolken iſt Einer, der auch ein Einzelner und doch zugleich real das abſolute Ganze iſt? Dahin kann der Philoſoph nicht zurück, und dies iſt die Hauptſache: wenn das Subject einmal ſo weit iſt, um den Gegenſatz des Allgemeinen und Einzelnen in ſeiner Schärfe zu denken, ſo kann es ihn nicht mehr in der Form der Unmittelbar- keit, welche das Schöne iſt, löſen, ſondern der durch die Vermittlung des Denkens erfaßte Gegenſatz kann nur durch dieſelbe Vermittlung ge- hoben werden, wird aber dadurch auch tiefer gelöst, und wenn nach einem bekannten Geſetze allerdings auch Vermittlung wieder in Un- mittelbarkeit erliſcht, ſo iſt dies doch in dieſem Sinne hier durchaus nicht anzuwenden. Die gemeine Erfahrung zeigt, daß die philoſophiſche Bildung ſpäter iſt als die äſthetiſche, daß das philoſophiſche Denken die Unmittelbarkeit der äſthetiſchen Anſchauung, der erfindenden Phantaſie in dem denkenden Subjecte aufhebt (worüber Schiller ſo aufrichtig klagt) und daß ebenſo ganze Zeitalter, in denen die Spekulation und Kritik herrſcht, die Friſche des künſtleriſchen Schaffens und des unmittel- baren Kunſtgenuſſes verlieren. Weiße beſtimmt nun (§. 9) die Schön- heit als die aufgehobene Wahrheit, ſie iſt aber vielmehr, wie ſich im folgenden Syſteme weiter begründen wird, die noch nicht vor- handene Wahrheit, d. h. die noch nicht vorhandene ſpeculative Erkenntniß, und es kann hier in der Einleitung gegen ſeine Beſtimmung ganz einfach die Kantiſche geſetzt werden, daß das Schöne weſentlich in einer Uebereinſtimmung der Form eines Gegenſtandes in der Auffaſſung des- ſelben vor allem Begriff mit dem Erkenntnißvermögen beſtehe. Das Schöne iſt demnach keineswegs mehr, ſondern weniger als das Wahre. Weiße ſetzt das Irrationale, d. h. das Sinnliche hier, wie in der Stellung, die er dem Inhalte der Theologie, d. h. dem anthropomi-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/44
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/44>, abgerufen am 03.12.2024.