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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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vielmehr dieses und treibt blos mit der Vorstellung von ihm oder seinem Thun
jenes Spiel. Der Gegenstand bleibt außer ihm stehen, Inhalt und Form fallen
auseinander, oder vielmehr die Form erhält einen andern Inhalt, als der ist,
welcher sie in Bewegung zu setzen den ersten Anstoß gab, und dieser andere
Inhalt ist eigentlich der strenge Zusammenhang der Dinge in dem geordneten
Denken: gegen dieses macht der Witz die Wahrheit geltend, daß die Dinge
ihre Stelle müssen wechseln können, weil Eines in Allem ist, und so befreit
er allerdings und bewährt Freiheit, indem er die Flüssigkeit der absoluten
Idee zu Tage bringt, aber er verliert den festen Boden der Grenze, welchen
alles Schöne fordert (§. 30 ff.).

1. Weiße (Aesth. §. 32) sieht in dem Witze dasselbe Leihen wie
im Komischen überhaupt, nur mit höherer Intensität und Selbstbewußtseyn.
Daran darf man nur knüpfen, daß durch dieses bestimmtere Leihen eben
noch bestimmter die Besinnung in dem Verirrten entbunden wird, so
steht man in Ruges Ansicht über den Witz. Allein die Vorstellung,
die der Witz herbeibringt, ist zu entlegen, um sie so zu verstehen. Wenn
z. B. Liskow auf den Magister Sievers in Lübeck, welcher als Kämpfer
für die Orthodoxie gegen ihn als den Kämpfer für lebendige Sittlichkeit
auf der Kanzel sich in solchen Eifer predigte, daß der Wille die unter-
geordneten Theile seiner Persönlichkeit zu beherrschen vergaß, welche nun
diese Gelegenheit ergriffen und in einem reichlichen materiellen Ergusse
den oberen, geistigen zugleich bildlich darzustellen bestrebt waren, (welcher
Vorfall, beiläufig gesagt, im burlesken Sinne ganz komisch ist auch ohne
Satyre, folgendes Epigramm machte:

Bei jener edlen Feuchtigkeit,
Die jüngst vom Predigtstuhl geflossen,
Erinnerte ich mich der Zeit,
Da Paul gepflanzt, Apoll begossen;
Ich freuete mich inniglich
Und sprach: die Zeiten bessern sich;
Ein Mann thut, was sonst zweene thaten;
Drum Spötter, ist euch noch zu rathen,
So lacht nicht, wenn mein Sievers pießt
Und wenn er pflanzt, zugleich begießt.

so kann er dem eifrigen Manne nicht unterlegen wollen, als habe er
im figürlichen Sinne den Baum der Kirche begießen wollen und es nur
allzu unbildlich ausgeführt; die Vorstellung des Begießens liegt zu fern,
um solche Absicht dem verlachten Subjecte unterzuschieben. Ebenso Börnes
Witz: "als Pythagoras seinen Lehrsatz erfunden hatte, opferte er eine

vielmehr dieſes und treibt blos mit der Vorſtellung von ihm oder ſeinem Thun
jenes Spiel. Der Gegenſtand bleibt außer ihm ſtehen, Inhalt und Form fallen
auseinander, oder vielmehr die Form erhält einen andern Inhalt, als der iſt,
welcher ſie in Bewegung zu ſetzen den erſten Anſtoß gab, und dieſer andere
Inhalt iſt eigentlich der ſtrenge Zuſammenhang der Dinge in dem geordneten
Denken: gegen dieſes macht der Witz die Wahrheit geltend, daß die Dinge
ihre Stelle müſſen wechſeln können, weil Eines in Allem iſt, und ſo befreit
er allerdings und bewährt Freiheit, indem er die Flüſſigkeit der abſoluten
Idee zu Tage bringt, aber er verliert den feſten Boden der Grenze, welchen
alles Schöne fordert (§. 30 ff.).

1. Weiße (Aeſth. §. 32) ſieht in dem Witze daſſelbe Leihen wie
im Komiſchen überhaupt, nur mit höherer Intenſität und Selbſtbewußtſeyn.
Daran darf man nur knüpfen, daß durch dieſes beſtimmtere Leihen eben
noch beſtimmter die Beſinnung in dem Verirrten entbunden wird, ſo
ſteht man in Ruges Anſicht über den Witz. Allein die Vorſtellung,
die der Witz herbeibringt, iſt zu entlegen, um ſie ſo zu verſtehen. Wenn
z. B. Liskow auf den Magiſter Sievers in Lübeck, welcher als Kämpfer
für die Orthodoxie gegen ihn als den Kämpfer für lebendige Sittlichkeit
auf der Kanzel ſich in ſolchen Eifer predigte, daß der Wille die unter-
geordneten Theile ſeiner Perſönlichkeit zu beherrſchen vergaß, welche nun
dieſe Gelegenheit ergriffen und in einem reichlichen materiellen Erguſſe
den oberen, geiſtigen zugleich bildlich darzuſtellen beſtrebt waren, (welcher
Vorfall, beiläufig geſagt, im burlesken Sinne ganz komiſch iſt auch ohne
Satyre, folgendes Epigramm machte:

Bei jener edlen Feuchtigkeit,
Die jüngſt vom Predigtſtuhl gefloſſen,
Erinnerte ich mich der Zeit,
Da Paul gepflanzt, Apoll begoſſen;
Ich freuete mich inniglich
Und ſprach: die Zeiten beſſern ſich;
Ein Mann thut, was ſonſt zweene thaten;
Drum Spötter, iſt euch noch zu rathen,
So lacht nicht, wenn mein Sievers pießt
Und wenn er pflanzt, zugleich begießt.

ſo kann er dem eifrigen Manne nicht unterlegen wollen, als habe er
im figürlichen Sinne den Baum der Kirche begießen wollen und es nur
allzu unbildlich ausgeführt; die Vorſtellung des Begießens liegt zu fern,
um ſolche Abſicht dem verlachten Subjecte unterzuſchieben. Ebenſo Börnes
Witz: „als Pythagoras ſeinen Lehrſatz erfunden hatte, opferte er eine

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[424/0438] vielmehr dieſes und treibt blos mit der Vorſtellung von ihm oder ſeinem Thun jenes Spiel. Der Gegenſtand bleibt außer ihm ſtehen, Inhalt und Form fallen auseinander, oder vielmehr die Form erhält einen andern Inhalt, als der iſt, welcher ſie in Bewegung zu ſetzen den erſten Anſtoß gab, und dieſer andere Inhalt iſt eigentlich der ſtrenge Zuſammenhang der Dinge in dem geordneten Denken: gegen dieſes macht der Witz die Wahrheit geltend, daß die Dinge ihre Stelle müſſen wechſeln können, weil Eines in Allem iſt, und ſo befreit er allerdings und bewährt Freiheit, indem er die Flüſſigkeit der abſoluten Idee zu Tage bringt, aber er verliert den feſten Boden der Grenze, welchen alles Schöne fordert (§. 30 ff.). 1. Weiße (Aeſth. §. 32) ſieht in dem Witze daſſelbe Leihen wie im Komiſchen überhaupt, nur mit höherer Intenſität und Selbſtbewußtſeyn. Daran darf man nur knüpfen, daß durch dieſes beſtimmtere Leihen eben noch beſtimmter die Beſinnung in dem Verirrten entbunden wird, ſo ſteht man in Ruges Anſicht über den Witz. Allein die Vorſtellung, die der Witz herbeibringt, iſt zu entlegen, um ſie ſo zu verſtehen. Wenn z. B. Liskow auf den Magiſter Sievers in Lübeck, welcher als Kämpfer für die Orthodoxie gegen ihn als den Kämpfer für lebendige Sittlichkeit auf der Kanzel ſich in ſolchen Eifer predigte, daß der Wille die unter- geordneten Theile ſeiner Perſönlichkeit zu beherrſchen vergaß, welche nun dieſe Gelegenheit ergriffen und in einem reichlichen materiellen Erguſſe den oberen, geiſtigen zugleich bildlich darzuſtellen beſtrebt waren, (welcher Vorfall, beiläufig geſagt, im burlesken Sinne ganz komiſch iſt auch ohne Satyre, folgendes Epigramm machte: Bei jener edlen Feuchtigkeit, Die jüngſt vom Predigtſtuhl gefloſſen, Erinnerte ich mich der Zeit, Da Paul gepflanzt, Apoll begoſſen; Ich freuete mich inniglich Und ſprach: die Zeiten beſſern ſich; Ein Mann thut, was ſonſt zweene thaten; Drum Spötter, iſt euch noch zu rathen, So lacht nicht, wenn mein Sievers pießt Und wenn er pflanzt, zugleich begießt. ſo kann er dem eifrigen Manne nicht unterlegen wollen, als habe er im figürlichen Sinne den Baum der Kirche begießen wollen und es nur allzu unbildlich ausgeführt; die Vorſtellung des Begießens liegt zu fern, um ſolche Abſicht dem verlachten Subjecte unterzuſchieben. Ebenſo Börnes Witz: „als Pythagoras ſeinen Lehrſatz erfunden hatte, opferte er eine

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/438>, abgerufen am 19.04.2024.