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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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in der Zote, wie Aristophanes, Boccaccio, Luther in allen seinen
Aeußerungen gegen das Verbrechen des Cölibats, Fischart, Shakes-
peare
genugsam beweisen. Auf welche Weise der Zustand der Kirche
verspottet wird, beweisen die Darstellungen von Eseln, die Messe lesen,
von Mönchen, die an Schweins-Eutern trinken u. dgl. Die Posse ist
völlig cynisch. Das Cynische ist keineswegs einfach als Schmutz zu
verstehen, sondern es ist die absichtliche Aufdeckung der Natur in ihren
gröbsten Bedürfnissen aus Opposition gegen die Unnatur, daher wird die
feinste Bildung, wenn es eine Revolution gegen Verkennung der Natur,
gegen den Schein des Erhabenen in falscher Zartheit und Anständigkeit
gilt, cynisch, wie z. B. Göthe in: Götter, Helden und Wieland, und
die gesammte Sturm- und Drangperiode. Der wahre Cynismus ist ein
Kampf der Gesundheit und Sittlichkeit gegen Verbildung und ihre Ver-
dorbenheit. Ja der Stoff für den Cynismus steigt in dem Grade, in
welchem man sich seiner schämt. Je delicater die Bildung wird, desto
mehr erröthet der Geist über seinen Leib, desto mehr Schmutziges gibt
es. Die allgemeine Empfindlichkeit reizt starke Naturen, den Stoff aus-
zubeuten im Namen der Schönheit und ihres Naturrechts. Aber nur
diese negative Stellung rechtfertigt; ist der Kampf zu Ende, so kehrt als
Grundlage die milde Schönheit zurück, welche zwar in Unschuld frei ist,
aber nicht mehr den oppositionellen Accent auf die Naturseite zu legen
nöthig hat; das niedrig Komische kann nicht mehr Tendenz, sondern nur
Moment an seinem Orte seyn. In dieser Einschränkung aber bleibt es
immer berechtigt; befreit das Komische überhaupt, indem es die Grenze
aufdeckt, so soll es auch die Tiefen des Häßlichsten aufdecken, womit der
Geist behaftet ist, und das ganze sogenannte Schmutzige durchwühlen, um
uns zu zeigen, daß wir uns nicht stellen dürfen, als sey uns Verdauung,
Blähung, Aufstoßen, Erbrechen u. dgl. erspart, wenn wir einmal leben,
daß wir aber in und sammt unsern gröbsten Bedürfnissen und Zufällen
doch, gerade indem wir uns in diesem Widerspruch erfassen, freie und
unendliche Wesen sind. Es braucht also nicht nothwendig eine Opposition
gegen eingedrungene Naturlosigkeit der Bildung, um diese Befreiung
vorzunehmen. Schon die blose Möglichkeit einer solchen, die mitten im natur-
gemäßesten Zustande gegeben ist, reizt zum Cynismus und so ist die Posse auch
ohne die besondere Opposition gegen unnatürliche Bildung als Ganzes
überhaupt naiv. Damit ist allerdings überhaupt eine Bildungsstufe be-
zeichnet, doch eine solche, welche den Fortschritt auf eine höhere überlebt,
daher dieses Prädicat ohne Vorgriff hier aufgestellt werden darf. Das

in der Zote, wie Ariſtophanes, Boccaccio, Luther in allen ſeinen
Aeußerungen gegen das Verbrechen des Cölibats, Fiſchart, Shakes-
peare
genugſam beweiſen. Auf welche Weiſe der Zuſtand der Kirche
verſpottet wird, beweiſen die Darſtellungen von Eſeln, die Meſſe leſen,
von Mönchen, die an Schweins-Eutern trinken u. dgl. Die Poſſe iſt
völlig cyniſch. Das Cyniſche iſt keineswegs einfach als Schmutz zu
verſtehen, ſondern es iſt die abſichtliche Aufdeckung der Natur in ihren
gröbſten Bedürfniſſen aus Oppoſition gegen die Unnatur, daher wird die
feinſte Bildung, wenn es eine Revolution gegen Verkennung der Natur,
gegen den Schein des Erhabenen in falſcher Zartheit und Anſtändigkeit
gilt, cyniſch, wie z. B. Göthe in: Götter, Helden und Wieland, und
die geſammte Sturm- und Drangperiode. Der wahre Cynismus iſt ein
Kampf der Geſundheit und Sittlichkeit gegen Verbildung und ihre Ver-
dorbenheit. Ja der Stoff für den Cynismus ſteigt in dem Grade, in
welchem man ſich ſeiner ſchämt. Je delicater die Bildung wird, deſto
mehr erröthet der Geiſt über ſeinen Leib, deſto mehr Schmutziges gibt
es. Die allgemeine Empfindlichkeit reizt ſtarke Naturen, den Stoff aus-
zubeuten im Namen der Schönheit und ihres Naturrechts. Aber nur
dieſe negative Stellung rechtfertigt; iſt der Kampf zu Ende, ſo kehrt als
Grundlage die milde Schönheit zurück, welche zwar in Unſchuld frei iſt,
aber nicht mehr den oppoſitionellen Accent auf die Naturſeite zu legen
nöthig hat; das niedrig Komiſche kann nicht mehr Tendenz, ſondern nur
Moment an ſeinem Orte ſeyn. In dieſer Einſchränkung aber bleibt es
immer berechtigt; befreit das Komiſche überhaupt, indem es die Grenze
aufdeckt, ſo ſoll es auch die Tiefen des Häßlichſten aufdecken, womit der
Geiſt behaftet iſt, und das ganze ſogenannte Schmutzige durchwühlen, um
uns zu zeigen, daß wir uns nicht ſtellen dürfen, als ſey uns Verdauung,
Blähung, Aufſtoßen, Erbrechen u. dgl. erſpart, wenn wir einmal leben,
daß wir aber in und ſammt unſern gröbſten Bedürfniſſen und Zufällen
doch, gerade indem wir uns in dieſem Widerſpruch erfaſſen, freie und
unendliche Weſen ſind. Es braucht alſo nicht nothwendig eine Oppoſition
gegen eingedrungene Naturloſigkeit der Bildung, um dieſe Befreiung
vorzunehmen. Schon die bloſe Möglichkeit einer ſolchen, die mitten im natur-
gemäßeſten Zuſtande gegeben iſt, reizt zum Cynismus und ſo iſt die Poſſe auch
ohne die beſondere Oppoſition gegen unnatürliche Bildung als Ganzes
überhaupt naiv. Damit iſt allerdings überhaupt eine Bildungsſtufe be-
zeichnet, doch eine ſolche, welche den Fortſchritt auf eine höhere überlebt,
daher dieſes Prädicat ohne Vorgriff hier aufgeſtellt werden darf. Das

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[413/0427] in der Zote, wie Ariſtophanes, Boccaccio, Luther in allen ſeinen Aeußerungen gegen das Verbrechen des Cölibats, Fiſchart, Shakes- peare genugſam beweiſen. Auf welche Weiſe der Zuſtand der Kirche verſpottet wird, beweiſen die Darſtellungen von Eſeln, die Meſſe leſen, von Mönchen, die an Schweins-Eutern trinken u. dgl. Die Poſſe iſt völlig cyniſch. Das Cyniſche iſt keineswegs einfach als Schmutz zu verſtehen, ſondern es iſt die abſichtliche Aufdeckung der Natur in ihren gröbſten Bedürfniſſen aus Oppoſition gegen die Unnatur, daher wird die feinſte Bildung, wenn es eine Revolution gegen Verkennung der Natur, gegen den Schein des Erhabenen in falſcher Zartheit und Anſtändigkeit gilt, cyniſch, wie z. B. Göthe in: Götter, Helden und Wieland, und die geſammte Sturm- und Drangperiode. Der wahre Cynismus iſt ein Kampf der Geſundheit und Sittlichkeit gegen Verbildung und ihre Ver- dorbenheit. Ja der Stoff für den Cynismus ſteigt in dem Grade, in welchem man ſich ſeiner ſchämt. Je delicater die Bildung wird, deſto mehr erröthet der Geiſt über ſeinen Leib, deſto mehr Schmutziges gibt es. Die allgemeine Empfindlichkeit reizt ſtarke Naturen, den Stoff aus- zubeuten im Namen der Schönheit und ihres Naturrechts. Aber nur dieſe negative Stellung rechtfertigt; iſt der Kampf zu Ende, ſo kehrt als Grundlage die milde Schönheit zurück, welche zwar in Unſchuld frei iſt, aber nicht mehr den oppoſitionellen Accent auf die Naturſeite zu legen nöthig hat; das niedrig Komiſche kann nicht mehr Tendenz, ſondern nur Moment an ſeinem Orte ſeyn. In dieſer Einſchränkung aber bleibt es immer berechtigt; befreit das Komiſche überhaupt, indem es die Grenze aufdeckt, ſo ſoll es auch die Tiefen des Häßlichſten aufdecken, womit der Geiſt behaftet iſt, und das ganze ſogenannte Schmutzige durchwühlen, um uns zu zeigen, daß wir uns nicht ſtellen dürfen, als ſey uns Verdauung, Blähung, Aufſtoßen, Erbrechen u. dgl. erſpart, wenn wir einmal leben, daß wir aber in und ſammt unſern gröbſten Bedürfniſſen und Zufällen doch, gerade indem wir uns in dieſem Widerſpruch erfaſſen, freie und unendliche Weſen ſind. Es braucht alſo nicht nothwendig eine Oppoſition gegen eingedrungene Naturloſigkeit der Bildung, um dieſe Befreiung vorzunehmen. Schon die bloſe Möglichkeit einer ſolchen, die mitten im natur- gemäßeſten Zuſtande gegeben iſt, reizt zum Cynismus und ſo iſt die Poſſe auch ohne die beſondere Oppoſition gegen unnatürliche Bildung als Ganzes überhaupt naiv. Damit iſt allerdings überhaupt eine Bildungsſtufe be- zeichnet, doch eine ſolche, welche den Fortſchritt auf eine höhere überlebt, daher dieſes Prädicat ohne Vorgriff hier aufgeſtellt werden darf. Das

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 413. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/427>, abgerufen am 19.04.2024.