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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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S. 23 ff.). Allein Schütze faßt das Komische zu eng, indem er das Selbst-
bewußte sogleich als Freiheit versteht, also an die Verirrungen des praktischen
Geistes denkt. Er führt freilich auch Verirrungen des denkenden Geistes
auf, aber ohne bestimmte Eintheilung, und darin, daß sie die verschiedenen
Formen des Geistes, welche dem Komischen verfallen können, nicht unter-
schieden und in deutlicher Ordnung aufgeführt haben, zeigen sich alle bis-
herigen Untersuchungen des Komischen, auch die Ruge'sche, als mangelhaft.

3. Dem Naiven im engeren Sinne als einer Verletzung künstlicher
Form- und Anstandsgesetze durch unschuldige Natur, wo sie nicht er-
wartet wurde, weisen wir hier seine Stelle an, weil der Begriff des
Naiven überhaupt sogleich darauf führt. Sonst hätte es auch bei den
Verirrungen des praktischen Geistes seinen Ort finden können oder am
Schlusse des vorliegenden Gebiets, des Komischen der subjectiven Er-
habenheit. Der Mensch stellt seine geistige Würde in conventionellen
Formen des Anstands dar. Er zeigt durch ein Zurückhalten, ein Ansich-
halten und Verhüllen, daß er nicht blose Natur ist. Dies kann nun
ebensogut gefaßt werden als eine Vorbereitung und Vorankündigung der
wahren geistigen Würde, wie als ein Ausdruck der letzteren als einer
vorhandenen. Es wird nichts dagegen eingewandt werden, daß wir uns
vom Zusammenhang bestimmen ließen, die erste Stellung zu wählen.
Was nun die Sache betrifft, so ist das Verhalten des einfach Schönen
zu den Formen conventioneller Scham als ein völlig unbefangenes in
§. 60 dargestellt worden. Hier ist kein Gegensatz, außer der in der
Anm. zum gegenw. §. unter 2 genannte, der außerhalb des ästhetischen
Gegenstandes liegt. Dagegen zu dem im engeren Sinne Naiven wird
natürlich wie zum Naiven überhaupt, wenn es als gleichbedeutend mit
dem Komischen genommen wird, gefordert, daß im ästhetischen Vorgange
selbst, nicht außerhalb im Betrachtenden, künstliche Zurückhaltung der
Natur zunächst als geltend erscheine, dann plötzlich durch den Eintritt
wahrer Natur überrascht werde. In der Lehre vom Erhabenen konnte
der Anstand nicht aufgeführt werden, wiewohl er jetzt als eine Art Er-
habenheit genannt wird, die dem Komischen verfällt; denn auch mit dieser
Erscheinung verhält es sich so, daß sie, wenn sie nicht durch einen Contrast
betont wird, zu gering ist, um an sich erhaben genannt zu werden. Es
gibt wohl einen erhabenen Anstand; er gehört zum Feierlichen und zur
Würde, allein er hat eine zu tiefe Grundlage, um unter die blose Ein-
haltung formeller Rücksichten, von der hier die Rede ist, befaßt zu werden
und so eine besondere Form des Erhabenen zu begründen, wo dieses als

S. 23 ff.). Allein Schütze faßt das Komiſche zu eng, indem er das Selbſt-
bewußte ſogleich als Freiheit verſteht, alſo an die Verirrungen des praktiſchen
Geiſtes denkt. Er führt freilich auch Verirrungen des denkenden Geiſtes
auf, aber ohne beſtimmte Eintheilung, und darin, daß ſie die verſchiedenen
Formen des Geiſtes, welche dem Komiſchen verfallen können, nicht unter-
ſchieden und in deutlicher Ordnung aufgeführt haben, zeigen ſich alle bis-
herigen Unterſuchungen des Komiſchen, auch die Ruge’ſche, als mangelhaft.

3. Dem Naiven im engeren Sinne als einer Verletzung künſtlicher
Form- und Anſtandsgeſetze durch unſchuldige Natur, wo ſie nicht er-
wartet wurde, weiſen wir hier ſeine Stelle an, weil der Begriff des
Naiven überhaupt ſogleich darauf führt. Sonſt hätte es auch bei den
Verirrungen des praktiſchen Geiſtes ſeinen Ort finden können oder am
Schluſſe des vorliegenden Gebiets, des Komiſchen der ſubjectiven Er-
habenheit. Der Menſch ſtellt ſeine geiſtige Würde in conventionellen
Formen des Anſtands dar. Er zeigt durch ein Zurückhalten, ein Anſich-
halten und Verhüllen, daß er nicht bloſe Natur iſt. Dies kann nun
ebenſogut gefaßt werden als eine Vorbereitung und Vorankündigung der
wahren geiſtigen Würde, wie als ein Ausdruck der letzteren als einer
vorhandenen. Es wird nichts dagegen eingewandt werden, daß wir uns
vom Zuſammenhang beſtimmen ließen, die erſte Stellung zu wählen.
Was nun die Sache betrifft, ſo iſt das Verhalten des einfach Schönen
zu den Formen conventioneller Scham als ein völlig unbefangenes in
§. 60 dargeſtellt worden. Hier iſt kein Gegenſatz, außer der in der
Anm. zum gegenw. §. unter 2 genannte, der außerhalb des äſthetiſchen
Gegenſtandes liegt. Dagegen zu dem im engeren Sinne Naiven wird
natürlich wie zum Naiven überhaupt, wenn es als gleichbedeutend mit
dem Komiſchen genommen wird, gefordert, daß im äſthetiſchen Vorgange
ſelbſt, nicht außerhalb im Betrachtenden, künſtliche Zurückhaltung der
Natur zunächſt als geltend erſcheine, dann plötzlich durch den Eintritt
wahrer Natur überraſcht werde. In der Lehre vom Erhabenen konnte
der Anſtand nicht aufgeführt werden, wiewohl er jetzt als eine Art Er-
habenheit genannt wird, die dem Komiſchen verfällt; denn auch mit dieſer
Erſcheinung verhält es ſich ſo, daß ſie, wenn ſie nicht durch einen Contraſt
betont wird, zu gering iſt, um an ſich erhaben genannt zu werden. Es
gibt wohl einen erhabenen Anſtand; er gehört zum Feierlichen und zur
Würde, allein er hat eine zu tiefe Grundlage, um unter die bloſe Ein-
haltung formeller Rückſichten, von der hier die Rede iſt, befaßt zu werden
und ſo eine beſondere Form des Erhabenen zu begründen, wo dieſes als

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[359/0373] S. 23 ff.). Allein Schütze faßt das Komiſche zu eng, indem er das Selbſt- bewußte ſogleich als Freiheit verſteht, alſo an die Verirrungen des praktiſchen Geiſtes denkt. Er führt freilich auch Verirrungen des denkenden Geiſtes auf, aber ohne beſtimmte Eintheilung, und darin, daß ſie die verſchiedenen Formen des Geiſtes, welche dem Komiſchen verfallen können, nicht unter- ſchieden und in deutlicher Ordnung aufgeführt haben, zeigen ſich alle bis- herigen Unterſuchungen des Komiſchen, auch die Ruge’ſche, als mangelhaft. 3. Dem Naiven im engeren Sinne als einer Verletzung künſtlicher Form- und Anſtandsgeſetze durch unſchuldige Natur, wo ſie nicht er- wartet wurde, weiſen wir hier ſeine Stelle an, weil der Begriff des Naiven überhaupt ſogleich darauf führt. Sonſt hätte es auch bei den Verirrungen des praktiſchen Geiſtes ſeinen Ort finden können oder am Schluſſe des vorliegenden Gebiets, des Komiſchen der ſubjectiven Er- habenheit. Der Menſch ſtellt ſeine geiſtige Würde in conventionellen Formen des Anſtands dar. Er zeigt durch ein Zurückhalten, ein Anſich- halten und Verhüllen, daß er nicht bloſe Natur iſt. Dies kann nun ebenſogut gefaßt werden als eine Vorbereitung und Vorankündigung der wahren geiſtigen Würde, wie als ein Ausdruck der letzteren als einer vorhandenen. Es wird nichts dagegen eingewandt werden, daß wir uns vom Zuſammenhang beſtimmen ließen, die erſte Stellung zu wählen. Was nun die Sache betrifft, ſo iſt das Verhalten des einfach Schönen zu den Formen conventioneller Scham als ein völlig unbefangenes in §. 60 dargeſtellt worden. Hier iſt kein Gegenſatz, außer der in der Anm. zum gegenw. §. unter 2 genannte, der außerhalb des äſthetiſchen Gegenſtandes liegt. Dagegen zu dem im engeren Sinne Naiven wird natürlich wie zum Naiven überhaupt, wenn es als gleichbedeutend mit dem Komiſchen genommen wird, gefordert, daß im äſthetiſchen Vorgange ſelbſt, nicht außerhalb im Betrachtenden, künſtliche Zurückhaltung der Natur zunächſt als geltend erſcheine, dann plötzlich durch den Eintritt wahrer Natur überraſcht werde. In der Lehre vom Erhabenen konnte der Anſtand nicht aufgeführt werden, wiewohl er jetzt als eine Art Er- habenheit genannt wird, die dem Komiſchen verfällt; denn auch mit dieſer Erſcheinung verhält es ſich ſo, daß ſie, wenn ſie nicht durch einen Contraſt betont wird, zu gering iſt, um an ſich erhaben genannt zu werden. Es gibt wohl einen erhabenen Anſtand; er gehört zum Feierlichen und zur Würde, allein er hat eine zu tiefe Grundlage, um unter die bloſe Ein- haltung formeller Rückſichten, von der hier die Rede iſt, befaßt zu werden und ſo eine beſondere Form des Erhabenen zu begründen, wo dieſes als

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/373>, abgerufen am 22.11.2024.