Geistes, dem das Ganze dient, einen ungleich bestimmteren Anhalt dar- bietet, das selbstbewußte Thun schon dem dunkeln Bildungsgesetz des Körpers unterzuschieben und nun sich vorzustellen, als habe dieses sich trotz allem Bewußtseyn vergriffen. Ebenso ist es mit den Bewegungen; z. B. die Bewegung der Organe im Sprechen ist instinctmäßig, aber der Inhalt der Rede ist bewußt und gewollt und daher erscheint Stottern, Lallen u. dergl. als Widerspruch eines nicht blos instinctmäßigen, sondern geistigen Thuns mit sich selbst. Dahin gehören z. B. auch die Be- wegungen eines Trunkenen, wenn man von allem sittlich Imputabeln des Zustands abstrahirt: sie sind gewollte, aber die Organe, welche die Ausführung instinkimäßig übernehmen sollen, versagen den Dienst.
2. Der Begriff des Navien ist so unbestimmt weit, daß er auf den verschiedensten Punkten der Aesthetik hervortritt. Zunächst kann das Schöne überhaupt als Naives bezeichnet werden, weil das Naive eine reine Einheit des Geistigen und Natürlichen in sich darstellt, dann auch das Erhabene, weil es als Pathos die Kraft des Affects mit der Kraft des reinen Willens vereinigt. Es sind aber Gründe vorhanden, diese Bestimmung in der Metaphysik des Schönen nicht zu gebrauchen. Für's Erste nämlich ist der Ausdruck subjectiv und bezeichnet, wenn er allgemein dem Schönen gelten soll, bereits das Wesen der das Schöne schaffenden Kraft und Persönlichkeit, die Phantasie nämlich als jene reine Mitte eines bewußten, geistigen und eines unbewußten, sinnlichen Thuns. Naiv ist der Künstler in seinem Werke. Für's Andere ist aber im Begriffe des Naiven immer ein gegensätzlicher Standpunkt des Urtheilenden mitgesetzt. Naiv nennt das Schöne derjenige, der selbst jene reine Einheit geistiger und sinnlicher Be- stimmtheit verloren hat. Hier zieht sich nun allerdings schon ein Anklang des Komischen herein, der aber nicht in diesen Zusammenhang gehört, denn das Schöne weiß nichts davon, daß es außer seiner ganzen Natur eine getrennte gibt. In die allgemeine Begriffslehre des Schönen gehört daher das Naive noch nicht. Der zweite der eben genannten Gründe führt nun weiter auf das culturgeschichtliche Feld. Jede vorhergehende Bildungsstufe erscheint der folgenden als eine naive, weil sie im Verhältniß zu ihr ein bewußtloserer Zustand ist, ebenso im Kleinen das vorhergehende Lebens- alter dem reiferen, das weibliche Geschlecht dem männlichen, das Volk den gebildeten Ständen. Dies ist zunächst eine allgemeine Relation, welche aber auf die Aesthetik so angewendet werden kann, daß je die frühere Epoche des Kunstideals der folgenden höheren als naiv erscheint, weil die Einheit des Bewußten und Unbewußten, die zwar aller Phantasie eigen
Geiſtes, dem das Ganze dient, einen ungleich beſtimmteren Anhalt dar- bietet, das ſelbſtbewußte Thun ſchon dem dunkeln Bildungsgeſetz des Körpers unterzuſchieben und nun ſich vorzuſtellen, als habe dieſes ſich trotz allem Bewußtſeyn vergriffen. Ebenſo iſt es mit den Bewegungen; z. B. die Bewegung der Organe im Sprechen iſt inſtinctmäßig, aber der Inhalt der Rede iſt bewußt und gewollt und daher erſcheint Stottern, Lallen u. dergl. als Widerſpruch eines nicht blos inſtinctmäßigen, ſondern geiſtigen Thuns mit ſich ſelbſt. Dahin gehören z. B. auch die Be- wegungen eines Trunkenen, wenn man von allem ſittlich Imputabeln des Zuſtands abſtrahirt: ſie ſind gewollte, aber die Organe, welche die Ausführung inſtinkimäßig übernehmen ſollen, verſagen den Dienſt.
2. Der Begriff des Navien iſt ſo unbeſtimmt weit, daß er auf den verſchiedenſten Punkten der Aeſthetik hervortritt. Zunächſt kann das Schöne überhaupt als Naives bezeichnet werden, weil das Naive eine reine Einheit des Geiſtigen und Natürlichen in ſich darſtellt, dann auch das Erhabene, weil es als Pathos die Kraft des Affects mit der Kraft des reinen Willens vereinigt. Es ſind aber Gründe vorhanden, dieſe Beſtimmung in der Metaphyſik des Schönen nicht zu gebrauchen. Für’s Erſte nämlich iſt der Ausdruck ſubjectiv und bezeichnet, wenn er allgemein dem Schönen gelten ſoll, bereits das Weſen der das Schöne ſchaffenden Kraft und Perſönlichkeit, die Phantaſie nämlich als jene reine Mitte eines bewußten, geiſtigen und eines unbewußten, ſinnlichen Thuns. Naiv iſt der Künſtler in ſeinem Werke. Für’s Andere iſt aber im Begriffe des Naiven immer ein gegenſätzlicher Standpunkt des Urtheilenden mitgeſetzt. Naiv nennt das Schöne derjenige, der ſelbſt jene reine Einheit geiſtiger und ſinnlicher Be- ſtimmtheit verloren hat. Hier zieht ſich nun allerdings ſchon ein Anklang des Komiſchen herein, der aber nicht in dieſen Zuſammenhang gehört, denn das Schöne weiß nichts davon, daß es außer ſeiner ganzen Natur eine getrennte gibt. In die allgemeine Begriffslehre des Schönen gehört daher das Naive noch nicht. Der zweite der eben genannten Gründe führt nun weiter auf das culturgeſchichtliche Feld. Jede vorhergehende Bildungsſtufe erſcheint der folgenden als eine naive, weil ſie im Verhältniß zu ihr ein bewußtloſerer Zuſtand iſt, ebenſo im Kleinen das vorhergehende Lebens- alter dem reiferen, das weibliche Geſchlecht dem männlichen, das Volk den gebildeten Ständen. Dies iſt zunächſt eine allgemeine Relation, welche aber auf die Aeſthetik ſo angewendet werden kann, daß je die frühere Epoche des Kunſtideals der folgenden höheren als naiv erſcheint, weil die Einheit des Bewußten und Unbewußten, die zwar aller Phantaſie eigen
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Geiſtes, dem das Ganze dient, einen ungleich beſtimmteren Anhalt dar-
bietet, das ſelbſtbewußte Thun ſchon dem dunkeln Bildungsgeſetz des
Körpers unterzuſchieben und nun ſich vorzuſtellen, als habe dieſes ſich
trotz allem Bewußtſeyn vergriffen. Ebenſo iſt es mit den Bewegungen;
z. B. die Bewegung der Organe im Sprechen iſt inſtinctmäßig, aber
der Inhalt der Rede iſt bewußt und gewollt und daher erſcheint Stottern,
Lallen u. dergl. als Widerſpruch eines nicht blos inſtinctmäßigen, ſondern
geiſtigen Thuns mit ſich ſelbſt. Dahin gehören z. B. auch die Be-
wegungen eines Trunkenen, wenn man von allem ſittlich Imputabeln
des Zuſtands abſtrahirt: ſie ſind gewollte, aber die Organe, welche die
Ausführung inſtinkimäßig übernehmen ſollen, verſagen den Dienſt.
2. Der Begriff des Navien iſt ſo unbeſtimmt weit, daß er auf den
verſchiedenſten Punkten der Aeſthetik hervortritt. Zunächſt kann das Schöne
überhaupt als Naives bezeichnet werden, weil das Naive eine reine Einheit
des Geiſtigen und Natürlichen in ſich darſtellt, dann auch das Erhabene,
weil es als Pathos die Kraft des Affects mit der Kraft des reinen Willens
vereinigt. Es ſind aber Gründe vorhanden, dieſe Beſtimmung in der
Metaphyſik des Schönen nicht zu gebrauchen. Für’s Erſte nämlich iſt
der Ausdruck ſubjectiv und bezeichnet, wenn er allgemein dem Schönen
gelten ſoll, bereits das Weſen der das Schöne ſchaffenden Kraft und
Perſönlichkeit, die Phantaſie nämlich als jene reine Mitte eines bewußten,
geiſtigen und eines unbewußten, ſinnlichen Thuns. Naiv iſt der Künſtler
in ſeinem Werke. Für’s Andere iſt aber im Begriffe des Naiven immer
ein gegenſätzlicher Standpunkt des Urtheilenden mitgeſetzt. Naiv nennt das
Schöne derjenige, der ſelbſt jene reine Einheit geiſtiger und ſinnlicher Be-
ſtimmtheit verloren hat. Hier zieht ſich nun allerdings ſchon ein Anklang
des Komiſchen herein, der aber nicht in dieſen Zuſammenhang gehört, denn
das Schöne weiß nichts davon, daß es außer ſeiner ganzen Natur eine
getrennte gibt. In die allgemeine Begriffslehre des Schönen gehört daher
das Naive noch nicht. Der zweite der eben genannten Gründe führt nun
weiter auf das culturgeſchichtliche Feld. Jede vorhergehende Bildungsſtufe
erſcheint der folgenden als eine naive, weil ſie im Verhältniß zu ihr ein
bewußtloſerer Zuſtand iſt, ebenſo im Kleinen das vorhergehende Lebens-
alter dem reiferen, das weibliche Geſchlecht dem männlichen, das Volk den
gebildeten Ständen. Dies iſt zunächſt eine allgemeine Relation, welche
aber auf die Aeſthetik ſo angewendet werden kann, daß je die frühere
Epoche des Kunſtideals der folgenden höheren als naiv erſcheint, weil die
Einheit des Bewußten und Unbewußten, die zwar aller Phantaſie eigen
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/371>, abgerufen am 21.11.2024.
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