Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

Geistes, dem das Ganze dient, einen ungleich bestimmteren Anhalt dar-
bietet, das selbstbewußte Thun schon dem dunkeln Bildungsgesetz des
Körpers unterzuschieben und nun sich vorzustellen, als habe dieses sich
trotz allem Bewußtseyn vergriffen. Ebenso ist es mit den Bewegungen;
z. B. die Bewegung der Organe im Sprechen ist instinctmäßig, aber
der Inhalt der Rede ist bewußt und gewollt und daher erscheint Stottern,
Lallen u. dergl. als Widerspruch eines nicht blos instinctmäßigen, sondern
geistigen Thuns mit sich selbst. Dahin gehören z. B. auch die Be-
wegungen eines Trunkenen, wenn man von allem sittlich Imputabeln
des Zustands abstrahirt: sie sind gewollte, aber die Organe, welche die
Ausführung instinkimäßig übernehmen sollen, versagen den Dienst.

2. Der Begriff des Navien ist so unbestimmt weit, daß er auf den
verschiedensten Punkten der Aesthetik hervortritt. Zunächst kann das Schöne
überhaupt als Naives bezeichnet werden, weil das Naive eine reine Einheit
des Geistigen und Natürlichen in sich darstellt, dann auch das Erhabene,
weil es als Pathos die Kraft des Affects mit der Kraft des reinen Willens
vereinigt. Es sind aber Gründe vorhanden, diese Bestimmung in der
Metaphysik des Schönen nicht zu gebrauchen. Für's Erste nämlich ist
der Ausdruck subjectiv und bezeichnet, wenn er allgemein dem Schönen
gelten soll, bereits das Wesen der das Schöne schaffenden Kraft und
Persönlichkeit, die Phantasie nämlich als jene reine Mitte eines bewußten,
geistigen und eines unbewußten, sinnlichen Thuns. Naiv ist der Künstler
in seinem Werke. Für's Andere ist aber im Begriffe des Naiven immer
ein gegensätzlicher Standpunkt des Urtheilenden mitgesetzt. Naiv nennt das
Schöne derjenige, der selbst jene reine Einheit geistiger und sinnlicher Be-
stimmtheit verloren hat. Hier zieht sich nun allerdings schon ein Anklang
des Komischen herein, der aber nicht in diesen Zusammenhang gehört, denn
das Schöne weiß nichts davon, daß es außer seiner ganzen Natur eine
getrennte gibt. In die allgemeine Begriffslehre des Schönen gehört daher
das Naive noch nicht. Der zweite der eben genannten Gründe führt nun
weiter auf das culturgeschichtliche Feld. Jede vorhergehende Bildungsstufe
erscheint der folgenden als eine naive, weil sie im Verhältniß zu ihr ein
bewußtloserer Zustand ist, ebenso im Kleinen das vorhergehende Lebens-
alter dem reiferen, das weibliche Geschlecht dem männlichen, das Volk den
gebildeten Ständen. Dies ist zunächst eine allgemeine Relation, welche
aber auf die Aesthetik so angewendet werden kann, daß je die frühere
Epoche des Kunstideals der folgenden höheren als naiv erscheint, weil die
Einheit des Bewußten und Unbewußten, die zwar aller Phantasie eigen

Geiſtes, dem das Ganze dient, einen ungleich beſtimmteren Anhalt dar-
bietet, das ſelbſtbewußte Thun ſchon dem dunkeln Bildungsgeſetz des
Körpers unterzuſchieben und nun ſich vorzuſtellen, als habe dieſes ſich
trotz allem Bewußtſeyn vergriffen. Ebenſo iſt es mit den Bewegungen;
z. B. die Bewegung der Organe im Sprechen iſt inſtinctmäßig, aber
der Inhalt der Rede iſt bewußt und gewollt und daher erſcheint Stottern,
Lallen u. dergl. als Widerſpruch eines nicht blos inſtinctmäßigen, ſondern
geiſtigen Thuns mit ſich ſelbſt. Dahin gehören z. B. auch die Be-
wegungen eines Trunkenen, wenn man von allem ſittlich Imputabeln
des Zuſtands abſtrahirt: ſie ſind gewollte, aber die Organe, welche die
Ausführung inſtinkimäßig übernehmen ſollen, verſagen den Dienſt.

2. Der Begriff des Navien iſt ſo unbeſtimmt weit, daß er auf den
verſchiedenſten Punkten der Aeſthetik hervortritt. Zunächſt kann das Schöne
überhaupt als Naives bezeichnet werden, weil das Naive eine reine Einheit
des Geiſtigen und Natürlichen in ſich darſtellt, dann auch das Erhabene,
weil es als Pathos die Kraft des Affects mit der Kraft des reinen Willens
vereinigt. Es ſind aber Gründe vorhanden, dieſe Beſtimmung in der
Metaphyſik des Schönen nicht zu gebrauchen. Für’s Erſte nämlich iſt
der Ausdruck ſubjectiv und bezeichnet, wenn er allgemein dem Schönen
gelten ſoll, bereits das Weſen der das Schöne ſchaffenden Kraft und
Perſönlichkeit, die Phantaſie nämlich als jene reine Mitte eines bewußten,
geiſtigen und eines unbewußten, ſinnlichen Thuns. Naiv iſt der Künſtler
in ſeinem Werke. Für’s Andere iſt aber im Begriffe des Naiven immer
ein gegenſätzlicher Standpunkt des Urtheilenden mitgeſetzt. Naiv nennt das
Schöne derjenige, der ſelbſt jene reine Einheit geiſtiger und ſinnlicher Be-
ſtimmtheit verloren hat. Hier zieht ſich nun allerdings ſchon ein Anklang
des Komiſchen herein, der aber nicht in dieſen Zuſammenhang gehört, denn
das Schöne weiß nichts davon, daß es außer ſeiner ganzen Natur eine
getrennte gibt. In die allgemeine Begriffslehre des Schönen gehört daher
das Naive noch nicht. Der zweite der eben genannten Gründe führt nun
weiter auf das culturgeſchichtliche Feld. Jede vorhergehende Bildungsſtufe
erſcheint der folgenden als eine naive, weil ſie im Verhältniß zu ihr ein
bewußtloſerer Zuſtand iſt, ebenſo im Kleinen das vorhergehende Lebens-
alter dem reiferen, das weibliche Geſchlecht dem männlichen, das Volk den
gebildeten Ständen. Dies iſt zunächſt eine allgemeine Relation, welche
aber auf die Aeſthetik ſo angewendet werden kann, daß je die frühere
Epoche des Kunſtideals der folgenden höheren als naiv erſcheint, weil die
Einheit des Bewußten und Unbewußten, die zwar aller Phantaſie eigen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0371" n="357"/>
Gei&#x017F;tes, dem das Ganze dient, einen ungleich be&#x017F;timmteren Anhalt dar-<lb/>
bietet, das &#x017F;elb&#x017F;tbewußte Thun &#x017F;chon dem dunkeln Bildungsge&#x017F;etz des<lb/>
Körpers unterzu&#x017F;chieben und nun &#x017F;ich vorzu&#x017F;tellen, als habe die&#x017F;es &#x017F;ich<lb/>
trotz allem Bewußt&#x017F;eyn vergriffen. Eben&#x017F;o i&#x017F;t es mit den Bewegungen;<lb/>
z. B. die Bewegung der Organe im Sprechen i&#x017F;t in&#x017F;tinctmäßig, aber<lb/>
der Inhalt der Rede i&#x017F;t bewußt und gewollt und daher er&#x017F;cheint Stottern,<lb/>
Lallen u. dergl. als Wider&#x017F;pruch eines nicht blos in&#x017F;tinctmäßigen, &#x017F;ondern<lb/>
gei&#x017F;tigen Thuns mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t. Dahin gehören z. B. auch die Be-<lb/>
wegungen eines Trunkenen, wenn man von allem &#x017F;ittlich Imputabeln<lb/>
des Zu&#x017F;tands ab&#x017F;trahirt: &#x017F;ie &#x017F;ind gewollte, aber die Organe, welche die<lb/>
Ausführung in&#x017F;tinkimäßig übernehmen &#x017F;ollen, ver&#x017F;agen den Dien&#x017F;t.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">2. Der Begriff des <hi rendition="#g">Navien</hi> i&#x017F;t &#x017F;o unbe&#x017F;timmt weit, daß er auf den<lb/>
ver&#x017F;chieden&#x017F;ten Punkten der Ae&#x017F;thetik hervortritt. Zunäch&#x017F;t kann das Schöne<lb/>
überhaupt als Naives bezeichnet werden, weil das Naive eine reine Einheit<lb/>
des Gei&#x017F;tigen und Natürlichen in &#x017F;ich dar&#x017F;tellt, dann auch das Erhabene,<lb/>
weil es als Pathos die Kraft des Affects mit der Kraft des reinen Willens<lb/>
vereinigt. Es &#x017F;ind aber Gründe vorhanden, die&#x017F;e Be&#x017F;timmung in der<lb/>
Metaphy&#x017F;ik des Schönen nicht zu gebrauchen. Für&#x2019;s Er&#x017F;te nämlich i&#x017F;t<lb/>
der Ausdruck &#x017F;ubjectiv und bezeichnet, wenn er allgemein dem Schönen<lb/>
gelten &#x017F;oll, bereits das We&#x017F;en der das Schöne &#x017F;chaffenden Kraft und<lb/>
Per&#x017F;önlichkeit, die Phanta&#x017F;ie nämlich als jene reine Mitte eines bewußten,<lb/>
gei&#x017F;tigen und eines unbewußten, &#x017F;innlichen Thuns. Naiv i&#x017F;t der Kün&#x017F;tler<lb/>
in &#x017F;einem Werke. Für&#x2019;s Andere i&#x017F;t aber im Begriffe des Naiven immer<lb/>
ein gegen&#x017F;ätzlicher Standpunkt des Urtheilenden mitge&#x017F;etzt. Naiv nennt das<lb/>
Schöne derjenige, der &#x017F;elb&#x017F;t jene reine Einheit gei&#x017F;tiger und &#x017F;innlicher Be-<lb/>
&#x017F;timmtheit verloren hat. Hier zieht &#x017F;ich nun allerdings &#x017F;chon ein Anklang<lb/>
des Komi&#x017F;chen herein, der aber nicht in die&#x017F;en Zu&#x017F;ammenhang gehört, denn<lb/>
das Schöne weiß nichts davon, daß es außer &#x017F;einer ganzen Natur eine<lb/>
getrennte gibt. In die allgemeine Begriffslehre des Schönen gehört daher<lb/>
das Naive noch nicht. Der zweite der eben genannten Gründe führt nun<lb/>
weiter auf das culturge&#x017F;chichtliche Feld. Jede vorhergehende Bildungs&#x017F;tufe<lb/>
er&#x017F;cheint der folgenden als eine naive, weil &#x017F;ie im Verhältniß zu ihr ein<lb/>
bewußtlo&#x017F;erer Zu&#x017F;tand i&#x017F;t, eben&#x017F;o im Kleinen das vorhergehende Lebens-<lb/>
alter dem reiferen, das weibliche Ge&#x017F;chlecht dem männlichen, das Volk den<lb/>
gebildeten Ständen. Dies i&#x017F;t zunäch&#x017F;t eine allgemeine Relation, welche<lb/>
aber auf die Ae&#x017F;thetik &#x017F;o angewendet werden kann, daß je die frühere<lb/>
Epoche des Kun&#x017F;tideals der folgenden höheren als naiv er&#x017F;cheint, weil die<lb/>
Einheit des Bewußten und Unbewußten, die zwar aller Phanta&#x017F;ie eigen<lb/></hi> </p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[357/0371] Geiſtes, dem das Ganze dient, einen ungleich beſtimmteren Anhalt dar- bietet, das ſelbſtbewußte Thun ſchon dem dunkeln Bildungsgeſetz des Körpers unterzuſchieben und nun ſich vorzuſtellen, als habe dieſes ſich trotz allem Bewußtſeyn vergriffen. Ebenſo iſt es mit den Bewegungen; z. B. die Bewegung der Organe im Sprechen iſt inſtinctmäßig, aber der Inhalt der Rede iſt bewußt und gewollt und daher erſcheint Stottern, Lallen u. dergl. als Widerſpruch eines nicht blos inſtinctmäßigen, ſondern geiſtigen Thuns mit ſich ſelbſt. Dahin gehören z. B. auch die Be- wegungen eines Trunkenen, wenn man von allem ſittlich Imputabeln des Zuſtands abſtrahirt: ſie ſind gewollte, aber die Organe, welche die Ausführung inſtinkimäßig übernehmen ſollen, verſagen den Dienſt. 2. Der Begriff des Navien iſt ſo unbeſtimmt weit, daß er auf den verſchiedenſten Punkten der Aeſthetik hervortritt. Zunächſt kann das Schöne überhaupt als Naives bezeichnet werden, weil das Naive eine reine Einheit des Geiſtigen und Natürlichen in ſich darſtellt, dann auch das Erhabene, weil es als Pathos die Kraft des Affects mit der Kraft des reinen Willens vereinigt. Es ſind aber Gründe vorhanden, dieſe Beſtimmung in der Metaphyſik des Schönen nicht zu gebrauchen. Für’s Erſte nämlich iſt der Ausdruck ſubjectiv und bezeichnet, wenn er allgemein dem Schönen gelten ſoll, bereits das Weſen der das Schöne ſchaffenden Kraft und Perſönlichkeit, die Phantaſie nämlich als jene reine Mitte eines bewußten, geiſtigen und eines unbewußten, ſinnlichen Thuns. Naiv iſt der Künſtler in ſeinem Werke. Für’s Andere iſt aber im Begriffe des Naiven immer ein gegenſätzlicher Standpunkt des Urtheilenden mitgeſetzt. Naiv nennt das Schöne derjenige, der ſelbſt jene reine Einheit geiſtiger und ſinnlicher Be- ſtimmtheit verloren hat. Hier zieht ſich nun allerdings ſchon ein Anklang des Komiſchen herein, der aber nicht in dieſen Zuſammenhang gehört, denn das Schöne weiß nichts davon, daß es außer ſeiner ganzen Natur eine getrennte gibt. In die allgemeine Begriffslehre des Schönen gehört daher das Naive noch nicht. Der zweite der eben genannten Gründe führt nun weiter auf das culturgeſchichtliche Feld. Jede vorhergehende Bildungsſtufe erſcheint der folgenden als eine naive, weil ſie im Verhältniß zu ihr ein bewußtloſerer Zuſtand iſt, ebenſo im Kleinen das vorhergehende Lebens- alter dem reiferen, das weibliche Geſchlecht dem männlichen, das Volk den gebildeten Ständen. Dies iſt zunächſt eine allgemeine Relation, welche aber auf die Aeſthetik ſo angewendet werden kann, daß je die frühere Epoche des Kunſtideals der folgenden höheren als naiv erſcheint, weil die Einheit des Bewußten und Unbewußten, die zwar aller Phantaſie eigen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/371
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/371>, abgerufen am 21.11.2024.