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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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sondern nur auf irgend einem Punkte, der auch ein anderer seyn könnte.
Die Zufälligkeit soll nun also in höherer Weise sich aufheben, wie dazu
der §. den Uebergang nachweist.

2. Viele der angeführten Beispiele enthalten schon, nur nicht in
völliger Ausbildung, die höhere Form, worin zwei Subjecte durch die
innere Einheit der sittlichen Lebenszwecke, die sie durch ihre Einseitigkeit
trennen, aufeinander gespannt sind. In Romeo und Julie tritt die Liebe
mit dem politischen Haß der Familien und dem Willen der Eltern in
Conflict, nur ist diese Seite hier zu unrein, tritt in zu unberechtigter
Form auf, um von einem vollen Conflicte zu reden; im Lear die Vater-
liebe, die kindisch wird, mit der Kindesliebe, die aus Wahrhaftigkeit herb
wird; in Shakespeares englischen Stücken das Recht des Vasallen,
der so gut König seyn kann, als der König, der einst auch Vasall war,
mit dem Rechte des Königs, der es einmal ist, die schuldige Empörung
mit der schuldigen Legitimität; im Hamlet wirft sich der Conflict in den
Busen des Helden, der sich zwischen Wissen des geschehenen Verbrechens und
Nichtwissen, was thun, Entschluß und Unschlüssigkeit in kranker Betrachtung
zerarbeitet. Hegel rückt selbst den Oedipus unter den Standpunkt eines
Widerstreits zwischen einseitig Berechtigten, dem Rechte des Selbstbewußt-
seyns und des Wesens (Phänomenol. S. 348 ff. vergl. S. 553 ff.).
Wallenstein, der manche Momente für die Beleuchtung der zweiten Form
dargeboten hätte, wurde nicht angeführt, weil hier mit Bestimmtheit der
Conflict zwischen dem sich überhebenden Recht des Feldherrn-Genius zur
Selbstherrschaft und der bestehenden Macht, die ihn mißtrauisch belauscht,
als Idee der Tragödie hervortritt.

g.
Das Tragische des sittlichen Conflicts.
§. 135.

Es rücken nunmehr die den tragischen Vorgang bewirkenden Subjecte in
ein Verhältniß zusammen, das sie so enge bindet, daß kein auffallender Eingriff
des Zufalls mehr Raum hat. Das Bindende ist der reinste geistige Mittel-
punkt des in §. 117 ff. entwickelten Complexes der Nothwendigkeit, nämlich
die sittliche Idee als Einheit eines Kreises sittlicher Mächte (§. 120). Aus
diesem Kreise sondert das ästhetische Gesetz der Begrenzung den Gegensatz zweier

ſondern nur auf irgend einem Punkte, der auch ein anderer ſeyn könnte.
Die Zufälligkeit ſoll nun alſo in höherer Weiſe ſich aufheben, wie dazu
der §. den Uebergang nachweist.

2. Viele der angeführten Beiſpiele enthalten ſchon, nur nicht in
völliger Ausbildung, die höhere Form, worin zwei Subjecte durch die
innere Einheit der ſittlichen Lebenszwecke, die ſie durch ihre Einſeitigkeit
trennen, aufeinander geſpannt ſind. In Romeo und Julie tritt die Liebe
mit dem politiſchen Haß der Familien und dem Willen der Eltern in
Conflict, nur iſt dieſe Seite hier zu unrein, tritt in zu unberechtigter
Form auf, um von einem vollen Conflicte zu reden; im Lear die Vater-
liebe, die kindiſch wird, mit der Kindesliebe, die aus Wahrhaftigkeit herb
wird; in Shakespeares engliſchen Stücken das Recht des Vaſallen,
der ſo gut König ſeyn kann, als der König, der einſt auch Vaſall war,
mit dem Rechte des Königs, der es einmal iſt, die ſchuldige Empörung
mit der ſchuldigen Legitimität; im Hamlet wirft ſich der Conflict in den
Buſen des Helden, der ſich zwiſchen Wiſſen des geſchehenen Verbrechens und
Nichtwiſſen, was thun, Entſchluß und Unſchlüſſigkeit in kranker Betrachtung
zerarbeitet. Hegel rückt ſelbſt den Oedipus unter den Standpunkt eines
Widerſtreits zwiſchen einſeitig Berechtigten, dem Rechte des Selbſtbewußt-
ſeyns und des Weſens (Phänomenol. S. 348 ff. vergl. S. 553 ff.).
Wallenſtein, der manche Momente für die Beleuchtung der zweiten Form
dargeboten hätte, wurde nicht angeführt, weil hier mit Beſtimmtheit der
Conflict zwiſchen dem ſich überhebenden Recht des Feldherrn-Genius zur
Selbſtherrſchaft und der beſtehenden Macht, die ihn mißtrauiſch belauſcht,
als Idee der Tragödie hervortritt.

γ.
Das Tragiſche des ſittlichen Conflicts.
§. 135.

Es rücken nunmehr die den tragiſchen Vorgang bewirkenden Subjecte in
ein Verhältniß zuſammen, das ſie ſo enge bindet, daß kein auffallender Eingriff
des Zufalls mehr Raum hat. Das Bindende iſt der reinſte geiſtige Mittel-
punkt des in §. 117 ff. entwickelten Complexes der Nothwendigkeit, nämlich
die ſittliche Idee als Einheit eines Kreiſes ſittlicher Mächte (§. 120). Aus
dieſem Kreiſe ſondert das äſthetiſche Geſetz der Begrenzung den Gegenſatz zweier

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[312/0326] ſondern nur auf irgend einem Punkte, der auch ein anderer ſeyn könnte. Die Zufälligkeit ſoll nun alſo in höherer Weiſe ſich aufheben, wie dazu der §. den Uebergang nachweist. 2. Viele der angeführten Beiſpiele enthalten ſchon, nur nicht in völliger Ausbildung, die höhere Form, worin zwei Subjecte durch die innere Einheit der ſittlichen Lebenszwecke, die ſie durch ihre Einſeitigkeit trennen, aufeinander geſpannt ſind. In Romeo und Julie tritt die Liebe mit dem politiſchen Haß der Familien und dem Willen der Eltern in Conflict, nur iſt dieſe Seite hier zu unrein, tritt in zu unberechtigter Form auf, um von einem vollen Conflicte zu reden; im Lear die Vater- liebe, die kindiſch wird, mit der Kindesliebe, die aus Wahrhaftigkeit herb wird; in Shakespeares engliſchen Stücken das Recht des Vaſallen, der ſo gut König ſeyn kann, als der König, der einſt auch Vaſall war, mit dem Rechte des Königs, der es einmal iſt, die ſchuldige Empörung mit der ſchuldigen Legitimität; im Hamlet wirft ſich der Conflict in den Buſen des Helden, der ſich zwiſchen Wiſſen des geſchehenen Verbrechens und Nichtwiſſen, was thun, Entſchluß und Unſchlüſſigkeit in kranker Betrachtung zerarbeitet. Hegel rückt ſelbſt den Oedipus unter den Standpunkt eines Widerſtreits zwiſchen einſeitig Berechtigten, dem Rechte des Selbſtbewußt- ſeyns und des Weſens (Phänomenol. S. 348 ff. vergl. S. 553 ff.). Wallenſtein, der manche Momente für die Beleuchtung der zweiten Form dargeboten hätte, wurde nicht angeführt, weil hier mit Beſtimmtheit der Conflict zwiſchen dem ſich überhebenden Recht des Feldherrn-Genius zur Selbſtherrſchaft und der beſtehenden Macht, die ihn mißtrauiſch belauſcht, als Idee der Tragödie hervortritt. γ. Das Tragiſche des ſittlichen Conflicts. §. 135. Es rücken nunmehr die den tragiſchen Vorgang bewirkenden Subjecte in ein Verhältniß zuſammen, das ſie ſo enge bindet, daß kein auffallender Eingriff des Zufalls mehr Raum hat. Das Bindende iſt der reinſte geiſtige Mittel- punkt des in §. 117 ff. entwickelten Complexes der Nothwendigkeit, nämlich die ſittliche Idee als Einheit eines Kreiſes ſittlicher Mächte (§. 120). Aus dieſem Kreiſe ſondert das äſthetiſche Geſetz der Begrenzung den Gegenſatz zweier

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/326>, abgerufen am 23.11.2024.