sondern sie müssen durch irgend einen Fehl dem schuldigen Subjecte eine Blöse dargeboten haben und auch bei ihnen soll diese Blöse in innerem Zusammen- hang mit ihrer Tugend stehen. Leiden sie aber, damit die Schuld des tragi- schen Subjects in ihr volles Licht trete, für ihre geringe Schuld ganz unver- hältnißmäßig, so tritt als Versöhnung damit entweder der Standpunkt der ersten Form des Tragischen (§. 130) ein, oder die Erhebung im Leiden offenbart eine innere Unendlichkeit (§. 113), welche dem Mißverhältnisse seine Herbe nimmt.
Die "unentwickelte Subjectivität" ist die Kindheit und hier tritt blos die Versöhnung ein, die in der ersten Form des Tragischen liegt; so die Söhne Eduards in Richard III, die Kinder der Niobe. Die in den Werth freier Selbstbestimmung eingetretene Persönlichkeit, welche scheinbar unschuldig leidet, in Wahrheit aber durch einen, jedoch nur kleinen, Fehl ihr Leiden verschuldet hat, wird vorzüglich die noch nicht völlig gereifte jugendliche Natur seyn, wie z. B. Giselher im Nibelungenliede, der aller- dings gegen den Anschlag auf Sigfrieds Leben, wenigstens so viel in seinen Kräften stand, energischer hätte auftreten müssen, wenn er ganz unschuldig dastehen sollte, oder die weibliche. Dem reifen Manne dagegen steht es nicht an, wegen einer kleinen Schwäche unterzugehen wie z. B. Desdemona wegen des unklugen und unzeitigen Eifers in der Verwen- dung für Cassio und wegen des ganz nach Weiberart unpassend gewählten Vorwands wegen des verlorenen Tuchs, oder wie Cordelia wegen eines aus strenger Wahrheitsliebe zu herben Worts, oder wie Ophelia im Hamlet, die den Schwüren des Prinzen zu wenig mißtraute. Allerdings treten auch Männer auf, die nicht durch so deutliche Schuld, wie z. B. Hastings und Buckingham in Richard III, Paris in Romeo und Julie durch den Zwang Juliens zu einer Verbindung ohne Liebe, Rosenkranz und Güldenstern durch ihre Falschheit gegen Hamlet leiden, sondern z. B. durch den liebenswürdigen Fehler zu großer Milde, wie ihn Holinshed, Shakespeares Quelle, ausdrücklich dem Duncan zur Last legt, oder durch eine aus den Umständen erklärliche Lieblosigkeit, wie Macduff in Shakespeares Tragödie, indem er fliehend seine Familie zurück- läßt, wie Polonius durch wohlweise Zudringlichkeit. Allein hier muß der kleine Fehl wenigstens im Zusammenhang stehen mit einem klar ge- wollten männlichen Entschluß, und ein solcher ist Macduffs Flucht; Duncan dagegen erscheint bei Shakespeare von so kindlichem Gemüthe, daß ihm jene Form des Mitleids zu Theil wird, wie dem Bilde rührender Jugend,
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ſondern ſie müſſen durch irgend einen Fehl dem ſchuldigen Subjecte eine Blöſe dargeboten haben und auch bei ihnen ſoll dieſe Blöſe in innerem Zuſammen- hang mit ihrer Tugend ſtehen. Leiden ſie aber, damit die Schuld des tragi- ſchen Subjects in ihr volles Licht trete, für ihre geringe Schuld ganz unver- hältnißmäßig, ſo tritt als Verſöhnung damit entweder der Standpunkt der erſten Form des Tragiſchen (§. 130) ein, oder die Erhebung im Leiden offenbart eine innere Unendlichkeit (§. 113), welche dem Mißverhältniſſe ſeine Herbe nimmt.
Die „unentwickelte Subjectivität“ iſt die Kindheit und hier tritt blos die Verſöhnung ein, die in der erſten Form des Tragiſchen liegt; ſo die Söhne Eduards in Richard III, die Kinder der Niobe. Die in den Werth freier Selbſtbeſtimmung eingetretene Perſönlichkeit, welche ſcheinbar unſchuldig leidet, in Wahrheit aber durch einen, jedoch nur kleinen, Fehl ihr Leiden verſchuldet hat, wird vorzüglich die noch nicht völlig gereifte jugendliche Natur ſeyn, wie z. B. Giſelher im Nibelungenliede, der aller- dings gegen den Anſchlag auf Sigfrieds Leben, wenigſtens ſo viel in ſeinen Kräften ſtand, energiſcher hätte auftreten müſſen, wenn er ganz unſchuldig daſtehen ſollte, oder die weibliche. Dem reifen Manne dagegen ſteht es nicht an, wegen einer kleinen Schwäche unterzugehen wie z. B. Desdemona wegen des unklugen und unzeitigen Eifers in der Verwen- dung für Caſſio und wegen des ganz nach Weiberart unpaſſend gewählten Vorwands wegen des verlorenen Tuchs, oder wie Cordelia wegen eines aus ſtrenger Wahrheitsliebe zu herben Worts, oder wie Ophelia im Hamlet, die den Schwüren des Prinzen zu wenig mißtraute. Allerdings treten auch Männer auf, die nicht durch ſo deutliche Schuld, wie z. B. Haſtings und Buckingham in Richard III, Paris in Romeo und Julie durch den Zwang Juliens zu einer Verbindung ohne Liebe, Roſenkranz und Güldenſtern durch ihre Falſchheit gegen Hamlet leiden, ſondern z. B. durch den liebenswürdigen Fehler zu großer Milde, wie ihn Holinſhed, Shakespeares Quelle, ausdrücklich dem Duncan zur Laſt legt, oder durch eine aus den Umſtänden erklärliche Liebloſigkeit, wie Macduff in Shakespeares Tragödie, indem er fliehend ſeine Familie zurück- läßt, wie Polonius durch wohlweiſe Zudringlichkeit. Allein hier muß der kleine Fehl wenigſtens im Zuſammenhang ſtehen mit einem klar ge- wollten männlichen Entſchluß, und ein ſolcher iſt Macduffs Flucht; Duncan dagegen erſcheint bei Shakespeare von ſo kindlichem Gemüthe, daß ihm jene Form des Mitleids zu Theil wird, wie dem Bilde rührender Jugend,
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ſondern ſie müſſen durch irgend einen Fehl dem ſchuldigen Subjecte eine Blöſe
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ſchen Subjects in ihr volles Licht trete, für ihre geringe Schuld ganz unver-
hältnißmäßig, ſo tritt als Verſöhnung damit entweder der Standpunkt der erſten
Form des Tragiſchen (§. 130) ein, oder die Erhebung im Leiden offenbart
eine innere Unendlichkeit (§. 113), welche dem Mißverhältniſſe ſeine Herbe
nimmt.
Die „unentwickelte Subjectivität“ iſt die Kindheit und hier tritt blos
die Verſöhnung ein, die in der erſten Form des Tragiſchen liegt; ſo
die Söhne Eduards in Richard III, die Kinder der Niobe. Die in den
Werth freier Selbſtbeſtimmung eingetretene Perſönlichkeit, welche ſcheinbar
unſchuldig leidet, in Wahrheit aber durch einen, jedoch nur kleinen, Fehl
ihr Leiden verſchuldet hat, wird vorzüglich die noch nicht völlig gereifte
jugendliche Natur ſeyn, wie z. B. Giſelher im Nibelungenliede, der aller-
dings gegen den Anſchlag auf Sigfrieds Leben, wenigſtens ſo viel in
ſeinen Kräften ſtand, energiſcher hätte auftreten müſſen, wenn er ganz
unſchuldig daſtehen ſollte, oder die weibliche. Dem reifen Manne dagegen
ſteht es nicht an, wegen einer kleinen Schwäche unterzugehen wie z. B.
Desdemona wegen des unklugen und unzeitigen Eifers in der Verwen-
dung für Caſſio und wegen des ganz nach Weiberart unpaſſend gewählten
Vorwands wegen des verlorenen Tuchs, oder wie Cordelia wegen eines
aus ſtrenger Wahrheitsliebe zu herben Worts, oder wie Ophelia im
Hamlet, die den Schwüren des Prinzen zu wenig mißtraute. Allerdings
treten auch Männer auf, die nicht durch ſo deutliche Schuld, wie z. B.
Haſtings und Buckingham in Richard III, Paris in Romeo und Julie
durch den Zwang Juliens zu einer Verbindung ohne Liebe, Roſenkranz
und Güldenſtern durch ihre Falſchheit gegen Hamlet leiden, ſondern z. B.
durch den liebenswürdigen Fehler zu großer Milde, wie ihn Holinſhed,
Shakespeares Quelle, ausdrücklich dem Duncan zur Laſt legt,
oder durch eine aus den Umſtänden erklärliche Liebloſigkeit, wie Macduff
in Shakespeares Tragödie, indem er fliehend ſeine Familie zurück-
läßt, wie Polonius durch wohlweiſe Zudringlichkeit. Allein hier muß
der kleine Fehl wenigſtens im Zuſammenhang ſtehen mit einem klar ge-
wollten männlichen Entſchluß, und ein ſolcher iſt Macduffs Flucht; Duncan
dagegen erſcheint bei Shakespeare von ſo kindlichem Gemüthe, daß ihm
jene Form des Mitleids zu Theil wird, wie dem Bilde rührender Jugend,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/321>, abgerufen am 25.11.2024.
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