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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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ten immer und ununterscheidbar auch in wirkliche Schuld übergeht, so
ist auch jederzeit eine Totalsumme des Uebels aufgehäuft, welche hervor-
bricht, wo eine wirkliche Schuld sie aufstört. Lears Töchter sind ver-
dorben, wie Glosters Sohn; man erkennt einen morschen Staat im
Zustande der bösen Wildheit. In dieses alte Uebel greift Lear hinein,
seine Schuld ist nur ein Wahn, aber selbst schon ein Theil und Ausfluß
der Verderbniß in einer Umgebung, wo schöne Worte für Wahrheit
wiegen, und so zieht er sich das ganze Gewebe der Schwärze, das er
an einem Faden ergriffen, über das Haupt. Indem so der tragische
Held durch das Ganze leidet, wird er ein Zeichen, aufgesteckt, daß man
das Menschenschicksal daran sehe, ein Typus, ein Symbol dessen, wie
es um's Geschlecht steht. Er ist von den Göttern geheiligt, wie Oedi-
pus. Alle natürlichen Völker haben eine heilige Scheue vor dem, den
der Gott gezeichnet. -- Uebrigens liegt in diesem Uebergang der Schuld
in's Leiden die andere Seite der schon im vorhergehenden §. als ironisch
bezeichneten Bewegung. Das tragische Subjekt will seinen Zweck zugleich
als Genuß, d. h. als Gut; nicht als individuellen und sinnlichen, son-
dern als geistigen und allgemeinen Genuß, denn sein eigenes Glück will
es gerne opfern; das Glück, das aus dem Guten fließt, soll auch sein
Glück seyn. Es trennt nicht, es will, daß das Gute herrsche, es hält
seinen Zweck für gut und so will es in seiner Durchführung mitherr-
schen. Aber der Dank ist Verfolgung, eigenes Leiden und das Leiden
der Menschheit, in welcher das Entgegengesetzte von dem herrscht, was
für gut erkannt ist, dazu. In dieser ironischen Bewegung tritt häufig
das Moment der Plötzlichkeit (vergl. §. 86) in seiner eigentlichen
Bedeutung ein. Man sieht es kommen, aber das Subject steigt auf
die Spitze seines Glücks, seines Selbstgenußes, um dann plötzlich zu
stürzen. So erscheint Sigfried nie glänzender und heiterer, als auf der
Jagd vor seinem Tode, Geßler fällt auf der Höhe seines Uebermuths,
Wallenstein spricht Worte des glücklichsten Selbstvertrauens zu Gordon
in Eger, wo er fallen soll. Doch kann das Unglück auch schrittweise
hereinbrechen, wie bei Lear. Wie der erstere Fall besonders in der
Tragödie wirkt, gehört in die Kunstlehre vom Drama. Diesen Theil der
ironischen Bewegung nennt Aristoteles die Peripetie (Poet. 11); Peri-
petie ist nicht Glückswechsel überhaupt, sondern ein ironisches Umschlagen
des Glücks in das Gegentheil des Erwarteten und Erstrebten. Die
Ironie der Umdrehung erstrebten Glücks in Unglück verdoppelt sich, wenn
die Sache sich so verhält, daß neben dem Streben nach Größe und

ten immer und ununterſcheidbar auch in wirkliche Schuld übergeht, ſo
iſt auch jederzeit eine Totalſumme des Uebels aufgehäuft, welche hervor-
bricht, wo eine wirkliche Schuld ſie aufſtört. Lears Töchter ſind ver-
dorben, wie Gloſters Sohn; man erkennt einen morſchen Staat im
Zuſtande der böſen Wildheit. In dieſes alte Uebel greift Lear hinein,
ſeine Schuld iſt nur ein Wahn, aber ſelbſt ſchon ein Theil und Ausfluß
der Verderbniß in einer Umgebung, wo ſchöne Worte für Wahrheit
wiegen, und ſo zieht er ſich das ganze Gewebe der Schwärze, das er
an einem Faden ergriffen, über das Haupt. Indem ſo der tragiſche
Held durch das Ganze leidet, wird er ein Zeichen, aufgeſteckt, daß man
das Menſchenſchickſal daran ſehe, ein Typus, ein Symbol deſſen, wie
es um’s Geſchlecht ſteht. Er iſt von den Göttern geheiligt, wie Oedi-
pus. Alle natürlichen Völker haben eine heilige Scheue vor dem, den
der Gott gezeichnet. — Uebrigens liegt in dieſem Uebergang der Schuld
in’s Leiden die andere Seite der ſchon im vorhergehenden §. als ironiſch
bezeichneten Bewegung. Das tragiſche Subjekt will ſeinen Zweck zugleich
als Genuß, d. h. als Gut; nicht als individuellen und ſinnlichen, ſon-
dern als geiſtigen und allgemeinen Genuß, denn ſein eigenes Glück will
es gerne opfern; das Glück, das aus dem Guten fließt, ſoll auch ſein
Glück ſeyn. Es trennt nicht, es will, daß das Gute herrſche, es hält
ſeinen Zweck für gut und ſo will es in ſeiner Durchführung mitherr-
ſchen. Aber der Dank iſt Verfolgung, eigenes Leiden und das Leiden
der Menſchheit, in welcher das Entgegengeſetzte von dem herrſcht, was
für gut erkannt iſt, dazu. In dieſer ironiſchen Bewegung tritt häufig
das Moment der Plötzlichkeit (vergl. §. 86) in ſeiner eigentlichen
Bedeutung ein. Man ſieht es kommen, aber das Subject ſteigt auf
die Spitze ſeines Glücks, ſeines Selbſtgenußes, um dann plötzlich zu
ſtürzen. So erſcheint Sigfried nie glänzender und heiterer, als auf der
Jagd vor ſeinem Tode, Geßler fällt auf der Höhe ſeines Uebermuths,
Wallenſtein ſpricht Worte des glücklichſten Selbſtvertrauens zu Gordon
in Eger, wo er fallen ſoll. Doch kann das Unglück auch ſchrittweiſe
hereinbrechen, wie bei Lear. Wie der erſtere Fall beſonders in der
Tragödie wirkt, gehört in die Kunſtlehre vom Drama. Dieſen Theil der
ironiſchen Bewegung nennt Ariſtoteles die Peripetie (Poet. 11); Peri-
petie iſt nicht Glückswechſel überhaupt, ſondern ein ironiſches Umſchlagen
des Glücks in das Gegentheil des Erwarteten und Erſtrebten. Die
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[290/0304] ten immer und ununterſcheidbar auch in wirkliche Schuld übergeht, ſo iſt auch jederzeit eine Totalſumme des Uebels aufgehäuft, welche hervor- bricht, wo eine wirkliche Schuld ſie aufſtört. Lears Töchter ſind ver- dorben, wie Gloſters Sohn; man erkennt einen morſchen Staat im Zuſtande der böſen Wildheit. In dieſes alte Uebel greift Lear hinein, ſeine Schuld iſt nur ein Wahn, aber ſelbſt ſchon ein Theil und Ausfluß der Verderbniß in einer Umgebung, wo ſchöne Worte für Wahrheit wiegen, und ſo zieht er ſich das ganze Gewebe der Schwärze, das er an einem Faden ergriffen, über das Haupt. Indem ſo der tragiſche Held durch das Ganze leidet, wird er ein Zeichen, aufgeſteckt, daß man das Menſchenſchickſal daran ſehe, ein Typus, ein Symbol deſſen, wie es um’s Geſchlecht ſteht. Er iſt von den Göttern geheiligt, wie Oedi- pus. Alle natürlichen Völker haben eine heilige Scheue vor dem, den der Gott gezeichnet. — Uebrigens liegt in dieſem Uebergang der Schuld in’s Leiden die andere Seite der ſchon im vorhergehenden §. als ironiſch bezeichneten Bewegung. Das tragiſche Subjekt will ſeinen Zweck zugleich als Genuß, d. h. als Gut; nicht als individuellen und ſinnlichen, ſon- dern als geiſtigen und allgemeinen Genuß, denn ſein eigenes Glück will es gerne opfern; das Glück, das aus dem Guten fließt, ſoll auch ſein Glück ſeyn. Es trennt nicht, es will, daß das Gute herrſche, es hält ſeinen Zweck für gut und ſo will es in ſeiner Durchführung mitherr- ſchen. Aber der Dank iſt Verfolgung, eigenes Leiden und das Leiden der Menſchheit, in welcher das Entgegengeſetzte von dem herrſcht, was für gut erkannt iſt, dazu. In dieſer ironiſchen Bewegung tritt häufig das Moment der Plötzlichkeit (vergl. §. 86) in ſeiner eigentlichen Bedeutung ein. Man ſieht es kommen, aber das Subject ſteigt auf die Spitze ſeines Glücks, ſeines Selbſtgenußes, um dann plötzlich zu ſtürzen. So erſcheint Sigfried nie glänzender und heiterer, als auf der Jagd vor ſeinem Tode, Geßler fällt auf der Höhe ſeines Uebermuths, Wallenſtein ſpricht Worte des glücklichſten Selbſtvertrauens zu Gordon in Eger, wo er fallen ſoll. Doch kann das Unglück auch ſchrittweiſe hereinbrechen, wie bei Lear. Wie der erſtere Fall beſonders in der Tragödie wirkt, gehört in die Kunſtlehre vom Drama. Dieſen Theil der ironiſchen Bewegung nennt Ariſtoteles die Peripetie (Poet. 11); Peri- petie iſt nicht Glückswechſel überhaupt, ſondern ein ironiſches Umſchlagen des Glücks in das Gegentheil des Erwarteten und Erſtrebten. Die Ironie der Umdrehung erſtrebten Glücks in Unglück verdoppelt ſich, wenn die Sache ſich ſo verhält, daß neben dem Streben nach Größe und

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/304>, abgerufen am 21.11.2024.