Verschiedene Künste haben freilich verschiedenen Umfang der Freiheit, wovon an seinem Orte zu reden ist.
2. Die Bewährung der Freiheit kann entweder erst auf einem Punkte des fortgeschrittenen Leidens eintreten, oder sich von Anfang an zugleich mit diesem ankündigen. Bleibt sie aus oder wird sie nur in Klagen, Thränen, Bitten schwach geübt, so entsteht das Rührende. Man hat an diesem Orte häufig überhaupt von dem Werthe und Unwerthe schmelzender Affecte gesprochen. So schon Kant (a. a. O. Anm. zu §. 29). Eigentlich gehört dies nicht hieher, denn das Schmelzende ist eine Afterform des Schönen, welche, statt Geist und Sinne zugleich zu beglücken und zu be- freien, mit einem blosen Scheine geistiger Beimischung durch wollüstig hin- sinkende Bilder die Sinne kitzelt. Darin liegt aber ein Gefühl der Auf- lösung, das einer Wehmuth gleicht, einem süßen Mitleid mit sich selbst, daß man sich so in den bezaubernden Gegenstand verliere, wie Zucker im Munde schmilzt: dies erinnert an das, was im eigentlichen Sinne Rührung heißt und hieher gehört. Alles Leiden, auch das des Tapferen rührt. Aber es rührt nicht blos, es stärkt und erhebt zugleich. Rührend nennt man, was blos rührt, weil es zum Widerstand sowohl gegen den äußern, als gegen den innern Feind, die auflösende Empfindung, zu schwach ist, so daß nur Thräne, Klage, oder höchstens die sanfte kindliche Bitte bleibt, wie dem Knaben Arthur. Es ist am Platze, wo hilflose Wesen auftreten, Kinder, Weiber. Dagegen steht es Männern schlecht an. Der erfrierende Sigwart ist ein rührender Mann. Doch vorübergehend ist es am Platze, wie z. B. selbst Wallenstein in seiner letzten Stunde im Andenken an Max Piccolomini weich wird. Je nach dem Zusammenhang soll aber auch das Weib durch Erhebung sich stark zeigen. Maria Stuart erhebt sich im Angesicht des Todes; die lange Abschiedsscene ist zu rührend, sofern sie trotz der Erhebung zu lang bei der Darstellung des auf- lösenden Schmerzes verweilt.
§. 114.
Es kommt nun darauf an, ob die Freiheit gegen den niederschlagenden1 Affect des Leidens selbst einen Affect erhebender Art zum Beistande hat, oder ob sie ihm in affectloser Strenge ihre abstracte Unüberwindlichkeit entgegenhält. Die erste Form ist die schwächere, positive des negativ Pathetischen, die2 zweite die negative und stärkere, welche aber leicht durch den Schein der Un- empfindlichkeit sich vernichtet und nur unter Bedingungen am Platze ist. Diese
Verſchiedene Künſte haben freilich verſchiedenen Umfang der Freiheit, wovon an ſeinem Orte zu reden iſt.
2. Die Bewährung der Freiheit kann entweder erſt auf einem Punkte des fortgeſchrittenen Leidens eintreten, oder ſich von Anfang an zugleich mit dieſem ankündigen. Bleibt ſie aus oder wird ſie nur in Klagen, Thränen, Bitten ſchwach geübt, ſo entſteht das Rührende. Man hat an dieſem Orte häufig überhaupt von dem Werthe und Unwerthe ſchmelzender Affecte geſprochen. So ſchon Kant (a. a. O. Anm. zu §. 29). Eigentlich gehört dies nicht hieher, denn das Schmelzende iſt eine Afterform des Schönen, welche, ſtatt Geiſt und Sinne zugleich zu beglücken und zu be- freien, mit einem bloſen Scheine geiſtiger Beimiſchung durch wollüſtig hin- ſinkende Bilder die Sinne kitzelt. Darin liegt aber ein Gefühl der Auf- löſung, das einer Wehmuth gleicht, einem ſüßen Mitleid mit ſich ſelbſt, daß man ſich ſo in den bezaubernden Gegenſtand verliere, wie Zucker im Munde ſchmilzt: dies erinnert an das, was im eigentlichen Sinne Rührung heißt und hieher gehört. Alles Leiden, auch das des Tapferen rührt. Aber es rührt nicht blos, es ſtärkt und erhebt zugleich. Rührend nennt man, was blos rührt, weil es zum Widerſtand ſowohl gegen den äußern, als gegen den innern Feind, die auflöſende Empfindung, zu ſchwach iſt, ſo daß nur Thräne, Klage, oder höchſtens die ſanfte kindliche Bitte bleibt, wie dem Knaben Arthur. Es iſt am Platze, wo hilfloſe Weſen auftreten, Kinder, Weiber. Dagegen ſteht es Männern ſchlecht an. Der erfrierende Sigwart iſt ein rührender Mann. Doch vorübergehend iſt es am Platze, wie z. B. ſelbſt Wallenſtein in ſeiner letzten Stunde im Andenken an Max Piccolomini weich wird. Je nach dem Zuſammenhang ſoll aber auch das Weib durch Erhebung ſich ſtark zeigen. Maria Stuart erhebt ſich im Angeſicht des Todes; die lange Abſchiedsſcene iſt zu rührend, ſofern ſie trotz der Erhebung zu lang bei der Darſtellung des auf- löſenden Schmerzes verweilt.
§. 114.
Es kommt nun darauf an, ob die Freiheit gegen den niederſchlagenden1 Affect des Leidens ſelbſt einen Affect erhebender Art zum Beiſtande hat, oder ob ſie ihm in affectloſer Strenge ihre abſtracte Unüberwindlichkeit entgegenhält. Die erſte Form iſt die ſchwächere, poſitive des negativ Pathetiſchen, die2 zweite die negative und ſtärkere, welche aber leicht durch den Schein der Un- empfindlichkeit ſich vernichtet und nur unter Bedingungen am Platze iſt. Dieſe
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0285"n="271"/>
Verſchiedene Künſte haben freilich verſchiedenen Umfang der Freiheit, wovon<lb/>
an ſeinem Orte zu reden iſt.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">2. Die Bewährung der Freiheit kann entweder erſt auf einem Punkte<lb/>
des fortgeſchrittenen Leidens eintreten, oder ſich von Anfang an zugleich mit<lb/>
dieſem ankündigen. Bleibt ſie aus oder wird ſie nur in Klagen, Thränen,<lb/>
Bitten ſchwach geübt, ſo entſteht das <hirendition="#g">Rührende</hi>. Man hat an dieſem<lb/>
Orte häufig überhaupt von dem Werthe und Unwerthe <hirendition="#g">ſchmelzender</hi><lb/>
Affecte geſprochen. So ſchon <hirendition="#g">Kant</hi> (a. a. O. Anm. zu §. 29). Eigentlich<lb/>
gehört dies nicht hieher, denn das Schmelzende iſt eine Afterform des<lb/>
Schönen, welche, ſtatt Geiſt und Sinne zugleich zu beglücken und zu be-<lb/>
freien, mit einem bloſen Scheine geiſtiger Beimiſchung durch wollüſtig hin-<lb/>ſinkende Bilder die Sinne kitzelt. Darin liegt aber ein Gefühl der Auf-<lb/>
löſung, das einer Wehmuth gleicht, einem ſüßen Mitleid mit ſich ſelbſt,<lb/>
daß man ſich ſo in den bezaubernden Gegenſtand verliere, wie Zucker im<lb/>
Munde ſchmilzt: dies erinnert an das, was im eigentlichen Sinne<lb/><hirendition="#g">Rührung</hi> heißt und hieher gehört. Alles Leiden, auch das des Tapferen<lb/>
rührt. Aber es rührt nicht <hirendition="#g">blos</hi>, es ſtärkt und erhebt zugleich. Rührend<lb/>
nennt man, was <hirendition="#g">blos</hi> rührt, weil es zum Widerſtand ſowohl gegen den<lb/>
äußern, als gegen den innern Feind, die auflöſende Empfindung, zu<lb/>ſchwach iſt, ſo daß nur Thräne, Klage, oder höchſtens die ſanfte kindliche<lb/>
Bitte bleibt, wie dem Knaben <hirendition="#g">Arthur</hi>. Es iſt am Platze, wo hilfloſe<lb/>
Weſen auftreten, Kinder, Weiber. Dagegen ſteht es Männern ſchlecht an.<lb/>
Der erfrierende <hirendition="#g">Sigwart</hi> iſt ein rührender Mann. Doch vorübergehend<lb/>
iſt es am Platze, wie z. B. ſelbſt <hirendition="#g">Wallenſtein</hi> in ſeiner letzten Stunde im<lb/>
Andenken an <hirendition="#g">Max Piccolomini</hi> weich wird. Je nach dem Zuſammenhang<lb/>ſoll aber auch das Weib durch Erhebung ſich ſtark zeigen. <hirendition="#g">Maria Stuart</hi><lb/>
erhebt ſich im Angeſicht des Todes; die lange Abſchiedsſcene iſt zu<lb/>
rührend, ſofern ſie trotz der Erhebung zu lang bei der Darſtellung des auf-<lb/>
löſenden Schmerzes verweilt.</hi></p></div><lb/><divn="6"><head>§. 114.</head><lb/><p><hirendition="#fr">Es kommt nun darauf an, ob die Freiheit gegen den niederſchlagenden<noteplace="right">1</note><lb/>
Affect des Leidens ſelbſt einen Affect erhebender Art zum Beiſtande hat, oder<lb/>
ob ſie ihm in affectloſer Strenge ihre abſtracte Unüberwindlichkeit entgegenhält.<lb/>
Die erſte Form iſt die ſchwächere, poſitive des negativ Pathetiſchen, die<noteplace="right">2</note><lb/>
zweite die negative und ſtärkere, welche aber leicht durch den Schein der Un-<lb/>
empfindlichkeit ſich vernichtet und nur unter Bedingungen am Platze iſt. Dieſe<lb/></hi></p></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[271/0285]
Verſchiedene Künſte haben freilich verſchiedenen Umfang der Freiheit, wovon
an ſeinem Orte zu reden iſt.
2. Die Bewährung der Freiheit kann entweder erſt auf einem Punkte
des fortgeſchrittenen Leidens eintreten, oder ſich von Anfang an zugleich mit
dieſem ankündigen. Bleibt ſie aus oder wird ſie nur in Klagen, Thränen,
Bitten ſchwach geübt, ſo entſteht das Rührende. Man hat an dieſem
Orte häufig überhaupt von dem Werthe und Unwerthe ſchmelzender
Affecte geſprochen. So ſchon Kant (a. a. O. Anm. zu §. 29). Eigentlich
gehört dies nicht hieher, denn das Schmelzende iſt eine Afterform des
Schönen, welche, ſtatt Geiſt und Sinne zugleich zu beglücken und zu be-
freien, mit einem bloſen Scheine geiſtiger Beimiſchung durch wollüſtig hin-
ſinkende Bilder die Sinne kitzelt. Darin liegt aber ein Gefühl der Auf-
löſung, das einer Wehmuth gleicht, einem ſüßen Mitleid mit ſich ſelbſt,
daß man ſich ſo in den bezaubernden Gegenſtand verliere, wie Zucker im
Munde ſchmilzt: dies erinnert an das, was im eigentlichen Sinne
Rührung heißt und hieher gehört. Alles Leiden, auch das des Tapferen
rührt. Aber es rührt nicht blos, es ſtärkt und erhebt zugleich. Rührend
nennt man, was blos rührt, weil es zum Widerſtand ſowohl gegen den
äußern, als gegen den innern Feind, die auflöſende Empfindung, zu
ſchwach iſt, ſo daß nur Thräne, Klage, oder höchſtens die ſanfte kindliche
Bitte bleibt, wie dem Knaben Arthur. Es iſt am Platze, wo hilfloſe
Weſen auftreten, Kinder, Weiber. Dagegen ſteht es Männern ſchlecht an.
Der erfrierende Sigwart iſt ein rührender Mann. Doch vorübergehend
iſt es am Platze, wie z. B. ſelbſt Wallenſtein in ſeiner letzten Stunde im
Andenken an Max Piccolomini weich wird. Je nach dem Zuſammenhang
ſoll aber auch das Weib durch Erhebung ſich ſtark zeigen. Maria Stuart
erhebt ſich im Angeſicht des Todes; die lange Abſchiedsſcene iſt zu
rührend, ſofern ſie trotz der Erhebung zu lang bei der Darſtellung des auf-
löſenden Schmerzes verweilt.
§. 114.
Es kommt nun darauf an, ob die Freiheit gegen den niederſchlagenden
Affect des Leidens ſelbſt einen Affect erhebender Art zum Beiſtande hat, oder
ob ſie ihm in affectloſer Strenge ihre abſtracte Unüberwindlichkeit entgegenhält.
Die erſte Form iſt die ſchwächere, poſitive des negativ Pathetiſchen, die
zweite die negative und ſtärkere, welche aber leicht durch den Schein der Un-
empfindlichkeit ſich vernichtet und nur unter Bedingungen am Platze iſt. Dieſe
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/285>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.