(Aesth. 1, S. 303 ff.) aufführt und so schön entwickelt. Ein sittlicher Gehalt erscheint nämlich nicht als wirkliche Macht in einem Subjecte, wenn er den Reichthum der übrigen Neigungen, Interessen, Thätigkeiten der Persönlichkeit von sich ausschließt. Entweder er läßt ihnen gar nicht Luft und das Subject lebt nicht, oder er verkehrt sie gewaltsam zu seinem Zweck und das Subject ist fanatisch. In jenem Falle entstehen die falschen schematischen Charaktere des Drama: der Geizhals, der Polterer u. s. w. Erst wenn ich sehe, daß ein Subject auch nach anderen Seiten mannigfaltig bewegt und ein ganzer Mensch ist, daß aber diese abweichenden Bewegungen alle wieder sich umbiegen nach der Einen Grundbewegung, so erkenne ich die Macht der sittlichen Idee, welche diesen Mittelpunkt bildet. Die Ab- weichung muß selbst bis zum Widerspruch gehen, aber diesen im Fortgange wieder aufheben. Dieser Widerspruch gibt den Charakteren Shakes- peares ihr Leben und ihr Dunkel für den abstracten Verstand und für eine deklamatorische Schauspielkunst. Das so erfüllte Subject nun ist erhaben in der Zusammenstellung mit schwächeren, wenn der Abstand so groß ist, daß er unendlich scheint. Es scheint sich "zum Gesammtsubject der Gattung zu erweitern", aber in dieser Höhe wird es dennoch als einzelnes Subject festgehalten. Dies ist wohl zu merken, sonst gerathen wir zu frühe in's Tragische. Jetzt ist der Sinn der: das Subject ist Subject und scheint doch sich zur Unendlichkeit zu erheben; im Tragischen aber: die sittliche Idee gibt sich die Beschränkung des Subjects und geht doch unendlich darüber hinaus.
2. Das Vergleichen ist kein todtes, das Subject selbst vergleicht sich praktisch, es mißt sich, es kämpft, und zwar gegen alle bisher aufgeführten Formen des Erhabenen sowohl als gegen das in seinem eigenen Sinne, d. h. im Sinne des Guten, große, aber minder große Subject. Dieser Kampf kann bald die Form kriegerischen, bald mehr eines geistigen Streites annehmen: ein Unterschied, der eine neue Stufenfolge erzeugen würde, wenn die Wissenschaft der Aesthetik an dieser Stelle sich darauf einzulassen Raum hätte. Welche Waffen aber der Kampf führen möge, die Leidenschaft muß dem Subjecte beistehen. So entsteht das positiv Pathetische. Es ist eigenthümlich, daß die von Kant angeregten Aesthetiker das Pathetische nur in der negativen Form des Kampfes gegen die (eigene) Leidenschaft kannten (so Schiller: "die moralische Inde- pendenz von Naturgesetzen im Zustande des Affects" s. Ueber das Pathe- tische), da doch Kant selbst ein affirmatives Verhältniß zwischen dem sittlichen Willen und dem Affect ausspricht: "die Idee des Guten mit Affect heißt Enthusiasm u. s. w. Aesthetisch ist der Enthusiasm erhaben,
(Aeſth. 1, S. 303 ff.) aufführt und ſo ſchön entwickelt. Ein ſittlicher Gehalt erſcheint nämlich nicht als wirkliche Macht in einem Subjecte, wenn er den Reichthum der übrigen Neigungen, Intereſſen, Thätigkeiten der Perſönlichkeit von ſich ausſchließt. Entweder er läßt ihnen gar nicht Luft und das Subject lebt nicht, oder er verkehrt ſie gewaltſam zu ſeinem Zweck und das Subject iſt fanatiſch. In jenem Falle entſtehen die falſchen ſchematiſchen Charaktere des Drama: der Geizhals, der Polterer u. ſ. w. Erſt wenn ich ſehe, daß ein Subject auch nach anderen Seiten mannigfaltig bewegt und ein ganzer Menſch iſt, daß aber dieſe abweichenden Bewegungen alle wieder ſich umbiegen nach der Einen Grundbewegung, ſo erkenne ich die Macht der ſittlichen Idee, welche dieſen Mittelpunkt bildet. Die Ab- weichung muß ſelbſt bis zum Widerſpruch gehen, aber dieſen im Fortgange wieder aufheben. Dieſer Widerſpruch gibt den Charakteren Shakes- peares ihr Leben und ihr Dunkel für den abſtracten Verſtand und für eine deklamatoriſche Schauſpielkunſt. Das ſo erfüllte Subject nun iſt erhaben in der Zuſammenſtellung mit ſchwächeren, wenn der Abſtand ſo groß iſt, daß er unendlich ſcheint. Es ſcheint ſich „zum Geſammtſubject der Gattung zu erweitern“, aber in dieſer Höhe wird es dennoch als einzelnes Subject feſtgehalten. Dies iſt wohl zu merken, ſonſt gerathen wir zu frühe in’s Tragiſche. Jetzt iſt der Sinn der: das Subject iſt Subject und ſcheint doch ſich zur Unendlichkeit zu erheben; im Tragiſchen aber: die ſittliche Idee gibt ſich die Beſchränkung des Subjects und geht doch unendlich darüber hinaus.
2. Das Vergleichen iſt kein todtes, das Subject ſelbſt vergleicht ſich praktiſch, es mißt ſich, es kämpft, und zwar gegen alle bisher aufgeführten Formen des Erhabenen ſowohl als gegen das in ſeinem eigenen Sinne, d. h. im Sinne des Guten, große, aber minder große Subject. Dieſer Kampf kann bald die Form kriegeriſchen, bald mehr eines geiſtigen Streites annehmen: ein Unterſchied, der eine neue Stufenfolge erzeugen würde, wenn die Wiſſenſchaft der Aeſthetik an dieſer Stelle ſich darauf einzulaſſen Raum hätte. Welche Waffen aber der Kampf führen möge, die Leidenſchaft muß dem Subjecte beiſtehen. So entſteht das poſitiv Pathetiſche. Es iſt eigenthümlich, daß die von Kant angeregten Aeſthetiker das Pathetiſche nur in der negativen Form des Kampfes gegen die (eigene) Leidenſchaft kannten (ſo Schiller: „die moraliſche Inde- pendenz von Naturgeſetzen im Zuſtande des Affects“ ſ. Ueber das Pathe- tiſche), da doch Kant ſelbſt ein affirmatives Verhältniß zwiſchen dem ſittlichen Willen und dem Affect ausſpricht: „die Idee des Guten mit Affect heißt Enthuſiasm u. ſ. w. Aeſthetiſch iſt der Enthuſiasm erhaben,
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(Aeſth. 1, S. 303 ff.) aufführt und ſo ſchön entwickelt. Ein ſittlicher
Gehalt erſcheint nämlich nicht als wirkliche Macht in einem Subjecte, wenn
er den Reichthum der übrigen Neigungen, Intereſſen, Thätigkeiten der
Perſönlichkeit von ſich ausſchließt. Entweder er läßt ihnen gar nicht Luft
und das Subject lebt nicht, oder er verkehrt ſie gewaltſam zu ſeinem Zweck
und das Subject iſt fanatiſch. In jenem Falle entſtehen die falſchen
ſchematiſchen Charaktere des Drama: der Geizhals, der Polterer u. ſ. w.
Erſt wenn ich ſehe, daß ein Subject auch nach anderen Seiten mannigfaltig
bewegt und ein ganzer Menſch iſt, daß aber dieſe abweichenden Bewegungen
alle wieder ſich umbiegen nach der Einen Grundbewegung, ſo erkenne ich
die Macht der ſittlichen Idee, welche dieſen Mittelpunkt bildet. Die Ab-
weichung muß ſelbſt bis zum Widerſpruch gehen, aber dieſen im Fortgange
wieder aufheben. Dieſer Widerſpruch gibt den Charakteren Shakes-
peares ihr Leben und ihr Dunkel für den abſtracten Verſtand und für eine
deklamatoriſche Schauſpielkunſt. Das ſo erfüllte Subject nun iſt erhaben
in der Zuſammenſtellung mit ſchwächeren, wenn der Abſtand ſo groß iſt,
daß er unendlich ſcheint. Es ſcheint ſich „zum Geſammtſubject der Gattung
zu erweitern“, aber in dieſer Höhe wird es dennoch als einzelnes Subject
feſtgehalten. Dies iſt wohl zu merken, ſonſt gerathen wir zu frühe in’s
Tragiſche. Jetzt iſt der Sinn der: das Subject iſt Subject und ſcheint doch
ſich zur Unendlichkeit zu erheben; im Tragiſchen aber: die ſittliche Idee gibt
ſich die Beſchränkung des Subjects und geht doch unendlich darüber hinaus.
2. Das Vergleichen iſt kein todtes, das Subject ſelbſt vergleicht ſich
praktiſch, es mißt ſich, es kämpft, und zwar gegen alle bisher aufgeführten
Formen des Erhabenen ſowohl als gegen das in ſeinem eigenen Sinne,
d. h. im Sinne des Guten, große, aber minder große Subject. Dieſer
Kampf kann bald die Form kriegeriſchen, bald mehr eines geiſtigen
Streites annehmen: ein Unterſchied, der eine neue Stufenfolge erzeugen
würde, wenn die Wiſſenſchaft der Aeſthetik an dieſer Stelle ſich darauf
einzulaſſen Raum hätte. Welche Waffen aber der Kampf führen möge,
die Leidenſchaft muß dem Subjecte beiſtehen. So entſteht das poſitiv
Pathetiſche. Es iſt eigenthümlich, daß die von Kant angeregten
Aeſthetiker das Pathetiſche nur in der negativen Form des Kampfes gegen
die (eigene) Leidenſchaft kannten (ſo Schiller: „die moraliſche Inde-
pendenz von Naturgeſetzen im Zuſtande des Affects“ ſ. Ueber das Pathe-
tiſche), da doch Kant ſelbſt ein affirmatives Verhältniß zwiſchen dem
ſittlichen Willen und dem Affect ausſpricht: „die Idee des Guten mit
Affect heißt Enthuſiasm u. ſ. w. Aeſthetiſch iſt der Enthuſiasm erhaben,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/280>, abgerufen am 22.11.2024.
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