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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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die Untersuchung tritt. Zudem erhellt, daß ein und dasselbe Wesen
schön oder furchtbar seyn kann je nach der Situation: ein weiterer Be-
weis, daß hier von allgemeinen Unterschieden die Rede ist, welche in
den wirklichen Existenzen zwar ihre Anwendung finden, an sich aber in
die reine Begriffslehre gehören.

2. Das erste Verhältniß stellt sich vorzüglich in der unorganischen
Natur dar, wo die Bewegung nur mechanisch und die Masse bestimmend
ist. Daß der Zuschauer erst aus seiner Phantasie leihend nachhilft und
z. B. dem Wassersturze etwas wie Zorn unterschiebt, dies hindert auch
hier nicht, die Sphäre bestimmt abzugrenzen, denn nicht was, sondern
ob und wem geliehen wird, ist das Bestimmende. Das massenhaft
Mechanische kehrt indeß auch in höheren Sphären zurück. Eine Völker-
wanderung z. B., wo Volk auf Volk stoßend sich fortdrängt, hat den
elementarischen Charakter der großen Mechanismen in der Natur. Die
zweite Stufe stellt sich vorzüglich im thierischen Leben dar. Hier ist die
Kraft als Selbstgefühl schon Affect, aber dieser kommt hier noch nicht als
Analogon des Menschlichen, nicht als Thierseele in Betracht, sondern
nur als die mit der Kraft des Organs einfach gegebene Nothwendigkeit
der Aeußerung. Schon Burke hat als Beispiel dieser Form die herr-
lichen Schilderungen des Kampfrosses, des wilden Esels, des Leviathan,
des Behemoth im Buch Hiob angeführt und mit Recht hervorgehoben,
daß zum vollen Eindrucke wesentlich Wildheit, Unbeugsamkeit unter das
Joch des Menschen gehört (a. a. O. Th. 2, Abschn. 6). Masse ist nicht
mehr wesentlich. Der Wolf ist furchtbarer als der Elefant. Hier tritt schon
der Uebergang zur dritten Stufe ein. Diese scheint bereits in die Sphäre
des Geistes zu führen, denn die Kraft, die hinter ihrem Organe lauert,
scheint nur eine denkende seyn zu können. Allein es ist noch nicht von
einem bedachten Rückhalt die Rede, sondern nur von einer Intensität, die
man dem Organe nicht ansieht, und die sogar bei niedrigen Organismen
vorkommt, wie als Giftzahn und Stachel bei Schlangen und Insekten.
Allerdings kommt aber hier auch die menschliche Kraft in Betracht, doch
nur die Körperkraft, abgesehen vom Geiste. Die Thatsache, von der es
sich handelt, ist auch schon sonst ausgesprochen worden. "Das Mißver-
hältniß zwischen Gestalt und Ueberkraft öffnet der Phantasie ein uner-
meßbares Feld des Schreckens, daher unsere unverhältnißmäßige Furcht
vor kleinen Thieren, und es muß schon ein kühner General seyn, der
vor dem nahen suchenden Brummen einer erbosten Hornisse so ruhig und
ungeregt sitzen kann, als vor dem Summen einer Kanone. In Träumen

die Unterſuchung tritt. Zudem erhellt, daß ein und daſſelbe Weſen
ſchön oder furchtbar ſeyn kann je nach der Situation: ein weiterer Be-
weis, daß hier von allgemeinen Unterſchieden die Rede iſt, welche in
den wirklichen Exiſtenzen zwar ihre Anwendung finden, an ſich aber in
die reine Begriffslehre gehören.

2. Das erſte Verhältniß ſtellt ſich vorzüglich in der unorganiſchen
Natur dar, wo die Bewegung nur mechaniſch und die Maſſe beſtimmend
iſt. Daß der Zuſchauer erſt aus ſeiner Phantaſie leihend nachhilft und
z. B. dem Waſſerſturze etwas wie Zorn unterſchiebt, dies hindert auch
hier nicht, die Sphäre beſtimmt abzugrenzen, denn nicht was, ſondern
ob und wem geliehen wird, iſt das Beſtimmende. Das maſſenhaft
Mechaniſche kehrt indeß auch in höheren Sphären zurück. Eine Völker-
wanderung z. B., wo Volk auf Volk ſtoßend ſich fortdrängt, hat den
elementariſchen Charakter der großen Mechanismen in der Natur. Die
zweite Stufe ſtellt ſich vorzüglich im thieriſchen Leben dar. Hier iſt die
Kraft als Selbſtgefühl ſchon Affect, aber dieſer kommt hier noch nicht als
Analogon des Menſchlichen, nicht als Thierſeele in Betracht, ſondern
nur als die mit der Kraft des Organs einfach gegebene Nothwendigkeit
der Aeußerung. Schon Burke hat als Beiſpiel dieſer Form die herr-
lichen Schilderungen des Kampfroſſes, des wilden Eſels, des Leviathan,
des Behemoth im Buch Hiob angeführt und mit Recht hervorgehoben,
daß zum vollen Eindrucke weſentlich Wildheit, Unbeugſamkeit unter das
Joch des Menſchen gehört (a. a. O. Th. 2, Abſchn. 6). Maſſe iſt nicht
mehr weſentlich. Der Wolf iſt furchtbarer als der Elefant. Hier tritt ſchon
der Uebergang zur dritten Stufe ein. Dieſe ſcheint bereits in die Sphäre
des Geiſtes zu führen, denn die Kraft, die hinter ihrem Organe lauert,
ſcheint nur eine denkende ſeyn zu können. Allein es iſt noch nicht von
einem bedachten Rückhalt die Rede, ſondern nur von einer Intenſität, die
man dem Organe nicht anſieht, und die ſogar bei niedrigen Organismen
vorkommt, wie als Giftzahn und Stachel bei Schlangen und Inſekten.
Allerdings kommt aber hier auch die menſchliche Kraft in Betracht, doch
nur die Körperkraft, abgeſehen vom Geiſte. Die Thatſache, von der es
ſich handelt, iſt auch ſchon ſonſt ausgeſprochen worden. „Das Mißver-
hältniß zwiſchen Geſtalt und Ueberkraft öffnet der Phantaſie ein uner-
meßbares Feld des Schreckens, daher unſere unverhältnißmäßige Furcht
vor kleinen Thieren, und es muß ſchon ein kühner General ſeyn, der
vor dem nahen ſuchenden Brummen einer erbosten Horniſſe ſo ruhig und
ungeregt ſitzen kann, als vor dem Summen einer Kanone. In Träumen

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[245/0259] die Unterſuchung tritt. Zudem erhellt, daß ein und daſſelbe Weſen ſchön oder furchtbar ſeyn kann je nach der Situation: ein weiterer Be- weis, daß hier von allgemeinen Unterſchieden die Rede iſt, welche in den wirklichen Exiſtenzen zwar ihre Anwendung finden, an ſich aber in die reine Begriffslehre gehören. 2. Das erſte Verhältniß ſtellt ſich vorzüglich in der unorganiſchen Natur dar, wo die Bewegung nur mechaniſch und die Maſſe beſtimmend iſt. Daß der Zuſchauer erſt aus ſeiner Phantaſie leihend nachhilft und z. B. dem Waſſerſturze etwas wie Zorn unterſchiebt, dies hindert auch hier nicht, die Sphäre beſtimmt abzugrenzen, denn nicht was, ſondern ob und wem geliehen wird, iſt das Beſtimmende. Das maſſenhaft Mechaniſche kehrt indeß auch in höheren Sphären zurück. Eine Völker- wanderung z. B., wo Volk auf Volk ſtoßend ſich fortdrängt, hat den elementariſchen Charakter der großen Mechanismen in der Natur. Die zweite Stufe ſtellt ſich vorzüglich im thieriſchen Leben dar. Hier iſt die Kraft als Selbſtgefühl ſchon Affect, aber dieſer kommt hier noch nicht als Analogon des Menſchlichen, nicht als Thierſeele in Betracht, ſondern nur als die mit der Kraft des Organs einfach gegebene Nothwendigkeit der Aeußerung. Schon Burke hat als Beiſpiel dieſer Form die herr- lichen Schilderungen des Kampfroſſes, des wilden Eſels, des Leviathan, des Behemoth im Buch Hiob angeführt und mit Recht hervorgehoben, daß zum vollen Eindrucke weſentlich Wildheit, Unbeugſamkeit unter das Joch des Menſchen gehört (a. a. O. Th. 2, Abſchn. 6). Maſſe iſt nicht mehr weſentlich. Der Wolf iſt furchtbarer als der Elefant. Hier tritt ſchon der Uebergang zur dritten Stufe ein. Dieſe ſcheint bereits in die Sphäre des Geiſtes zu führen, denn die Kraft, die hinter ihrem Organe lauert, ſcheint nur eine denkende ſeyn zu können. Allein es iſt noch nicht von einem bedachten Rückhalt die Rede, ſondern nur von einer Intenſität, die man dem Organe nicht anſieht, und die ſogar bei niedrigen Organismen vorkommt, wie als Giftzahn und Stachel bei Schlangen und Inſekten. Allerdings kommt aber hier auch die menſchliche Kraft in Betracht, doch nur die Körperkraft, abgeſehen vom Geiſte. Die Thatſache, von der es ſich handelt, iſt auch ſchon ſonſt ausgeſprochen worden. „Das Mißver- hältniß zwiſchen Geſtalt und Ueberkraft öffnet der Phantaſie ein uner- meßbares Feld des Schreckens, daher unſere unverhältnißmäßige Furcht vor kleinen Thieren, und es muß ſchon ein kühner General ſeyn, der vor dem nahen ſuchenden Brummen einer erbosten Horniſſe ſo ruhig und ungeregt ſitzen kann, als vor dem Summen einer Kanone. In Träumen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/259>, abgerufen am 24.11.2024.