Den Uebergang zur negativen Form des räumlich Erhabenen verbirgt1 bereits in sich die Erfülltheit eines Raums durch eine Menge von Gegen- ständen, welche so groß ist, daß sie unendlich scheint. Hier nämlich faßt zwar ein bestimmter Naum die Vielen und zunächst erscheint dieser Raum unendlich groß, aber indem der Anblick der Vielen zur Vorstellung der unendlichen Vielheit führt, so ist damit bereits gegeben, daß gegen die unendliche Er- füllung unendlicher Räume jedes einzelne Raumerfüllende und jeder bestimmte Raum verschwindet, wobei der Widerspruch, der demnach in der ganzen Kate- gorie des Raums liegt, sich in einem Schwindel des Gefühls ankündigt. Diese2 Nichtigkeit kommt aber wirklich zur Anschauung in der eigentlich negativen Form der räumlichen Erhabenheit, der Leere. Sie wirkt theils drohend durch die Vorstellung, daß das unendlich Raumerfüllende, dem aber kein Raum ge- nügt, hervorbrechen könnte, theils traurig durch die Vorstellung, daß ein be- stimmtes Raumerfüllende, welches da war, in Nichts versunken sey und daß ebenso alles andere versinken müsse, daß also ebendas, was durch sein Daseyn die Kategorie des Raums begründet, vergänglich sey, wodurch der Uebergang in die Kategorie der Zeit gegeben ist.
1. Gestirnter Himmel, große Menschenversammlung u. s. w. Was den Raum erfüllt, ist natürlich auch hier nicht gleichgültig; große Büffel- heerden bringen einen andern Eindruck hervor, als große Menschenmengen u. s. w.; das Bestimmende aber bleibt die Vielheit. Zunächst erscheint ein bestimmter Raum in seiner Anfüllung unendlich groß und zwar durch dieselbe Bedingung des Fortzählens, wie sie in §. 91 aufgestellt ist. Allein indem ich die Sterne, die Köpfe zählend und doch unfähig, weiter zu zählen, fortsetze, wächst mir die Menge über den bestimmten Raum hinaus; nun genügt ihr kein Raum mehr, die Körper, welche einer neben dem andern den unendlichen Raum setzen, verschwinden jeder in der unendlichen Reihe und mit ihnen jeder bestimmte Raum: es tritt der Widerspruch in's Gefühl, daß das Räumliche in seiner Ausdehnung unendlich ist, eigentlich aber die ganze Kategorie der Räumlichkeit eben in diesem unendlichen Fortgang sich aufhebt. Es folgt auf jedes Raum- Erfüllende ein neues, jedes also weist über sich hinaus, aber jedes neue ebenso: man geht immer weiter und kommt nie an. Es versieht sich jedoch, daß dieser Widerspruch noch nicht als solcher zum Bewußtseyn
§. 92.
Den Uebergang zur negativen Form des räumlich Erhabenen verbirgt1 bereits in ſich die Erfülltheit eines Raums durch eine Menge von Gegen- ſtänden, welche ſo groß iſt, daß ſie unendlich ſcheint. Hier nämlich faßt zwar ein beſtimmter Naum die Vielen und zunächſt erſcheint dieſer Raum unendlich groß, aber indem der Anblick der Vielen zur Vorſtellung der unendlichen Vielheit führt, ſo iſt damit bereits gegeben, daß gegen die unendliche Er- füllung unendlicher Räume jedes einzelne Raumerfüllende und jeder beſtimmte Raum verſchwindet, wobei der Widerſpruch, der demnach in der ganzen Kate- gorie des Raums liegt, ſich in einem Schwindel des Gefühls ankündigt. Dieſe2 Nichtigkeit kommt aber wirklich zur Anſchauung in der eigentlich negativen Form der räumlichen Erhabenheit, der Leere. Sie wirkt theils drohend durch die Vorſtellung, daß das unendlich Raumerfüllende, dem aber kein Raum ge- nügt, hervorbrechen könnte, theils traurig durch die Vorſtellung, daß ein be- ſtimmtes Raumerfüllende, welches da war, in Nichts verſunken ſey und daß ebenſo alles andere verſinken müſſe, daß alſo ebendas, was durch ſein Daſeyn die Kategorie des Raums begründet, vergänglich ſey, wodurch der Uebergang in die Kategorie der Zeit gegeben iſt.
1. Geſtirnter Himmel, große Menſchenverſammlung u. ſ. w. Was den Raum erfüllt, iſt natürlich auch hier nicht gleichgültig; große Büffel- heerden bringen einen andern Eindruck hervor, als große Menſchenmengen u. ſ. w.; das Beſtimmende aber bleibt die Vielheit. Zunächſt erſcheint ein beſtimmter Raum in ſeiner Anfüllung unendlich groß und zwar durch dieſelbe Bedingung des Fortzählens, wie ſie in §. 91 aufgeſtellt iſt. Allein indem ich die Sterne, die Köpfe zählend und doch unfähig, weiter zu zählen, fortſetze, wächst mir die Menge über den beſtimmten Raum hinaus; nun genügt ihr kein Raum mehr, die Körper, welche einer neben dem andern den unendlichen Raum ſetzen, verſchwinden jeder in der unendlichen Reihe und mit ihnen jeder beſtimmte Raum: es tritt der Widerſpruch in’s Gefühl, daß das Räumliche in ſeiner Ausdehnung unendlich iſt, eigentlich aber die ganze Kategorie der Räumlichkeit eben in dieſem unendlichen Fortgang ſich aufhebt. Es folgt auf jedes Raum- Erfüllende ein neues, jedes alſo weist über ſich hinaus, aber jedes neue ebenſo: man geht immer weiter und kommt nie an. Es verſieht ſich jedoch, daß dieſer Widerſpruch noch nicht als ſolcher zum Bewußtſeyn
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§. 92.
Den Uebergang zur negativen Form des räumlich Erhabenen verbirgt
bereits in ſich die Erfülltheit eines Raums durch eine Menge von Gegen-
ſtänden, welche ſo groß iſt, daß ſie unendlich ſcheint. Hier nämlich faßt zwar
ein beſtimmter Naum die Vielen und zunächſt erſcheint dieſer Raum unendlich
groß, aber indem der Anblick der Vielen zur Vorſtellung der unendlichen
Vielheit führt, ſo iſt damit bereits gegeben, daß gegen die unendliche Er-
füllung unendlicher Räume jedes einzelne Raumerfüllende und jeder beſtimmte
Raum verſchwindet, wobei der Widerſpruch, der demnach in der ganzen Kate-
gorie des Raums liegt, ſich in einem Schwindel des Gefühls ankündigt. Dieſe
Nichtigkeit kommt aber wirklich zur Anſchauung in der eigentlich negativen
Form der räumlichen Erhabenheit, der Leere. Sie wirkt theils drohend durch
die Vorſtellung, daß das unendlich Raumerfüllende, dem aber kein Raum ge-
nügt, hervorbrechen könnte, theils traurig durch die Vorſtellung, daß ein be-
ſtimmtes Raumerfüllende, welches da war, in Nichts verſunken ſey und daß
ebenſo alles andere verſinken müſſe, daß alſo ebendas, was durch ſein Daſeyn
die Kategorie des Raums begründet, vergänglich ſey, wodurch der Uebergang
in die Kategorie der Zeit gegeben iſt.
1. Geſtirnter Himmel, große Menſchenverſammlung u. ſ. w. Was
den Raum erfüllt, iſt natürlich auch hier nicht gleichgültig; große Büffel-
heerden bringen einen andern Eindruck hervor, als große Menſchenmengen
u. ſ. w.; das Beſtimmende aber bleibt die Vielheit. Zunächſt erſcheint
ein beſtimmter Raum in ſeiner Anfüllung unendlich groß und zwar durch
dieſelbe Bedingung des Fortzählens, wie ſie in §. 91 aufgeſtellt iſt.
Allein indem ich die Sterne, die Köpfe zählend und doch unfähig, weiter
zu zählen, fortſetze, wächst mir die Menge über den beſtimmten Raum
hinaus; nun genügt ihr kein Raum mehr, die Körper, welche einer
neben dem andern den unendlichen Raum ſetzen, verſchwinden jeder in
der unendlichen Reihe und mit ihnen jeder beſtimmte Raum: es tritt
der Widerſpruch in’s Gefühl, daß das Räumliche in ſeiner Ausdehnung
unendlich iſt, eigentlich aber die ganze Kategorie der Räumlichkeit eben in
dieſem unendlichen Fortgang ſich aufhebt. Es folgt auf jedes Raum-
Erfüllende ein neues, jedes alſo weist über ſich hinaus, aber jedes
neue ebenſo: man geht immer weiter und kommt nie an. Es verſieht
ſich jedoch, daß dieſer Widerſpruch noch nicht als ſolcher zum Bewußtſeyn
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/251>, abgerufen am 21.11.2024.
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