und sie schätzen die Venus von Melos höher als die medizeische. Nur dies ist Vorwegnahme, daß diese Erscheinung der harmloseren Grazie hier beson- ders erwähnt wird. Die Vorwegnahme ist aber unerheblich, denn diese kampflose Gestalt ist zu unselbständig, um im vorliegenden allgemeinen Theile als eine besondere Form des Schönen aufgestellt zu werden. Wir nennen zwar das einfach Schöne, wie es in diesem ersten Abschnitte vorliegt, auch ein kampfloses Schöne, aber darunter verstehen wir das Schöne überhaupt, wie es den Kampf nur noch nicht als wirklichen bereits in sich trägt; wogegen solche Gestalten, welche in den Kampf gar nicht über- gehen, in welchen so zu sagen das Glück der Kindheit fixirt ist, erst in den Sphären der in Natur und Kunst wirklich daseyenden Schönheit besonders zu erwähnen sind. -- Diese beschränktere Form der Grazie steht schon jenem leichten Spiele nahe, dessen Wesen darin beruht, einen Stoff quantitativ auf ein Minimum zu reduziren und ihm dennoch eine beziehungsweise Fülle von Form aufzuprägen: das Niedliche und Zierliche, was ein nicht zu ver- achtender Nebenzweig des Schönen, aber mehr als Schmuck und Zugabe ganzer Schönheit, denn als selbständig Schönes zu betrachten ist. An dieser Stelle geht aber das Schöne bereits in ein Gebiet über, wo sich geschichtliche Standpunkte, im vorliegenden Fall moderne Vorurtheile und Modebegriffe einmischen, durch die das Schöne mit dem Eleganten ver- wechselt wird, was sich zum Schönen verhält, wie die Arbeit des Schnei- ders und der Putzmacherin zum Werke des Bildhauers.
1. Hier geht der Vorgriff weiter und führt eine falsche Form, ein Afterbild der Armuth ein, das schon ganz dem bestimmten Daseyn des Schönen in der Menschenwelt und der Kunst angehört, aber zur Ab- grenzung des Begriffs hier schon genannt werden muß. Nicht vom blosen Sinnenreiz ist hier die Rede, denn dieser ist gar nicht ästhetisch, sondern von Formen und Bewegungen, welche auf die Phantasie wirken und von dieser ausgehen, aber so, daß das geistige Bild, das sie hinter ihrer Form verbergen und dem Beschauer zuführen, nur das Sinnliche wiederholt, und war, weil innerlich gesetzt und in's Innere geworfen, um so pikirter und raffinirter. Das Bild behält einen Theil der Dar- stellung des Sinnlichen zurück, deutet ihn aber an, läßt den Zuschauer merken, daß er im Bewußtseyn des sich darstellenden Subjects verborgen lauscht, und wirft ihn so auch ihm in's Bewußtseyn: die Grazie der Ballet-Tänzerin, die Muse Wielands und häufig der Franzosen, die seine Muster sind, wogegen die kallipugos in Neapel, die Ueppigkeiten Ovids und [...]die bekannte Scene im Titurel Unschuld sind.
und ſie ſchätzen die Venus von Melos höher als die medizeiſche. Nur dies iſt Vorwegnahme, daß dieſe Erſcheinung der harmloſeren Grazie hier beſon- ders erwähnt wird. Die Vorwegnahme iſt aber unerheblich, denn dieſe kampfloſe Geſtalt iſt zu unſelbſtändig, um im vorliegenden allgemeinen Theile als eine beſondere Form des Schönen aufgeſtellt zu werden. Wir nennen zwar das einfach Schöne, wie es in dieſem erſten Abſchnitte vorliegt, auch ein kampfloſes Schöne, aber darunter verſtehen wir das Schöne überhaupt, wie es den Kampf nur noch nicht als wirklichen bereits in ſich trägt; wogegen ſolche Geſtalten, welche in den Kampf gar nicht über- gehen, in welchen ſo zu ſagen das Glück der Kindheit fixirt iſt, erſt in den Sphären der in Natur und Kunſt wirklich daſeyenden Schönheit beſonders zu erwähnen ſind. — Dieſe beſchränktere Form der Grazie ſteht ſchon jenem leichten Spiele nahe, deſſen Weſen darin beruht, einen Stoff quantitativ auf ein Minimum zu reduziren und ihm dennoch eine beziehungsweiſe Fülle von Form aufzuprägen: das Niedliche und Zierliche, was ein nicht zu ver- achtender Nebenzweig des Schönen, aber mehr als Schmuck und Zugabe ganzer Schönheit, denn als ſelbſtändig Schönes zu betrachten iſt. An dieſer Stelle geht aber das Schöne bereits in ein Gebiet über, wo ſich geſchichtliche Standpunkte, im vorliegenden Fall moderne Vorurtheile und Modebegriffe einmiſchen, durch die das Schöne mit dem Eleganten ver- wechſelt wird, was ſich zum Schönen verhält, wie die Arbeit des Schnei- ders und der Putzmacherin zum Werke des Bildhauers.
1. Hier geht der Vorgriff weiter und führt eine falſche Form, ein Afterbild der Armuth ein, das ſchon ganz dem beſtimmten Daſeyn des Schönen in der Menſchenwelt und der Kunſt angehört, aber zur Ab- grenzung des Begriffs hier ſchon genannt werden muß. Nicht vom bloſen Sinnenreiz iſt hier die Rede, denn dieſer iſt gar nicht äſthetiſch, ſondern von Formen und Bewegungen, welche auf die Phantaſie wirken und von dieſer ausgehen, aber ſo, daß das geiſtige Bild, das ſie hinter ihrer Form verbergen und dem Beſchauer zuführen, nur das Sinnliche wiederholt, und war, weil innerlich geſetzt und in’s Innere geworfen, um ſo pikirter und raffinirter. Das Bild behält einen Theil der Dar- ſtellung des Sinnlichen zurück, deutet ihn aber an, läßt den Zuſchauer merken, daß er im Bewußtſeyn des ſich darſtellenden Subjects verborgen lauſcht, und wirft ihn ſo auch ihm in’s Bewußtſeyn: die Grazie der Ballet-Tänzerin, die Muſe Wielands und häufig der Franzoſen, die ſeine Muſter ſind, wogegen die καλλίπυγος in Neapel, die Ueppigkeiten Ovids und […]die bekannte Scene im Titurel Unſchuld ſind.
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und ſie ſchätzen die Venus von Melos höher als die medizeiſche. Nur dies
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ders erwähnt wird. Die Vorwegnahme iſt aber unerheblich, denn dieſe
kampfloſe Geſtalt iſt zu unſelbſtändig, um im vorliegenden allgemeinen Theile
als eine beſondere Form des Schönen aufgeſtellt zu werden. Wir nennen
zwar das einfach Schöne, wie es in dieſem erſten Abſchnitte vorliegt,
auch ein kampfloſes Schöne, aber darunter verſtehen wir das Schöne
überhaupt, wie es den Kampf nur noch nicht als wirklichen bereits in
ſich trägt; wogegen ſolche Geſtalten, welche in den Kampf gar nicht über-
gehen, in welchen ſo zu ſagen das Glück der Kindheit fixirt iſt, erſt in den
Sphären der in Natur und Kunſt wirklich daſeyenden Schönheit beſonders
zu erwähnen ſind. — Dieſe beſchränktere Form der Grazie ſteht ſchon jenem
leichten Spiele nahe, deſſen Weſen darin beruht, einen Stoff quantitativ auf
ein Minimum zu reduziren und ihm dennoch eine beziehungsweiſe Fülle von
Form aufzuprägen: das Niedliche und Zierliche, was ein nicht zu ver-
achtender Nebenzweig des Schönen, aber mehr als Schmuck und Zugabe
ganzer Schönheit, denn als ſelbſtändig Schönes zu betrachten iſt. An
dieſer Stelle geht aber das Schöne bereits in ein Gebiet über, wo ſich
geſchichtliche Standpunkte, im vorliegenden Fall moderne Vorurtheile und
Modebegriffe einmiſchen, durch die das Schöne mit dem Eleganten ver-
wechſelt wird, was ſich zum Schönen verhält, wie die Arbeit des Schnei-
ders und der Putzmacherin zum Werke des Bildhauers.
1. Hier geht der Vorgriff weiter und führt eine falſche Form, ein
Afterbild der Armuth ein, das ſchon ganz dem beſtimmten Daſeyn des
Schönen in der Menſchenwelt und der Kunſt angehört, aber zur Ab-
grenzung des Begriffs hier ſchon genannt werden muß. Nicht vom
bloſen Sinnenreiz iſt hier die Rede, denn dieſer iſt gar nicht äſthetiſch,
ſondern von Formen und Bewegungen, welche auf die Phantaſie wirken
und von dieſer ausgehen, aber ſo, daß das geiſtige Bild, das ſie hinter
ihrer Form verbergen und dem Beſchauer zuführen, nur das Sinnliche
wiederholt, und war, weil innerlich geſetzt und in’s Innere geworfen,
um ſo pikirter und raffinirter. Das Bild behält einen Theil der Dar-
ſtellung des Sinnlichen zurück, deutet ihn aber an, läßt den Zuſchauer
merken, daß er im Bewußtſeyn des ſich darſtellenden Subjects verborgen
lauſcht, und wirft ihn ſo auch ihm in’s Bewußtſeyn: die Grazie der
Ballet-Tänzerin, die Muſe Wielands und häufig der Franzoſen, die
ſeine Muſter ſind, wogegen die καλλίπυγος in Neapel, die Ueppigkeiten
Ovids und die bekannte Scene im Titurel Unſchuld ſind.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/202>, abgerufen am 04.12.2024.
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