Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

Vertreten aller übrigen Individuen einer Gattung durch Ein vollkommenes
oder mehrere; allein jenes Vertreten in der durch Religion bestimmten
Schönheit ist ein anderes, als das in der reinen. In der mythischen
Kunst der Griechen ist zwar die Sinnlichkeit eine Bejahung, aber die
unendliche Eigenheit der Individualität nicht; die Menschengestalt ist um
den Preis ungetrübter Einheit der sittlichen Bedeutung mit der ganzen
Fülle der schönen Sinnlichkeit zur Darstellung zugelassen, allein dabei hat
der geschichtliche, wirkliche Mensch das blose Zusehen, weil die Grenze
der individuellen Abweichung von der Linie der Gattungsregel so eng
gezogen ist, daß er als profanes Wesen, wenn nicht erst mythische Vor-
stellung, Sage u. s. w. ihn verklärt haben, sich von jenem Himmel durch
die tiefste Kluft getrennt sieht. Im Christenthum dagegen hat auch die wirk-
liche Gestalt in der willkürlicher abweichenden Eigenheit ihrer Individualität
Geltung; allein, wie schon gesagt, die Bedingung des Eintritts in den vor-
nehmen Kreis der höchsten Gestalten ist nun der Ausdruck unendlicher Ascese,
und da sich zu diesem nur wenige erheben und auch diese nur mit Hilfe der
verklärenden Sage, so sind auch hier alle Uebrigen in den profanen Vorhof
verstoßen. Die Religion ist eine Vorausnahme (§. 53), wie das Schöne,
aber eine durchaus unvollständige.

§. 63.

In dem Grade aber, in welchem die Religion sich zur Religion des
Geistes erhebt, im Grunde jedoch schon auf dem Standpunkte der Naturreligion,
wird selbst in der Gestalt, welche die religiöse Vorstellung sich bildet, die
Sinnlichkeit negativ gesetzt und ihre Verklärung daher vielmehr eine Verzehrung.
Das anbetende Subject stellt sich eine düstere und abweisende Gestalt gegen-
über, denn ihr Anblick soll ihm die Forderung der Entsagung vergegenwärtigen,
aber durch den Widerspruch, der in jenem Hinüberzeichnen liegt (§. 61), ist es
vielmehr die ganze Härte des Eigenwillens im zeichnenden Subjecte selbst, die
aus ihren unerbittlichen Zügen spricht. Jene bejahende Verklärung (§. 62)
ist also vielmehr bereits ein Werk der Schönheit, welche als eine fremde, das
ganze Verhältniß verändernde Macht in die Religion eingedrungen ist, und diese
hat in jener, indem sie unendlich durch sie gefördert scheint, ja den Unterschied
ihres Standpunkts von dem ihm beigemischten Aesthetischen gar nicht bemerkt,
vielmehr ihren Feind in sich aufgenommen. Je inniger sie sich verbinden,
desto mehr trennen sie sich, der Moment ihrer höchsten Vereinigung ist der
Moment ihres völligen Bruchs.


Vertreten aller übrigen Individuen einer Gattung durch Ein vollkommenes
oder mehrere; allein jenes Vertreten in der durch Religion beſtimmten
Schönheit iſt ein anderes, als das in der reinen. In der mythiſchen
Kunſt der Griechen iſt zwar die Sinnlichkeit eine Bejahung, aber die
unendliche Eigenheit der Individualität nicht; die Menſchengeſtalt iſt um
den Preis ungetrübter Einheit der ſittlichen Bedeutung mit der ganzen
Fülle der ſchönen Sinnlichkeit zur Darſtellung zugelaſſen, allein dabei hat
der geſchichtliche, wirkliche Menſch das bloſe Zuſehen, weil die Grenze
der individuellen Abweichung von der Linie der Gattungsregel ſo eng
gezogen iſt, daß er als profanes Weſen, wenn nicht erſt mythiſche Vor-
ſtellung, Sage u. ſ. w. ihn verklärt haben, ſich von jenem Himmel durch
die tiefſte Kluft getrennt ſieht. Im Chriſtenthum dagegen hat auch die wirk-
liche Geſtalt in der willkürlicher abweichenden Eigenheit ihrer Individualität
Geltung; allein, wie ſchon geſagt, die Bedingung des Eintritts in den vor-
nehmen Kreis der höchſten Geſtalten iſt nun der Ausdruck unendlicher Aſceſe,
und da ſich zu dieſem nur wenige erheben und auch dieſe nur mit Hilfe der
verklärenden Sage, ſo ſind auch hier alle Uebrigen in den profanen Vorhof
verſtoßen. Die Religion iſt eine Vorausnahme (§. 53), wie das Schöne,
aber eine durchaus unvollſtändige.

§. 63.

In dem Grade aber, in welchem die Religion ſich zur Religion des
Geiſtes erhebt, im Grunde jedoch ſchon auf dem Standpunkte der Naturreligion,
wird ſelbſt in der Geſtalt, welche die religiöſe Vorſtellung ſich bildet, die
Sinnlichkeit negativ geſetzt und ihre Verklärung daher vielmehr eine Verzehrung.
Das anbetende Subject ſtellt ſich eine düſtere und abweiſende Geſtalt gegen-
über, denn ihr Anblick ſoll ihm die Forderung der Entſagung vergegenwärtigen,
aber durch den Widerſpruch, der in jenem Hinüberzeichnen liegt (§. 61), iſt es
vielmehr die ganze Härte des Eigenwillens im zeichnenden Subjecte ſelbſt, die
aus ihren unerbittlichen Zügen ſpricht. Jene bejahende Verklärung (§. 62)
iſt alſo vielmehr bereits ein Werk der Schönheit, welche als eine fremde, das
ganze Verhältniß verändernde Macht in die Religion eingedrungen iſt, und dieſe
hat in jener, indem ſie unendlich durch ſie gefördert ſcheint, ja den Unterſchied
ihres Standpunkts von dem ihm beigemiſchten Aeſthetiſchen gar nicht bemerkt,
vielmehr ihren Feind in ſich aufgenommen. Je inniger ſie ſich verbinden,
deſto mehr trennen ſie ſich, der Moment ihrer höchſten Vereinigung iſt der
Moment ihres völligen Bruchs.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0180" n="166"/>
Vertreten aller übrigen Individuen einer Gattung durch Ein vollkommenes<lb/>
oder mehrere; allein jenes Vertreten in der durch Religion be&#x017F;timmten<lb/>
Schönheit i&#x017F;t ein anderes, als das in der reinen. In der mythi&#x017F;chen<lb/>
Kun&#x017F;t der Griechen i&#x017F;t zwar die Sinnlichkeit eine Bejahung, aber die<lb/>
unendliche Eigenheit der Individualität nicht; die Men&#x017F;chenge&#x017F;talt i&#x017F;t um<lb/>
den Preis ungetrübter Einheit der &#x017F;ittlichen Bedeutung mit der ganzen<lb/>
Fülle der &#x017F;chönen Sinnlichkeit zur Dar&#x017F;tellung zugela&#x017F;&#x017F;en, allein dabei hat<lb/>
der ge&#x017F;chichtliche, wirkliche Men&#x017F;ch das blo&#x017F;e Zu&#x017F;ehen, weil die Grenze<lb/>
der individuellen Abweichung von der Linie der Gattungsregel &#x017F;o eng<lb/>
gezogen i&#x017F;t, daß er als profanes We&#x017F;en, wenn nicht er&#x017F;t mythi&#x017F;che Vor-<lb/>
&#x017F;tellung, Sage u. &#x017F;. w. ihn verklärt haben, &#x017F;ich von jenem Himmel durch<lb/>
die tief&#x017F;te Kluft getrennt &#x017F;ieht. Im Chri&#x017F;tenthum dagegen hat auch die wirk-<lb/>
liche Ge&#x017F;talt in der willkürlicher abweichenden Eigenheit ihrer Individualität<lb/>
Geltung; allein, wie &#x017F;chon ge&#x017F;agt, die Bedingung des Eintritts in den vor-<lb/>
nehmen Kreis der höch&#x017F;ten Ge&#x017F;talten i&#x017F;t nun der Ausdruck unendlicher A&#x017F;ce&#x017F;e,<lb/>
und da &#x017F;ich zu die&#x017F;em nur wenige erheben und auch die&#x017F;e nur mit Hilfe der<lb/>
verklärenden Sage, &#x017F;o &#x017F;ind auch hier alle Uebrigen in den profanen Vorhof<lb/>
ver&#x017F;toßen. Die Religion i&#x017F;t eine Vorausnahme (§. 53), wie das Schöne,<lb/>
aber eine durchaus unvoll&#x017F;tändige.</hi> </p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 63.</head><lb/>
              <p> <hi rendition="#fr">In dem Grade aber, in welchem die Religion &#x017F;ich zur Religion des<lb/>
Gei&#x017F;tes erhebt, im Grunde jedoch &#x017F;chon auf dem Standpunkte der Naturreligion,<lb/>
wird &#x017F;elb&#x017F;t in der Ge&#x017F;talt, welche die religiö&#x017F;e Vor&#x017F;tellung &#x017F;ich bildet, die<lb/>
Sinnlichkeit negativ ge&#x017F;etzt und ihre Verklärung daher vielmehr eine Verzehrung.<lb/>
Das anbetende Subject &#x017F;tellt &#x017F;ich eine dü&#x017F;tere und abwei&#x017F;ende Ge&#x017F;talt gegen-<lb/>
über, denn ihr Anblick &#x017F;oll ihm die Forderung der Ent&#x017F;agung vergegenwärtigen,<lb/>
aber durch den Wider&#x017F;pruch, der in jenem Hinüberzeichnen liegt (§. 61), i&#x017F;t es<lb/>
vielmehr die ganze Härte des Eigenwillens im zeichnenden Subjecte &#x017F;elb&#x017F;t, die<lb/>
aus ihren unerbittlichen Zügen &#x017F;pricht. Jene bejahende Verklärung (§. 62)<lb/>
i&#x017F;t al&#x017F;o vielmehr bereits ein Werk der Schönheit, welche als eine fremde, das<lb/>
ganze Verhältniß verändernde Macht in die Religion eingedrungen i&#x017F;t, und die&#x017F;e<lb/>
hat in jener, indem &#x017F;ie unendlich durch &#x017F;ie gefördert &#x017F;cheint, ja den Unter&#x017F;chied<lb/>
ihres Standpunkts von dem ihm beigemi&#x017F;chten Ae&#x017F;theti&#x017F;chen gar nicht bemerkt,<lb/>
vielmehr ihren Feind in &#x017F;ich aufgenommen. Je inniger &#x017F;ie &#x017F;ich verbinden,<lb/>
de&#x017F;to mehr trennen &#x017F;ie &#x017F;ich, der Moment ihrer höch&#x017F;ten Vereinigung i&#x017F;t der<lb/>
Moment ihres völligen Bruchs.</hi> </p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[166/0180] Vertreten aller übrigen Individuen einer Gattung durch Ein vollkommenes oder mehrere; allein jenes Vertreten in der durch Religion beſtimmten Schönheit iſt ein anderes, als das in der reinen. In der mythiſchen Kunſt der Griechen iſt zwar die Sinnlichkeit eine Bejahung, aber die unendliche Eigenheit der Individualität nicht; die Menſchengeſtalt iſt um den Preis ungetrübter Einheit der ſittlichen Bedeutung mit der ganzen Fülle der ſchönen Sinnlichkeit zur Darſtellung zugelaſſen, allein dabei hat der geſchichtliche, wirkliche Menſch das bloſe Zuſehen, weil die Grenze der individuellen Abweichung von der Linie der Gattungsregel ſo eng gezogen iſt, daß er als profanes Weſen, wenn nicht erſt mythiſche Vor- ſtellung, Sage u. ſ. w. ihn verklärt haben, ſich von jenem Himmel durch die tiefſte Kluft getrennt ſieht. Im Chriſtenthum dagegen hat auch die wirk- liche Geſtalt in der willkürlicher abweichenden Eigenheit ihrer Individualität Geltung; allein, wie ſchon geſagt, die Bedingung des Eintritts in den vor- nehmen Kreis der höchſten Geſtalten iſt nun der Ausdruck unendlicher Aſceſe, und da ſich zu dieſem nur wenige erheben und auch dieſe nur mit Hilfe der verklärenden Sage, ſo ſind auch hier alle Uebrigen in den profanen Vorhof verſtoßen. Die Religion iſt eine Vorausnahme (§. 53), wie das Schöne, aber eine durchaus unvollſtändige. §. 63. In dem Grade aber, in welchem die Religion ſich zur Religion des Geiſtes erhebt, im Grunde jedoch ſchon auf dem Standpunkte der Naturreligion, wird ſelbſt in der Geſtalt, welche die religiöſe Vorſtellung ſich bildet, die Sinnlichkeit negativ geſetzt und ihre Verklärung daher vielmehr eine Verzehrung. Das anbetende Subject ſtellt ſich eine düſtere und abweiſende Geſtalt gegen- über, denn ihr Anblick ſoll ihm die Forderung der Entſagung vergegenwärtigen, aber durch den Widerſpruch, der in jenem Hinüberzeichnen liegt (§. 61), iſt es vielmehr die ganze Härte des Eigenwillens im zeichnenden Subjecte ſelbſt, die aus ihren unerbittlichen Zügen ſpricht. Jene bejahende Verklärung (§. 62) iſt alſo vielmehr bereits ein Werk der Schönheit, welche als eine fremde, das ganze Verhältniß verändernde Macht in die Religion eingedrungen iſt, und dieſe hat in jener, indem ſie unendlich durch ſie gefördert ſcheint, ja den Unterſchied ihres Standpunkts von dem ihm beigemiſchten Aeſthetiſchen gar nicht bemerkt, vielmehr ihren Feind in ſich aufgenommen. Je inniger ſie ſich verbinden, deſto mehr trennen ſie ſich, der Moment ihrer höchſten Vereinigung iſt der Moment ihres völligen Bruchs.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/180
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/180>, abgerufen am 18.12.2024.