genug hervorgehoben. Was unter diesem reinen Scheine verstanden sey, zeigen am besten zwei Stellen aus Göthe, die eine in Dichtung und Wahrheit, wie ihm die Werkstätte des Schusters zu Dresden als ein Bild von Ostade, die andere in der italienischen Reise, wie ihm die Lagune mit der Gondel ganz als venetianisches Gemälde erscheint. Es ist dies zwar Betrachtung von dem Standpunkte einer bestimmten Kunst, aber wesentlich diese Abstraction vom Stoffartigen im Gegenstande, welche auch ohne jenen Standpunkt einer bestimmten Kunstschule oder der Kunst über- haupt vollzogen werden kann. Uebrigens spricht Göthe das Gesetz selbst in seinem Begriffe aus in s. Anm. zu Diderots Versuch über die Malerei (Werke B. 36. S. 217. 233). Hogarth sucht in der Einl. s. analysis of beauty einen Begriff von der reinen Form zu geben, indem er jeden Gegenstand so zu betrachten auffordert, "als ob Alles, was inwendig darinnen ist, so rein herausgenommen sey, daß nichts übrig bleibt, als eine dünne Schaale, die man sich aus reinen Linien gebildet vorstellen muß und deren innere und äußere Fläche natürlich ganz gleich ist." Dann macht er einen Vorschlag, durch einen wächsernen Rumpf Drähte zu stecken, deren frei hervorstehender Theil anders gefärbt wird, als der, welcher innen steckt. Statt dessen hätte er nur das Punktiren der Bildhauer auseinandersetzen dürfen. Hogarth ist freilich diesen Betrachtungen nicht treu geblieben (vergl. §. 36, 2), sie sind aber höchst lehrreich. Man gehe vom Innern eines plastischen Körpers heraus auf allen Punkten dahin, wo der Körper aufhört: dies ist eben seine Grenze, seine reine Form; sie ist nicht selbst etwas; der Grund, warum die Stoffe des Körpers auf allen Punkten ihre Raumerfüllung eben da abschließen, wo sie zu Ende ist, liegt im ganzen innern Bau, aber von diesem Grunde wird jetzt ab- strahirt und nur die Wirkung, die reine Grenze aufgefaßt, welche selbst kein Stoff mehr ist. Handelt es sich nicht von einer einzelnen Gestalt oder Zusammenstellung mehrerer in ruhender Raum-Erfüllung, sondern von bewegter Handlung, worin ein sittlicher Gehalt erscheint (-- auch dies reichere Ganze kann Individuum heißen --) so sind unter "innerer Mischung und Structur" die Momente der Handlung, die Personen, wo- durch sie repräsentirt sind, die einzelnen Umstände u. s. w. zu verstehen: die Handlung erscheint ästhetisch nur, wenn diese einzelnen Bestandtheile, durch deren Zusammenwirkung sie entsteht, nicht herausgenommen werden und für sich wirken, denn außer dieser Stelle im Ganzen sind sie bloser Stoff. Nicht anders verhält es sich mit der Farbenwirkung. Es erscheint z. B. der menschliche Leib als ein von Blut durchströmter durch die Haut-
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genug hervorgehoben. Was unter dieſem reinen Scheine verſtanden ſey, zeigen am beſten zwei Stellen aus Göthe, die eine in Dichtung und Wahrheit, wie ihm die Werkſtätte des Schuſters zu Dresden als ein Bild von Oſtade, die andere in der italieniſchen Reiſe, wie ihm die Lagune mit der Gondel ganz als venetianiſches Gemälde erſcheint. Es iſt dies zwar Betrachtung von dem Standpunkte einer beſtimmten Kunſt, aber weſentlich dieſe Abſtraction vom Stoffartigen im Gegenſtande, welche auch ohne jenen Standpunkt einer beſtimmten Kunſtſchule oder der Kunſt über- haupt vollzogen werden kann. Uebrigens ſpricht Göthe das Geſetz ſelbſt in ſeinem Begriffe aus in ſ. Anm. zu Diderots Verſuch über die Malerei (Werke B. 36. S. 217. 233). Hogarth ſucht in der Einl. ſ. analysis of beauty einen Begriff von der reinen Form zu geben, indem er jeden Gegenſtand ſo zu betrachten auffordert, „als ob Alles, was inwendig darinnen iſt, ſo rein herausgenommen ſey, daß nichts übrig bleibt, als eine dünne Schaale, die man ſich aus reinen Linien gebildet vorſtellen muß und deren innere und äußere Fläche natürlich ganz gleich iſt.“ Dann macht er einen Vorſchlag, durch einen wächſernen Rumpf Drähte zu ſtecken, deren frei hervorſtehender Theil anders gefärbt wird, als der, welcher innen ſteckt. Statt deſſen hätte er nur das Punktiren der Bildhauer auseinanderſetzen dürfen. Hogarth iſt freilich dieſen Betrachtungen nicht treu geblieben (vergl. §. 36, 2), ſie ſind aber höchſt lehrreich. Man gehe vom Innern eines plaſtiſchen Körpers heraus auf allen Punkten dahin, wo der Körper aufhört: dies iſt eben ſeine Grenze, ſeine reine Form; ſie iſt nicht ſelbſt etwas; der Grund, warum die Stoffe des Körpers auf allen Punkten ihre Raumerfüllung eben da abſchließen, wo ſie zu Ende iſt, liegt im ganzen innern Bau, aber von dieſem Grunde wird jetzt ab- ſtrahirt und nur die Wirkung, die reine Grenze aufgefaßt, welche ſelbſt kein Stoff mehr iſt. Handelt es ſich nicht von einer einzelnen Geſtalt oder Zuſammenſtellung mehrerer in ruhender Raum-Erfüllung, ſondern von bewegter Handlung, worin ein ſittlicher Gehalt erſcheint (— auch dies reichere Ganze kann Individuum heißen —) ſo ſind unter „innerer Miſchung und Structur“ die Momente der Handlung, die Perſonen, wo- durch ſie repräſentirt ſind, die einzelnen Umſtände u. ſ. w. zu verſtehen: die Handlung erſcheint äſthetiſch nur, wenn dieſe einzelnen Beſtandtheile, durch deren Zuſammenwirkung ſie entſteht, nicht herausgenommen werden und für ſich wirken, denn außer dieſer Stelle im Ganzen ſind ſie bloſer Stoff. Nicht anders verhält es ſich mit der Farbenwirkung. Es erſcheint z. B. der menſchliche Leib als ein von Blut durchſtrömter durch die Haut-
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genug hervorgehoben. Was unter dieſem reinen Scheine verſtanden ſey,
zeigen am beſten zwei Stellen aus Göthe, die eine in Dichtung und
Wahrheit, wie ihm die Werkſtätte des Schuſters zu Dresden als ein Bild
von Oſtade, die andere in der italieniſchen Reiſe, wie ihm die Lagune
mit der Gondel ganz als venetianiſches Gemälde erſcheint. Es iſt dies
zwar Betrachtung von dem Standpunkte einer beſtimmten Kunſt, aber
weſentlich dieſe Abſtraction vom Stoffartigen im Gegenſtande, welche auch
ohne jenen Standpunkt einer beſtimmten Kunſtſchule oder der Kunſt über-
haupt vollzogen werden kann. Uebrigens ſpricht Göthe das Geſetz ſelbſt
in ſeinem Begriffe aus in ſ. Anm. zu Diderots Verſuch über die Malerei
(Werke B. 36. S. 217. 233). Hogarth ſucht in der Einl. ſ. analysis of
beauty einen Begriff von der reinen Form zu geben, indem er jeden
Gegenſtand ſo zu betrachten auffordert, „als ob Alles, was inwendig
darinnen iſt, ſo rein herausgenommen ſey, daß nichts übrig bleibt, als
eine dünne Schaale, die man ſich aus reinen Linien gebildet vorſtellen
muß und deren innere und äußere Fläche natürlich ganz gleich iſt.“ Dann
macht er einen Vorſchlag, durch einen wächſernen Rumpf Drähte zu ſtecken,
deren frei hervorſtehender Theil anders gefärbt wird, als der, welcher
innen ſteckt. Statt deſſen hätte er nur das Punktiren der Bildhauer
auseinanderſetzen dürfen. Hogarth iſt freilich dieſen Betrachtungen nicht
treu geblieben (vergl. §. 36, 2), ſie ſind aber höchſt lehrreich. Man
gehe vom Innern eines plaſtiſchen Körpers heraus auf allen Punkten
dahin, wo der Körper aufhört: dies iſt eben ſeine Grenze, ſeine reine
Form; ſie iſt nicht ſelbſt etwas; der Grund, warum die Stoffe des Körpers
auf allen Punkten ihre Raumerfüllung eben da abſchließen, wo ſie zu Ende
iſt, liegt im ganzen innern Bau, aber von dieſem Grunde wird jetzt ab-
ſtrahirt und nur die Wirkung, die reine Grenze aufgefaßt, welche ſelbſt
kein Stoff mehr iſt. Handelt es ſich nicht von einer einzelnen Geſtalt oder
Zuſammenſtellung mehrerer in ruhender Raum-Erfüllung, ſondern von
bewegter Handlung, worin ein ſittlicher Gehalt erſcheint (— auch dies
reichere Ganze kann Individuum heißen —) ſo ſind unter „innerer
Miſchung und Structur“ die Momente der Handlung, die Perſonen, wo-
durch ſie repräſentirt ſind, die einzelnen Umſtände u. ſ. w. zu verſtehen:
die Handlung erſcheint äſthetiſch nur, wenn dieſe einzelnen Beſtandtheile,
durch deren Zuſammenwirkung ſie entſteht, nicht herausgenommen werden
und für ſich wirken, denn außer dieſer Stelle im Ganzen ſind ſie bloſer
Stoff. Nicht anders verhält es ſich mit der Farbenwirkung. Es erſcheint
z. B. der menſchliche Leib als ein von Blut durchſtrömter durch die Haut-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/161>, abgerufen am 21.11.2024.
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