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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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griffen, wenn sie die transcendenten Gestalten aufgiebt, wenn sie die
bestimmte, wirkliche Idee rein menschlich und natürlich und nur durch sie
die absolute Idee darstellt. Aber nicht nur dies; die überirdischen Gestalten
wären demnach wirkliche Wesen und das Schöne hätte ihnen nur als
ihre Nachbildung zu folgen. Nimmt man also nun Solger beim Wort,
so ist ihm allerdings theologische Ableitung des Schönen vorzuwerfen;
hilft man seiner sichtbaren Unklarheit nach, erwägt man, daß ihm die
Vorstellung Gottes und der ganze Bilderkreis der Religion doch nur
Bild seyn kann, so ist ihm nur dies vorzuwerfen, daß er die Kunst
nicht von der Religion emancipirt, sondern mit dieser vermengt. Von
Hegel ist schon zugegeben, daß er mit Ueberspringung der Mittelglieder
im Gehalte zu substantiös unmittelbar auf den höchsten hindrängt. Dieß
äußert sich nun allerdings wesentlich auch als Vermengung mit der
Religion. Der ganze zweite Theil von den besonderen Formen des
Kunstschönen bezeugt dieselbe. Er enthält zu viel -- namentlich über
orientalische Religion -- und zu wenig: d. h. er vernachläßigt völlig
den Punkt, wo in der neueren Zeit die Transcendenz der Religion über-
haupt durch die Bildung ausgeschieden, dadurch erst die einzelne Idee
in unbefangene Geltung gesetzt und das moderne, weltliche oder rein
menschliche Ideal hergestellt wird.

Eigentlich theologisch könnte man die unvermittelte Weise nennen,
in welcher Winkelmann die Idee der Schönheit aus Gott ableitet;
allein man muß den zweiten Theil der betreffenden Stelle nicht übersehen.
Es heißt (Gesch. der Kunst, Buch 4, Kap. 2, §. 22) zuerst: "die höchste
Schönheit ist in Gott und der Begriff der menschlichen Schönheit wird
vollkommen, je gemäßer und übereinstimmender derselbe mit dem höchsten
Wesen kann gedacht werden, welches uns der Begriff der Einheit und
der Untheilbarkeit von der Materie unterscheidet." Dieß ist nichts als
ein Geständniß, das Schone nicht erklären zu können; eigentlich weiß
Winkelmann wohl, daß, wo man alle Materie abzieht, die Schön-
heit ihr Ende hat. Aber dann folgen die trefflichen Worte über das
Ideal: "dieser Begriff der Schönheit ist wie ein aus der Materie durchs
Feuer gezogener Geist, welcher sich suchet ein Geschöpf zu zeugen nach
dem Ebenbilde der in dem Verstande der Gottheit entworfenen ersten
vernünftigen Kreatur." Also nicht Gott selbst, sondern das Prototyp
der Gestalt ist die Urschönheit. Ein ächtes Beispiel theologisirender
Aesthetik ist dagegen die §. 10, 1 als ältere christliche Vorstellung er-
wähnte Ansicht von Gott als dem in Leiblichkeit existirenden Ideale der

griffen, wenn ſie die transcendenten Geſtalten aufgiebt, wenn ſie die
beſtimmte, wirkliche Idee rein menſchlich und natürlich und nur durch ſie
die abſolute Idee darſtellt. Aber nicht nur dies; die überirdiſchen Geſtalten
wären demnach wirkliche Weſen und das Schöne hätte ihnen nur als
ihre Nachbildung zu folgen. Nimmt man alſo nun Solger beim Wort,
ſo iſt ihm allerdings theologiſche Ableitung des Schönen vorzuwerfen;
hilft man ſeiner ſichtbaren Unklarheit nach, erwägt man, daß ihm die
Vorſtellung Gottes und der ganze Bilderkreis der Religion doch nur
Bild ſeyn kann, ſo iſt ihm nur dies vorzuwerfen, daß er die Kunſt
nicht von der Religion emancipirt, ſondern mit dieſer vermengt. Von
Hegel iſt ſchon zugegeben, daß er mit Ueberſpringung der Mittelglieder
im Gehalte zu ſubſtantiös unmittelbar auf den höchſten hindrängt. Dieß
äußert ſich nun allerdings weſentlich auch als Vermengung mit der
Religion. Der ganze zweite Theil von den beſonderen Formen des
Kunſtſchönen bezeugt dieſelbe. Er enthält zu viel — namentlich über
orientaliſche Religion — und zu wenig: d. h. er vernachläßigt völlig
den Punkt, wo in der neueren Zeit die Tranſcendenz der Religion über-
haupt durch die Bildung ausgeſchieden, dadurch erſt die einzelne Idee
in unbefangene Geltung geſetzt und das moderne, weltliche oder rein
menſchliche Ideal hergeſtellt wird.

Eigentlich theologiſch könnte man die unvermittelte Weiſe nennen,
in welcher Winkelmann die Idee der Schönheit aus Gott ableitet;
allein man muß den zweiten Theil der betreffenden Stelle nicht überſehen.
Es heißt (Geſch. der Kunſt, Buch 4, Kap. 2, §. 22) zuerſt: „die höchſte
Schönheit iſt in Gott und der Begriff der menſchlichen Schönheit wird
vollkommen, je gemäßer und übereinſtimmender derſelbe mit dem höchſten
Weſen kann gedacht werden, welches uns der Begriff der Einheit und
der Untheilbarkeit von der Materie unterſcheidet.“ Dieß iſt nichts als
ein Geſtändniß, das Schone nicht erklären zu können; eigentlich weiß
Winkelmann wohl, daß, wo man alle Materie abzieht, die Schön-
heit ihr Ende hat. Aber dann folgen die trefflichen Worte über das
Ideal: „dieſer Begriff der Schönheit iſt wie ein aus der Materie durchs
Feuer gezogener Geiſt, welcher ſich ſuchet ein Geſchöpf zu zeugen nach
dem Ebenbilde der in dem Verſtande der Gottheit entworfenen erſten
vernünftigen Kreatur.“ Alſo nicht Gott ſelbſt, ſondern das Prototyp
der Geſtalt iſt die Urſchönheit. Ein ächtes Beiſpiel theologiſirender
Aeſthetik iſt dagegen die §. 10, 1 als ältere chriſtliche Vorſtellung er-
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[87/0101] griffen, wenn ſie die transcendenten Geſtalten aufgiebt, wenn ſie die beſtimmte, wirkliche Idee rein menſchlich und natürlich und nur durch ſie die abſolute Idee darſtellt. Aber nicht nur dies; die überirdiſchen Geſtalten wären demnach wirkliche Weſen und das Schöne hätte ihnen nur als ihre Nachbildung zu folgen. Nimmt man alſo nun Solger beim Wort, ſo iſt ihm allerdings theologiſche Ableitung des Schönen vorzuwerfen; hilft man ſeiner ſichtbaren Unklarheit nach, erwägt man, daß ihm die Vorſtellung Gottes und der ganze Bilderkreis der Religion doch nur Bild ſeyn kann, ſo iſt ihm nur dies vorzuwerfen, daß er die Kunſt nicht von der Religion emancipirt, ſondern mit dieſer vermengt. Von Hegel iſt ſchon zugegeben, daß er mit Ueberſpringung der Mittelglieder im Gehalte zu ſubſtantiös unmittelbar auf den höchſten hindrängt. Dieß äußert ſich nun allerdings weſentlich auch als Vermengung mit der Religion. Der ganze zweite Theil von den beſonderen Formen des Kunſtſchönen bezeugt dieſelbe. Er enthält zu viel — namentlich über orientaliſche Religion — und zu wenig: d. h. er vernachläßigt völlig den Punkt, wo in der neueren Zeit die Tranſcendenz der Religion über- haupt durch die Bildung ausgeſchieden, dadurch erſt die einzelne Idee in unbefangene Geltung geſetzt und das moderne, weltliche oder rein menſchliche Ideal hergeſtellt wird. Eigentlich theologiſch könnte man die unvermittelte Weiſe nennen, in welcher Winkelmann die Idee der Schönheit aus Gott ableitet; allein man muß den zweiten Theil der betreffenden Stelle nicht überſehen. Es heißt (Geſch. der Kunſt, Buch 4, Kap. 2, §. 22) zuerſt: „die höchſte Schönheit iſt in Gott und der Begriff der menſchlichen Schönheit wird vollkommen, je gemäßer und übereinſtimmender derſelbe mit dem höchſten Weſen kann gedacht werden, welches uns der Begriff der Einheit und der Untheilbarkeit von der Materie unterſcheidet.“ Dieß iſt nichts als ein Geſtändniß, das Schone nicht erklären zu können; eigentlich weiß Winkelmann wohl, daß, wo man alle Materie abzieht, die Schön- heit ihr Ende hat. Aber dann folgen die trefflichen Worte über das Ideal: „dieſer Begriff der Schönheit iſt wie ein aus der Materie durchs Feuer gezogener Geiſt, welcher ſich ſuchet ein Geſchöpf zu zeugen nach dem Ebenbilde der in dem Verſtande der Gottheit entworfenen erſten vernünftigen Kreatur.“ Alſo nicht Gott ſelbſt, ſondern das Prototyp der Geſtalt iſt die Urſchönheit. Ein ächtes Beiſpiel theologiſirender Aeſthetik iſt dagegen die §. 10, 1 als ältere chriſtliche Vorſtellung er- wähnte Anſicht von Gott als dem in Leiblichkeit exiſtirenden Ideale der

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/101>, abgerufen am 21.11.2024.