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Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858.

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Zwanzigste Vorlesung.
genau in derselben Weise, wie eine Geschwulst an einem
Baume, an der Rinde, an der Oberfläche des Stammes oder
des Blattes, wo ein pathologischer Reiz stattgefunden hat.
Der Gallapfel, der in Folge des Stiches eines Insectes ent-
steht, die knolligen Anschwellungen, welche die Stellen eines
Baumes zeigen, wo ein Ast abgeschnitten ist, die Umwallung,
welche die Wunde eines abgehauenen Baumstammes erfährt,
beruhen auf einer ebenso reichlichen, oft ebenso raschen Zel-
lenwucherung, wie die, welche wir an der Geschwulst eines
wuchernden Theiles des menschlichen Leibes wahrnehmen.
Der pathologische Reiz wirkt in beiden Fällen genan auf die-
selbe Art; die Vegetationsverhältnisse gestalten sich vollstän-
dig nach demselben Typus, und so wenig als ein Baum an
seiner Rinde oder seinem Blatt eine Art von Zellen hervor-
bringt, welche er sonst nicht hervorbringen könnte, so wenig
thut dies der thierische Körper.

Aber wenn Sie die Geschichte einer pflanzlichen Ge-
schwulst betrachten, so werden Sie auch da sehen, dass grade
die kranken Stellen es sind, welche ungewöhnlich reich an speci-
fischen Bestandtheilen werden, welche die besonderen Stoffe,
die der Baum producirt, in grösserer Menge in sich auf-
nehmen und ablagern. Die Pflanzenzellen, welche sich an
einem Eichenblatt im Umfange des Insectenstiches bilden,
haben vielmehr Gerbsäure, als irgend ein anderer Theil des
Baumes. Die Geschwulstzellen, welche sich in wuchernder
Menge an einer Kiefer da bilden, wo ein Insect sich in den
jungen Stamm eingräbt, sind ganz vollgestopft mit Harz.
Die besondere Energie der Bildung, welche an diesen Stellen
entwickelt wird, bedingt auch eine ungewöhnlich reiche An-
häufung von Säften. Es bedarf keiner Nerven oder Gefässe,
um die Zellen zu einer vermehrten Stoff-Aufnahme zu insti-
giren. Es ist ihre eigene Action, die Anziehung, welche sie
auf die benachbarten Flüssigkeiten ausüben, vermöge deren
sie die brauchbarsten Stoffe an sich reissen. Darin liegt die
grosse Bedeutung, welche die Kenntniss der botanischen Vor-
gänge auch für den Pathologen darbietet, dass sie eine innere
Uebereinstimmung in allen diesen Vorgängen der ganzen Reihe
der lebendigen Erscheinungen erkennen und die niedrigsten

Zwanzigste Vorlesung.
genau in derselben Weise, wie eine Geschwulst an einem
Baume, an der Rinde, an der Oberfläche des Stammes oder
des Blattes, wo ein pathologischer Reiz stattgefunden hat.
Der Gallapfel, der in Folge des Stiches eines Insectes ent-
steht, die knolligen Anschwellungen, welche die Stellen eines
Baumes zeigen, wo ein Ast abgeschnitten ist, die Umwallung,
welche die Wunde eines abgehauenen Baumstammes erfährt,
beruhen auf einer ebenso reichlichen, oft ebenso raschen Zel-
lenwucherung, wie die, welche wir an der Geschwulst eines
wuchernden Theiles des menschlichen Leibes wahrnehmen.
Der pathologische Reiz wirkt in beiden Fällen genan auf die-
selbe Art; die Vegetationsverhältnisse gestalten sich vollstän-
dig nach demselben Typus, und so wenig als ein Baum an
seiner Rinde oder seinem Blatt eine Art von Zellen hervor-
bringt, welche er sonst nicht hervorbringen könnte, so wenig
thut dies der thierische Körper.

Aber wenn Sie die Geschichte einer pflanzlichen Ge-
schwulst betrachten, so werden Sie auch da sehen, dass grade
die kranken Stellen es sind, welche ungewöhnlich reich an speci-
fischen Bestandtheilen werden, welche die besonderen Stoffe,
die der Baum producirt, in grösserer Menge in sich auf-
nehmen und ablagern. Die Pflanzenzellen, welche sich an
einem Eichenblatt im Umfange des Insectenstiches bilden,
haben vielmehr Gerbsäure, als irgend ein anderer Theil des
Baumes. Die Geschwulstzellen, welche sich in wuchernder
Menge an einer Kiefer da bilden, wo ein Insect sich in den
jungen Stamm eingräbt, sind ganz vollgestopft mit Harz.
Die besondere Energie der Bildung, welche an diesen Stellen
entwickelt wird, bedingt auch eine ungewöhnlich reiche An-
häufung von Säften. Es bedarf keiner Nerven oder Gefässe,
um die Zellen zu einer vermehrten Stoff-Aufnahme zu insti-
giren. Es ist ihre eigene Action, die Anziehung, welche sie
auf die benachbarten Flüssigkeiten ausüben, vermöge deren
sie die brauchbarsten Stoffe an sich reissen. Darin liegt die
grosse Bedeutung, welche die Kenntniss der botanischen Vor-
gänge auch für den Pathologen darbietet, dass sie eine innere
Uebereinstimmung in allen diesen Vorgängen der ganzen Reihe
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[432/0454] Zwanzigste Vorlesung. genau in derselben Weise, wie eine Geschwulst an einem Baume, an der Rinde, an der Oberfläche des Stammes oder des Blattes, wo ein pathologischer Reiz stattgefunden hat. Der Gallapfel, der in Folge des Stiches eines Insectes ent- steht, die knolligen Anschwellungen, welche die Stellen eines Baumes zeigen, wo ein Ast abgeschnitten ist, die Umwallung, welche die Wunde eines abgehauenen Baumstammes erfährt, beruhen auf einer ebenso reichlichen, oft ebenso raschen Zel- lenwucherung, wie die, welche wir an der Geschwulst eines wuchernden Theiles des menschlichen Leibes wahrnehmen. Der pathologische Reiz wirkt in beiden Fällen genan auf die- selbe Art; die Vegetationsverhältnisse gestalten sich vollstän- dig nach demselben Typus, und so wenig als ein Baum an seiner Rinde oder seinem Blatt eine Art von Zellen hervor- bringt, welche er sonst nicht hervorbringen könnte, so wenig thut dies der thierische Körper. Aber wenn Sie die Geschichte einer pflanzlichen Ge- schwulst betrachten, so werden Sie auch da sehen, dass grade die kranken Stellen es sind, welche ungewöhnlich reich an speci- fischen Bestandtheilen werden, welche die besonderen Stoffe, die der Baum producirt, in grösserer Menge in sich auf- nehmen und ablagern. Die Pflanzenzellen, welche sich an einem Eichenblatt im Umfange des Insectenstiches bilden, haben vielmehr Gerbsäure, als irgend ein anderer Theil des Baumes. Die Geschwulstzellen, welche sich in wuchernder Menge an einer Kiefer da bilden, wo ein Insect sich in den jungen Stamm eingräbt, sind ganz vollgestopft mit Harz. Die besondere Energie der Bildung, welche an diesen Stellen entwickelt wird, bedingt auch eine ungewöhnlich reiche An- häufung von Säften. Es bedarf keiner Nerven oder Gefässe, um die Zellen zu einer vermehrten Stoff-Aufnahme zu insti- giren. Es ist ihre eigene Action, die Anziehung, welche sie auf die benachbarten Flüssigkeiten ausüben, vermöge deren sie die brauchbarsten Stoffe an sich reissen. Darin liegt die grosse Bedeutung, welche die Kenntniss der botanischen Vor- gänge auch für den Pathologen darbietet, dass sie eine innere Uebereinstimmung in allen diesen Vorgängen der ganzen Reihe der lebendigen Erscheinungen erkennen und die niedrigsten

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Zitationshilfe: Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858, S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/virchow_cellularpathologie_1858/454>, abgerufen am 29.11.2024.