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Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858.

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Zwanzigste Vorlesung.

Die besseren Bezeichnungen, welche man im Anfange die-
ses Jahrhunderts einführte, stützten sich mehr auf Vergleichun-
gen, welche man zwischen den Neubildungen und einzelnen
Theilen oder Geweben des Körpers machte. Der Ausdruck
"Markschwamm" ging ja ursprünglich aus der Vorstellung
hervor, dass die Markschwämme von den Nerven entständen
und sich in ihrer Zusammensetzung wie Nervenmasse verhiel-
ten. Solche Aufstellungen sind aber bis in die Neuzeit immer
sehr willkürlich gewesen, weil man sich auf mehr oder
weniger grobe Aehnlichkeiten in der äusseren Erscheinung
stützte, ohne dass man die feineren Besonderheiten des Baues
und namentlich die wirklich histologische Zusammensetzung
würdigte.

Neuerlich hat man, hie und da sogar mit einer grossen
Affectation, angefangen, die normalen Gebilde als terminolo-
gische Anhaltspunkte zu benutzen. Manche legen einen ge-
wissen Werth darauf und halten es für mehr wissenschaftlich,
Epitheliom zu sagen, wo Andere Cancroid oder Epithelialkrebs
sagen. So hat man in Frankreich bekanntlich sehr viel Ge-
wicht darauf gelegt, die Sarkome fibroplastische Geschwülste
zu nennen, weil man mit Schwann das geschwänzte Kör-
perchen für den Ausgang der Faserbildung im Bindegewebe
hielt, was, wie wir gesehen haben (S. 39), ein Irrthum ist.
Allein trotz dieser Verirrungen ist es nothwendig, den histo-
logischen Gesichtspunkt als den entscheidenden zu betrachten,
nur, glaube ich, ist es von vorn herein nicht anzurathen, dass
man von diesem Gesichtspunkte aus sofort dahin schreitet,
für alle Dinge neue Namen zu machen, und Dinge, welche
man seit langer Zeit kennt, durch den neuen Namen dem
allgemeinen Bewusstsein zu entfremden. Selbst Neubildungen,
welche ganz evident dem Typus irgend eines bestimmten
normalen Gewebes folgen, haben doch meistentheils Eigen-
thümlichkeiten, wodurch man sie von diesem Gewebe mehr oder
weniger unterscheiden kann, so dass man keineswegs, wenig-
stens bei der Mehrzahl, die ganze Neubildung zu sehen braucht,
um zu wissen, dass dies nicht die normale, regelmässige Ent-
wickelung des Gewebes ist, dass vielmehr in derselben, trotz-
dem dass sie den Typus nicht verliert, doch etwas von dem

Zwanzigste Vorlesung.

Die besseren Bezeichnungen, welche man im Anfange die-
ses Jahrhunderts einführte, stützten sich mehr auf Vergleichun-
gen, welche man zwischen den Neubildungen und einzelnen
Theilen oder Geweben des Körpers machte. Der Ausdruck
„Markschwamm“ ging ja ursprünglich aus der Vorstellung
hervor, dass die Markschwämme von den Nerven entständen
und sich in ihrer Zusammensetzung wie Nervenmasse verhiel-
ten. Solche Aufstellungen sind aber bis in die Neuzeit immer
sehr willkürlich gewesen, weil man sich auf mehr oder
weniger grobe Aehnlichkeiten in der äusseren Erscheinung
stützte, ohne dass man die feineren Besonderheiten des Baues
und namentlich die wirklich histologische Zusammensetzung
würdigte.

Neuerlich hat man, hie und da sogar mit einer grossen
Affectation, angefangen, die normalen Gebilde als terminolo-
gische Anhaltspunkte zu benutzen. Manche legen einen ge-
wissen Werth darauf und halten es für mehr wissenschaftlich,
Epitheliom zu sagen, wo Andere Cancroid oder Epithelialkrebs
sagen. So hat man in Frankreich bekanntlich sehr viel Ge-
wicht darauf gelegt, die Sarkome fibroplastische Geschwülste
zu nennen, weil man mit Schwann das geschwänzte Kör-
perchen für den Ausgang der Faserbildung im Bindegewebe
hielt, was, wie wir gesehen haben (S. 39), ein Irrthum ist.
Allein trotz dieser Verirrungen ist es nothwendig, den histo-
logischen Gesichtspunkt als den entscheidenden zu betrachten,
nur, glaube ich, ist es von vorn herein nicht anzurathen, dass
man von diesem Gesichtspunkte aus sofort dahin schreitet,
für alle Dinge neue Namen zu machen, und Dinge, welche
man seit langer Zeit kennt, durch den neuen Namen dem
allgemeinen Bewusstsein zu entfremden. Selbst Neubildungen,
welche ganz evident dem Typus irgend eines bestimmten
normalen Gewebes folgen, haben doch meistentheils Eigen-
thümlichkeiten, wodurch man sie von diesem Gewebe mehr oder
weniger unterscheiden kann, so dass man keineswegs, wenig-
stens bei der Mehrzahl, die ganze Neubildung zu sehen braucht,
um zu wissen, dass dies nicht die normale, regelmässige Ent-
wickelung des Gewebes ist, dass vielmehr in derselben, trotz-
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[412/0434] Zwanzigste Vorlesung. Die besseren Bezeichnungen, welche man im Anfange die- ses Jahrhunderts einführte, stützten sich mehr auf Vergleichun- gen, welche man zwischen den Neubildungen und einzelnen Theilen oder Geweben des Körpers machte. Der Ausdruck „Markschwamm“ ging ja ursprünglich aus der Vorstellung hervor, dass die Markschwämme von den Nerven entständen und sich in ihrer Zusammensetzung wie Nervenmasse verhiel- ten. Solche Aufstellungen sind aber bis in die Neuzeit immer sehr willkürlich gewesen, weil man sich auf mehr oder weniger grobe Aehnlichkeiten in der äusseren Erscheinung stützte, ohne dass man die feineren Besonderheiten des Baues und namentlich die wirklich histologische Zusammensetzung würdigte. Neuerlich hat man, hie und da sogar mit einer grossen Affectation, angefangen, die normalen Gebilde als terminolo- gische Anhaltspunkte zu benutzen. Manche legen einen ge- wissen Werth darauf und halten es für mehr wissenschaftlich, Epitheliom zu sagen, wo Andere Cancroid oder Epithelialkrebs sagen. So hat man in Frankreich bekanntlich sehr viel Ge- wicht darauf gelegt, die Sarkome fibroplastische Geschwülste zu nennen, weil man mit Schwann das geschwänzte Kör- perchen für den Ausgang der Faserbildung im Bindegewebe hielt, was, wie wir gesehen haben (S. 39), ein Irrthum ist. Allein trotz dieser Verirrungen ist es nothwendig, den histo- logischen Gesichtspunkt als den entscheidenden zu betrachten, nur, glaube ich, ist es von vorn herein nicht anzurathen, dass man von diesem Gesichtspunkte aus sofort dahin schreitet, für alle Dinge neue Namen zu machen, und Dinge, welche man seit langer Zeit kennt, durch den neuen Namen dem allgemeinen Bewusstsein zu entfremden. Selbst Neubildungen, welche ganz evident dem Typus irgend eines bestimmten normalen Gewebes folgen, haben doch meistentheils Eigen- thümlichkeiten, wodurch man sie von diesem Gewebe mehr oder weniger unterscheiden kann, so dass man keineswegs, wenig- stens bei der Mehrzahl, die ganze Neubildung zu sehen braucht, um zu wissen, dass dies nicht die normale, regelmässige Ent- wickelung des Gewebes ist, dass vielmehr in derselben, trotz- dem dass sie den Typus nicht verliert, doch etwas von dem

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Zitationshilfe: Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/virchow_cellularpathologie_1858/434>, abgerufen am 28.04.2024.