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Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858.

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Die Einheit der Neuropathologie.
system ausgehen, und gewiss sind es sehr viele, lassen uns
nirgend anders eine Einheit erkennen, als in unserem eigenen
Bewusstsein; eine anatomische oder physiologische Einheit
ist wenigstens bis jetzt nirgends nachweisbar gewesen. Wollte
man wirklich das Nervensystem mit seinen einzelnen zahlrei-
chen Centren als Mittelpunkt aller organischen Thätigkeiten
bezeichnen, so würde man damit nicht gewonnen haben, was
man eigentlich sucht, die wirkliche Einheit. Macht man sich
die Schwierigkeiten klar, die einer solchen Einheit entgegen-
stehen, so kann es kaum zweifelhaft sein, dass wir durch die
Phänomene unseres Ichs immerfort irre geführt werden in der
Deutung der organischen Vorgänge. Wir, die wir uns als
etwas Einfaches und Einheitliches fühlen, wir gehen allerdings
immer davon aus, dass von diesem selben Einheitlichen Alles
bestimmt werden müsste. Wenn Sie aber die Entwicklung
einer bestimmten Pflanze von ihrem ersten Keime bis zur höch-
sten Entfaltung verfolgen, so treffen Sie eine ganz analoge
Reihe von Vorgängen, ohne dass wir auch nur vermuthen
könnten, es bestände eine solche Einheit, wie wir sie unserem
Bewusstsein nach in uns voraussetzen. Niemand ist im Stande
gewesen, ein Nervensystem bei den Pflanzen zu sehen; nir-
gend hat man gefunden, dass von einem einzigen Punkte aus
die ganze entwickelte Pflanze beherrscht werde. Alle heutige
Pflanzenphysiologie beruhtauf der Erforschung der Zellenthätigkeit,
und wenn man sich immer noch sträubt, dasselbe Prinzip auch
in die thierische Oekonomie einzuführen, so ist, wie ich glaube,
gar keine andere Schwierigkeit da, als die, dass man die
ästhetischen und moralischen Bedenken nicht zu überwinden
vermag.

Es kann natürlich hier unsere Sache nicht sein, diese Be-
denken zu widerlegen oder zu zeigen, wie sie sich vermitteln
liessen; ich habe nur zu zeigen, wie sehr das Pathologische,
was uns zunächst interessirt, überall auf dasselbe cellulare
Prinzip zurückführt, und wie es überall den einheitlichen Auf-
fassungen widerstreitet, welche man vom neuropathologischen
Standpunkte aus sucht. Es ist dies im Grunde kein neuer
und ungewöhnlicher Gedanke. Wenn man seit Jahrhunderten
von einem Leben der einzelnen Theile spricht, wenn man den

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Die Einheit der Neuropathologie.
system ausgehen, und gewiss sind es sehr viele, lassen uns
nirgend anders eine Einheit erkennen, als in unserem eigenen
Bewusstsein; eine anatomische oder physiologische Einheit
ist wenigstens bis jetzt nirgends nachweisbar gewesen. Wollte
man wirklich das Nervensystem mit seinen einzelnen zahlrei-
chen Centren als Mittelpunkt aller organischen Thätigkeiten
bezeichnen, so würde man damit nicht gewonnen haben, was
man eigentlich sucht, die wirkliche Einheit. Macht man sich
die Schwierigkeiten klar, die einer solchen Einheit entgegen-
stehen, so kann es kaum zweifelhaft sein, dass wir durch die
Phänomene unseres Ichs immerfort irre geführt werden in der
Deutung der organischen Vorgänge. Wir, die wir uns als
etwas Einfaches und Einheitliches fühlen, wir gehen allerdings
immer davon aus, dass von diesem selben Einheitlichen Alles
bestimmt werden müsste. Wenn Sie aber die Entwicklung
einer bestimmten Pflanze von ihrem ersten Keime bis zur höch-
sten Entfaltung verfolgen, so treffen Sie eine ganz analoge
Reihe von Vorgängen, ohne dass wir auch nur vermuthen
könnten, es bestände eine solche Einheit, wie wir sie unserem
Bewusstsein nach in uns voraussetzen. Niemand ist im Stande
gewesen, ein Nervensystem bei den Pflanzen zu sehen; nir-
gend hat man gefunden, dass von einem einzigen Punkte aus
die ganze entwickelte Pflanze beherrscht werde. Alle heutige
Pflanzenphysiologie beruhtauf der Erforschung der Zellenthätigkeit,
und wenn man sich immer noch sträubt, dasselbe Prinzip auch
in die thierische Oekonomie einzuführen, so ist, wie ich glaube,
gar keine andere Schwierigkeit da, als die, dass man die
ästhetischen und moralischen Bedenken nicht zu überwinden
vermag.

Es kann natürlich hier unsere Sache nicht sein, diese Be-
denken zu widerlegen oder zu zeigen, wie sie sich vermitteln
liessen; ich habe nur zu zeigen, wie sehr das Pathologische,
was uns zunächst interessirt, überall auf dasselbe cellulare
Prinzip zurückführt, und wie es überall den einheitlichen Auf-
fassungen widerstreitet, welche man vom neuropathologischen
Standpunkte aus sucht. Es ist dies im Grunde kein neuer
und ungewöhnlicher Gedanke. Wenn man seit Jahrhunderten
von einem Leben der einzelnen Theile spricht, wenn man den

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[257/0279] Die Einheit der Neuropathologie. system ausgehen, und gewiss sind es sehr viele, lassen uns nirgend anders eine Einheit erkennen, als in unserem eigenen Bewusstsein; eine anatomische oder physiologische Einheit ist wenigstens bis jetzt nirgends nachweisbar gewesen. Wollte man wirklich das Nervensystem mit seinen einzelnen zahlrei- chen Centren als Mittelpunkt aller organischen Thätigkeiten bezeichnen, so würde man damit nicht gewonnen haben, was man eigentlich sucht, die wirkliche Einheit. Macht man sich die Schwierigkeiten klar, die einer solchen Einheit entgegen- stehen, so kann es kaum zweifelhaft sein, dass wir durch die Phänomene unseres Ichs immerfort irre geführt werden in der Deutung der organischen Vorgänge. Wir, die wir uns als etwas Einfaches und Einheitliches fühlen, wir gehen allerdings immer davon aus, dass von diesem selben Einheitlichen Alles bestimmt werden müsste. Wenn Sie aber die Entwicklung einer bestimmten Pflanze von ihrem ersten Keime bis zur höch- sten Entfaltung verfolgen, so treffen Sie eine ganz analoge Reihe von Vorgängen, ohne dass wir auch nur vermuthen könnten, es bestände eine solche Einheit, wie wir sie unserem Bewusstsein nach in uns voraussetzen. Niemand ist im Stande gewesen, ein Nervensystem bei den Pflanzen zu sehen; nir- gend hat man gefunden, dass von einem einzigen Punkte aus die ganze entwickelte Pflanze beherrscht werde. Alle heutige Pflanzenphysiologie beruhtauf der Erforschung der Zellenthätigkeit, und wenn man sich immer noch sträubt, dasselbe Prinzip auch in die thierische Oekonomie einzuführen, so ist, wie ich glaube, gar keine andere Schwierigkeit da, als die, dass man die ästhetischen und moralischen Bedenken nicht zu überwinden vermag. Es kann natürlich hier unsere Sache nicht sein, diese Be- denken zu widerlegen oder zu zeigen, wie sie sich vermitteln liessen; ich habe nur zu zeigen, wie sehr das Pathologische, was uns zunächst interessirt, überall auf dasselbe cellulare Prinzip zurückführt, und wie es überall den einheitlichen Auf- fassungen widerstreitet, welche man vom neuropathologischen Standpunkte aus sucht. Es ist dies im Grunde kein neuer und ungewöhnlicher Gedanke. Wenn man seit Jahrhunderten von einem Leben der einzelnen Theile spricht, wenn man den 17

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Zitationshilfe: Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/virchow_cellularpathologie_1858/279>, abgerufen am 07.05.2024.