solches unterläßt. Ich bin präsumptuös in Menschenumgang gewesen.
Montag, den 5. November 1822.
Franzosen, Engländer, sonst die Spanier und Italiäner -- und natürlich auch die alten Nationen -- haben National- meinungen, solche Gefühle, Ehre, Ehrgeiz, und Strebungen, die sich auf theils bleibende, theils eine große Zeit lang sich wiederholende gesellige Zustände beziehen; ihre Kunst, ihre Künstler und Dichter müssen sich auch darauf beziehen, wenn sie verstanden werden wollen, wie sie auch selbst darin befan- gen sind. Wir Deutschen klagen schon lange, und immer öf- ter darüber, daß unter uns die Dichter nicht auf Autorität verehrt werden. Diesen Übelstand können wir aber ertragen, wenn wir betrachten wollen, was wir eigentlich sind. Ein Volk nicht zu einer Nation abgeformt und geschliffen: der Menschheit, und also allen Nationen noch nahe; unser Dich- ter sieht sich in der ganzen menschlichen Welt nach Zuständen um; erhöht sie, denkt sie sich wie sie sein könnten, müßten, nicht nur wie sie sind, und sein können in einem engen vor- gefundenen Zustand, den er noch ändern will, gemein mit al- len Gesetzgebern, und Erfindern; je größer solches Menschen Geist, je erhabener seine Seele, je belebter sein Herz, je reich- haltiger, vielfältiger, muß er wählen und darstellen, und Zu- stände kombiniren, und in dem Alten Neues sehen und zeigen: aber desto weniger auch wird er begriffen, oder desto häufiger ihm nicht gefolgt werden können, er unverstanden bleiben; und also oft nicht anerkannt werden, und von Dreisteren, die
ſolches unterläßt. Ich bin präſumptuös in Menſchenumgang geweſen.
Montag, den 5. November 1822.
Franzoſen, Engländer, ſonſt die Spanier und Italiäner — und natürlich auch die alten Nationen — haben National- meinungen, ſolche Gefühle, Ehre, Ehrgeiz, und Strebungen, die ſich auf theils bleibende, theils eine große Zeit lang ſich wiederholende geſellige Zuſtände beziehen; ihre Kunſt, ihre Künſtler und Dichter müſſen ſich auch darauf beziehen, wenn ſie verſtanden werden wollen, wie ſie auch ſelbſt darin befan- gen ſind. Wir Deutſchen klagen ſchon lange, und immer öf- ter darüber, daß unter uns die Dichter nicht auf Autorität verehrt werden. Dieſen Übelſtand können wir aber ertragen, wenn wir betrachten wollen, was wir eigentlich ſind. Ein Volk nicht zu einer Nation abgeformt und geſchliffen: der Menſchheit, und alſo allen Nationen noch nahe; unſer Dich- ter ſieht ſich in der ganzen menſchlichen Welt nach Zuſtänden um; erhöht ſie, denkt ſie ſich wie ſie ſein könnten, müßten, nicht nur wie ſie ſind, und ſein können in einem engen vor- gefundenen Zuſtand, den er noch ändern will, gemein mit al- len Geſetzgebern, und Erfindern; je größer ſolches Menſchen Geiſt, je erhabener ſeine Seele, je belebter ſein Herz, je reich- haltiger, vielfältiger, muß er wählen und darſtellen, und Zu- ſtände kombiniren, und in dem Alten Neues ſehen und zeigen: aber deſto weniger auch wird er begriffen, oder deſto häufiger ihm nicht gefolgt werden können, er unverſtanden bleiben; und alſo oft nicht anerkannt werden, und von Dreiſteren, die
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ſolches unterläßt. Ich bin präſumptuös in Menſchenumgang
geweſen.
Montag, den 5. November 1822.
Franzoſen, Engländer, ſonſt die Spanier und Italiäner
— und natürlich auch die alten Nationen — haben National-
meinungen, ſolche Gefühle, Ehre, Ehrgeiz, und Strebungen,
die ſich auf theils bleibende, theils eine große Zeit lang ſich
wiederholende geſellige Zuſtände beziehen; ihre Kunſt, ihre
Künſtler und Dichter müſſen ſich auch darauf beziehen, wenn
ſie verſtanden werden wollen, wie ſie auch ſelbſt darin befan-
gen ſind. Wir Deutſchen klagen ſchon lange, und immer öf-
ter darüber, daß unter uns die Dichter nicht auf Autorität
verehrt werden. Dieſen Übelſtand können wir aber ertragen,
wenn wir betrachten wollen, was wir eigentlich ſind. Ein
Volk nicht zu einer Nation abgeformt und geſchliffen: der
Menſchheit, und alſo allen Nationen noch nahe; unſer Dich-
ter ſieht ſich in der ganzen menſchlichen Welt nach Zuſtänden
um; erhöht ſie, denkt ſie ſich wie ſie ſein könnten, müßten,
nicht nur wie ſie ſind, und ſein können in einem engen vor-
gefundenen Zuſtand, den er noch ändern will, gemein mit al-
len Geſetzgebern, und Erfindern; je größer ſolches Menſchen
Geiſt, je erhabener ſeine Seele, je belebter ſein Herz, je reich-
haltiger, vielfältiger, muß er wählen und darſtellen, und Zu-
ſtände kombiniren, und in dem Alten Neues ſehen und zeigen:
aber deſto weniger auch wird er begriffen, oder deſto häufiger
ihm nicht gefolgt werden können, er unverſtanden bleiben;
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/81>, abgerufen am 25.11.2024.
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