Es ist ausgemacht, daß wenn wir keine Anlage -- oder wie man's nennen will -- von Sittlichkeit in uns hätten, wir mit der größten Anstrengung von Nachdenken nie auf ihre Anforderungen gefallen wären. Könnte ein persönliches We- sen je darauf kommen, daß es seine Persönlichkeit aufgeben, und die eines Andern höher stellen sollte, als seine eigene? Mich dünkt sogar, es ist schon eine hohe Stufe der Entwicke- lung, Person und persönlich zu sein. Nun kommt mir vor, wir können in einem andern Zustand von Dasein noch eine schwerere Aufgabe in uns fühlen, die wir uns jetzt auch nicht vorzustellen vermögen. Und nur, daß wir dergleichen zu er- rathen vermögen, ist ein Schimmer vom Absoluten, allgemei- nen, sich selbst begründenden Dasein; wovon die Stufen sich verlieren müssen für einen Geist; einen absoluten, der alles zugleich erschaut. --
Den 26. April 1822.
Im Artikel 5. von Pascal, veritable religion prouvee par les contrarietes qui sont dans l'homme et par le peche origi- nel betitelt, hofft' ich irgend einen Aufschluß über die Erbsünde zu bekommen: aber keinen! Er sagt sehr gute Sachen über den Zustand, worin wir Menschen uns befinden, indem er nämlich diesen Zustand in seiner größten Tiefe klar darstellt; auch gesteht er ein für uns großes Geheimniß zu: aber er er- giebt sich diesem Geheimniß nicht: sondern erfindet eine Anek- dote; wie er selbst sagt, der Vernunft widersprechend, womit er es nun erklärt. Mir von einem solchen Mann unerklär- lich! Und eigentlich gar nicht ergeben.
III. 5
Es iſt ausgemacht, daß wenn wir keine Anlage — oder wie man’s nennen will — von Sittlichkeit in uns hätten, wir mit der größten Anſtrengung von Nachdenken nie auf ihre Anforderungen gefallen wären. Könnte ein perſönliches We- ſen je darauf kommen, daß es ſeine Perſönlichkeit aufgeben, und die eines Andern höher ſtellen ſollte, als ſeine eigene? Mich dünkt ſogar, es iſt ſchon eine hohe Stufe der Entwicke- lung, Perſon und perſönlich zu ſein. Nun kommt mir vor, wir können in einem andern Zuſtand von Daſein noch eine ſchwerere Aufgabe in uns fühlen, die wir uns jetzt auch nicht vorzuſtellen vermögen. Und nur, daß wir dergleichen zu er- rathen vermögen, iſt ein Schimmer vom Abſoluten, allgemei- nen, ſich ſelbſt begründenden Daſein; wovon die Stufen ſich verlieren müſſen für einen Geiſt; einen abſoluten, der alles zugleich erſchaut. —
Den 26. April 1822.
Im Artikel 5. von Pascal, véritable religion prouvée par les contrariétés qui sont dans l’homme et par le péché origi- nel betitelt, hofft’ ich irgend einen Aufſchluß über die Erbſünde zu bekommen: aber keinen! Er ſagt ſehr gute Sachen über den Zuſtand, worin wir Menſchen uns befinden, indem er nämlich dieſen Zuſtand in ſeiner größten Tiefe klar darſtellt; auch geſteht er ein für uns großes Geheimniß zu: aber er er- giebt ſich dieſem Geheimniß nicht: ſondern erfindet eine Anek- dote; wie er ſelbſt ſagt, der Vernunft widerſprechend, womit er es nun erklärt. Mir von einem ſolchen Mann unerklär- lich! Und eigentlich gar nicht ergeben.
III. 5
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Es iſt ausgemacht, daß wenn wir keine Anlage — oder
wie man’s nennen will — von Sittlichkeit in uns hätten, wir
mit der größten Anſtrengung von Nachdenken nie auf ihre
Anforderungen gefallen wären. Könnte ein perſönliches We-
ſen je darauf kommen, daß es ſeine Perſönlichkeit aufgeben,
und die eines Andern höher ſtellen ſollte, als ſeine eigene?
Mich dünkt ſogar, es iſt ſchon eine hohe Stufe der Entwicke-
lung, Perſon und perſönlich zu ſein. Nun kommt mir vor,
wir können in einem andern Zuſtand von Daſein noch eine
ſchwerere Aufgabe in uns fühlen, die wir uns jetzt auch nicht
vorzuſtellen vermögen. Und nur, daß wir dergleichen zu er-
rathen vermögen, iſt ein Schimmer vom Abſoluten, allgemei-
nen, ſich ſelbſt begründenden Daſein; wovon die Stufen ſich
verlieren müſſen für einen Geiſt; einen abſoluten, der alles
zugleich erſchaut. —
Den 26. April 1822.
Im Artikel 5. von Pascal, véritable religion prouvée par
les contrariétés qui sont dans l’homme et par le péché origi-
nel betitelt, hofft’ ich irgend einen Aufſchluß über die Erbſünde
zu bekommen: aber keinen! Er ſagt ſehr gute Sachen über
den Zuſtand, worin wir Menſchen uns befinden, indem er
nämlich dieſen Zuſtand in ſeiner größten Tiefe klar darſtellt;
auch geſteht er ein für uns großes Geheimniß zu: aber er er-
giebt ſich dieſem Geheimniß nicht: ſondern erfindet eine Anek-
dote; wie er ſelbſt ſagt, der Vernunft widerſprechend, womit
er es nun erklärt. Mir von einem ſolchen Mann unerklär-
lich! Und eigentlich gar nicht ergeben.
III. 5
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/73>, abgerufen am 23.11.2024.
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