S. 16. Der Priester soll die zwei Naturen, von denen hier ausgegangen wird, leiten, berichtigen, bestimmen. Unnütz: und unthunlich: bloß weil nicht nach dem rechten Punkt des Irrthums hingekommen ist. Ist die große, alte, schadhafte Mauer des verjährten Vorurtheils umgerissen, gestürzt, so wird der geringste, nur nicht gestörte Verstand diese kompli- zirt scheinende, aber nur verwirrte Sache klar sehn. Kann eine Neigung ohne Anreiz existiren? Giebt es eine gerichtliche äußere Garantie für geschlossene oder bekannte Freundschaften? Ist nur ein Hausstand heilig? Ist es nur Kindererziehung, oder deren Behandlung? Haben diese irgend eine Garantie? Können nicht grade Eltern die bis zum Tod martern, phy- sisch oder moralisch? Ist intimes Zusammenleben, ohne Zauber und Entzücken, nicht unanständiger, als Extase irgend einer Art? Ist Aufrichtigkeit möglich, wo Unnatürliches gewaltsam gefordert werden kann? Ist ein Zustand, wo jene, also die Wahrheit, also die Grazie, also die Unschuld, nicht möglich ist, nicht dadurch allein verwerflich? Weg mit der Mauer! Weg mit ihrem Schutt! Der Erde gleich sei dies Unwesen gemacht! und alles wird auf ihr erblühn, was leben soll. Eine Vegetation! --
An Karl Friedrich von Rumohr.
Mittwoch, den 21. März 1832.
Gleich den Tag nachher, als ich die Ehre gehabt hatte, Sie bei uns zu sehn, hätte ich Ihnen, geehrter Herr Baron,
S. 16. Der Prieſter ſoll die zwei Naturen, von denen hier ausgegangen wird, leiten, berichtigen, beſtimmen. Unnütz: und unthunlich: bloß weil nicht nach dem rechten Punkt des Irrthums hingekommen iſt. Iſt die große, alte, ſchadhafte Mauer des verjährten Vorurtheils umgeriſſen, geſtürzt, ſo wird der geringſte, nur nicht geſtörte Verſtand dieſe kompli- zirt ſcheinende, aber nur verwirrte Sache klar ſehn. Kann eine Neigung ohne Anreiz exiſtiren? Giebt es eine gerichtliche äußere Garantie für geſchloſſene oder bekannte Freundſchaften? Iſt nur ein Hausſtand heilig? Iſt es nur Kindererziehung, oder deren Behandlung? Haben dieſe irgend eine Garantie? Können nicht grade Eltern die bis zum Tod martern, phy- ſiſch oder moraliſch? Iſt intimes Zuſammenleben, ohne Zauber und Entzücken, nicht unanſtändiger, als Extaſe irgend einer Art? Iſt Aufrichtigkeit möglich, wo Unnatürliches gewaltſam gefordert werden kann? Iſt ein Zuſtand, wo jene, alſo die Wahrheit, alſo die Grazie, alſo die Unſchuld, nicht möglich iſt, nicht dadurch allein verwerflich? Weg mit der Mauer! Weg mit ihrem Schutt! Der Erde gleich ſei dies Unweſen gemacht! und alles wird auf ihr erblühn, was leben ſoll. Eine Vegetation! —
An Karl Friedrich von Rumohr.
Mittwoch, den 21. März 1832.
Gleich den Tag nachher, als ich die Ehre gehabt hatte, Sie bei uns zu ſehn, hätte ich Ihnen, geehrter Herr Baron,
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S. 16. Der Prieſter ſoll die zwei Naturen, von denen
hier ausgegangen wird, leiten, berichtigen, beſtimmen. Unnütz:
und unthunlich: bloß weil nicht nach dem rechten Punkt des
Irrthums hingekommen iſt. Iſt die große, alte, ſchadhafte
Mauer des verjährten Vorurtheils umgeriſſen, geſtürzt, ſo
wird der geringſte, nur nicht geſtörte Verſtand dieſe kompli-
zirt ſcheinende, aber nur verwirrte Sache klar ſehn. Kann
eine Neigung ohne Anreiz exiſtiren? Giebt es eine gerichtliche
äußere Garantie für geſchloſſene oder bekannte Freundſchaften?
Iſt nur ein Hausſtand heilig? Iſt es nur Kindererziehung,
oder deren Behandlung? Haben dieſe irgend eine Garantie?
Können nicht grade Eltern die bis zum Tod martern, phy-
ſiſch oder moraliſch? Iſt intimes Zuſammenleben, ohne Zauber
und Entzücken, nicht unanſtändiger, als Extaſe irgend einer
Art? Iſt Aufrichtigkeit möglich, wo Unnatürliches gewaltſam
gefordert werden kann? Iſt ein Zuſtand, wo jene, alſo die
Wahrheit, alſo die Grazie, alſo die Unſchuld, nicht möglich
iſt, nicht dadurch allein verwerflich? Weg mit der Mauer!
Weg mit ihrem Schutt! Der Erde gleich ſei dies Unweſen
gemacht! und alles wird auf ihr erblühn, was leben ſoll.
Eine Vegetation! —
An Karl Friedrich von Rumohr.
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 559. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/567>, abgerufen am 24.11.2024.
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