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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

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eben angekommener Brief "die schadhafte Hälfte meines Her-
zens," -- wie Hamlet zur Mutter spricht, -- ich werf sie weg;
wie er anrathet; da sie mich gegen Sie in Sünde versetzte.
Was verdarb aber dieses Herz! Elend. Influenza, harte, mit
Nachwehen: Influenza auch von mancher andern, als Krank-
heitsseite. Stockiges Berlinerleben: und dann die grauel-
machende, dumpfe, unbekannte, verschrieene Annäherung des
großen Übels -- ich nenn sie nicht, die infamirende Krank-
heit; sich angesteckt zu fühlen, zu meinen: nicht mehr fliehen
wollen, könnte man es auch noch: dies ist mir, was mir
ein neues, lähmendes, nie bedachtes, ganz verworfen frem-
des Bewußtsein. Und was hab' ich alles entdeckt! Daß ich
der größte Aristokrat bin, der lebt. Ich verlange ein beson-
deres, persönliches Schicksal. Ich kann an keiner Seuche
sterben; wie ein Halm unter andern Ähren auf weitem Felde,
von Sumpfluft versengt. Ich will allein, an meinen
Übeln sterben; das bin ich; mein Karakter, meine Person,
mein Physisches, mein Schicksal. -- Nie bleibe ich mehr in
solcher Pest, wenn ich fliehen kann. -- Jetzt ist alles gut;
bloß noch ennuyanter. Viele Wohlthaten -- richtig: sogar
klug, -- also viele Ökonomie; sogar eingestandene. Stille
Stagnation. Straßenleere. Theater geht: diese große Ma-
schine. -- Kommen Sie ja bald, lieber Fürst! Der Brief sollte
noch groß werden: aber ich kann einen Krampf auf dem lin-
ken Auge nicht bezwingen; er wird stärker, und zwingt mich.
-- Wir leben fast eingemauert in unserer Mauerstraße; außer
Fahrten nach Schöneberg. Pardon der vielen Nebentinten:

eben angekommener Brief „die ſchadhafte Hälfte meines Her-
zens,“ — wie Hamlet zur Mutter ſpricht, — ich werf ſie weg;
wie er anrathet; da ſie mich gegen Sie in Sünde verſetzte.
Was verdarb aber dieſes Herz! Elend. Influenza, harte, mit
Nachwehen: Influenza auch von mancher andern, als Krank-
heitsſeite. Stockiges Berlinerleben: und dann die grauel-
machende, dumpfe, unbekannte, verſchrieene Annäherung des
großen Übels — ich nenn ſie nicht, die infamirende Krank-
heit; ſich angeſteckt zu fühlen, zu meinen: nicht mehr fliehen
wollen, könnte man es auch noch: dies iſt mir, was mir
ein neues, lähmendes, nie bedachtes, ganz verworfen frem-
des Bewußtſein. Und was hab’ ich alles entdeckt! Daß ich
der größte Ariſtokrat bin, der lebt. Ich verlange ein beſon-
deres, perſönliches Schickſal. Ich kann an keiner Seuche
ſterben; wie ein Halm unter andern Ähren auf weitem Felde,
von Sumpfluft verſengt. Ich will allein, an meinen
Übeln ſterben; das bin ich; mein Karakter, meine Perſon,
mein Phyſiſches, mein Schickſal. — Nie bleibe ich mehr in
ſolcher Peſt, wenn ich fliehen kann. — Jetzt iſt alles gut;
bloß noch ennuyanter. Viele Wohlthaten — richtig: ſogar
klug, — alſo viele Ökonomie; ſogar eingeſtandene. Stille
Stagnation. Straßenleere. Theater geht: dieſe große Ma-
ſchine. — Kommen Sie ja bald, lieber Fürſt! Der Brief ſollte
noch groß werden: aber ich kann einen Krampf auf dem lin-
ken Auge nicht bezwingen; er wird ſtärker, und zwingt mich.
— Wir leben faſt eingemauert in unſerer Mauerſtraße; außer
Fahrten nach Schöneberg. Pardon der vielen Nebentinten:

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[532/0540] eben angekommener Brief „die ſchadhafte Hälfte meines Her- zens,“ — wie Hamlet zur Mutter ſpricht, — ich werf ſie weg; wie er anrathet; da ſie mich gegen Sie in Sünde verſetzte. Was verdarb aber dieſes Herz! Elend. Influenza, harte, mit Nachwehen: Influenza auch von mancher andern, als Krank- heitsſeite. Stockiges Berlinerleben: und dann die grauel- machende, dumpfe, unbekannte, verſchrieene Annäherung des großen Übels — ich nenn ſie nicht, die infamirende Krank- heit; ſich angeſteckt zu fühlen, zu meinen: nicht mehr fliehen wollen, könnte man es auch noch: dies iſt mir, was mir ein neues, lähmendes, nie bedachtes, ganz verworfen frem- des Bewußtſein. Und was hab’ ich alles entdeckt! Daß ich der größte Ariſtokrat bin, der lebt. Ich verlange ein beſon- deres, perſönliches Schickſal. Ich kann an keiner Seuche ſterben; wie ein Halm unter andern Ähren auf weitem Felde, von Sumpfluft verſengt. Ich will allein, an meinen Übeln ſterben; das bin ich; mein Karakter, meine Perſon, mein Phyſiſches, mein Schickſal. — Nie bleibe ich mehr in ſolcher Peſt, wenn ich fliehen kann. — Jetzt iſt alles gut; bloß noch ennuyanter. Viele Wohlthaten — richtig: ſogar klug, — alſo viele Ökonomie; ſogar eingeſtandene. Stille Stagnation. Straßenleere. Theater geht: dieſe große Ma- ſchine. — Kommen Sie ja bald, lieber Fürſt! Der Brief ſollte noch groß werden: aber ich kann einen Krampf auf dem lin- ken Auge nicht bezwingen; er wird ſtärker, und zwingt mich. — Wir leben faſt eingemauert in unſerer Mauerſtraße; außer Fahrten nach Schöneberg. Pardon der vielen Nebentinten:

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 532. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/540>, abgerufen am 23.11.2024.