eben angekommener Brief "die schadhafte Hälfte meines Her- zens," -- wie Hamlet zur Mutter spricht, -- ich werf sie weg; wie er anrathet; da sie mich gegen Sie in Sünde versetzte. Was verdarb aber dieses Herz! Elend. Influenza, harte, mit Nachwehen: Influenza auch von mancher andern, als Krank- heitsseite. Stockiges Berlinerleben: und dann die grauel- machende, dumpfe, unbekannte, verschrieene Annäherung des großen Übels -- ich nenn sie nicht, die infamirende Krank- heit; sich angesteckt zu fühlen, zu meinen: nicht mehr fliehen wollen, könnte man es auch noch: dies ist mir, was mir ein neues, lähmendes, nie bedachtes, ganz verworfen frem- des Bewußtsein. Und was hab' ich alles entdeckt! Daß ich der größte Aristokrat bin, der lebt. Ich verlange ein beson- deres, persönliches Schicksal. Ich kann an keiner Seuche sterben; wie ein Halm unter andern Ähren auf weitem Felde, von Sumpfluft versengt. Ich will allein, an meinen Übeln sterben; das bin ich; mein Karakter, meine Person, mein Physisches, mein Schicksal. -- Nie bleibe ich mehr in solcher Pest, wenn ich fliehen kann. -- Jetzt ist alles gut; bloß noch ennuyanter. Viele Wohlthaten -- richtig: sogar klug, -- also viele Ökonomie; sogar eingestandene. Stille Stagnation. Straßenleere. Theater geht: diese große Ma- schine. -- Kommen Sie ja bald, lieber Fürst! Der Brief sollte noch groß werden: aber ich kann einen Krampf auf dem lin- ken Auge nicht bezwingen; er wird stärker, und zwingt mich. -- Wir leben fast eingemauert in unserer Mauerstraße; außer Fahrten nach Schöneberg. Pardon der vielen Nebentinten:
eben angekommener Brief „die ſchadhafte Hälfte meines Her- zens,“ — wie Hamlet zur Mutter ſpricht, — ich werf ſie weg; wie er anrathet; da ſie mich gegen Sie in Sünde verſetzte. Was verdarb aber dieſes Herz! Elend. Influenza, harte, mit Nachwehen: Influenza auch von mancher andern, als Krank- heitsſeite. Stockiges Berlinerleben: und dann die grauel- machende, dumpfe, unbekannte, verſchrieene Annäherung des großen Übels — ich nenn ſie nicht, die infamirende Krank- heit; ſich angeſteckt zu fühlen, zu meinen: nicht mehr fliehen wollen, könnte man es auch noch: dies iſt mir, was mir ein neues, lähmendes, nie bedachtes, ganz verworfen frem- des Bewußtſein. Und was hab’ ich alles entdeckt! Daß ich der größte Ariſtokrat bin, der lebt. Ich verlange ein beſon- deres, perſönliches Schickſal. Ich kann an keiner Seuche ſterben; wie ein Halm unter andern Ähren auf weitem Felde, von Sumpfluft verſengt. Ich will allein, an meinen Übeln ſterben; das bin ich; mein Karakter, meine Perſon, mein Phyſiſches, mein Schickſal. — Nie bleibe ich mehr in ſolcher Peſt, wenn ich fliehen kann. — Jetzt iſt alles gut; bloß noch ennuyanter. Viele Wohlthaten — richtig: ſogar klug, — alſo viele Ökonomie; ſogar eingeſtandene. Stille Stagnation. Straßenleere. Theater geht: dieſe große Ma- ſchine. — Kommen Sie ja bald, lieber Fürſt! Der Brief ſollte noch groß werden: aber ich kann einen Krampf auf dem lin- ken Auge nicht bezwingen; er wird ſtärker, und zwingt mich. — Wir leben faſt eingemauert in unſerer Mauerſtraße; außer Fahrten nach Schöneberg. Pardon der vielen Nebentinten:
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0540"n="532"/>
eben angekommener Brief „die ſchadhafte Hälfte meines Her-<lb/>
zens,“— wie Hamlet zur Mutter ſpricht, — ich werf ſie weg;<lb/>
wie er anrathet; da ſie mich gegen <hirendition="#g">Sie</hi> in Sünde verſetzte.<lb/>
Was verdarb aber dieſes Herz! Elend. Influenza, harte, mit<lb/>
Nachwehen: Influenza auch von mancher andern, als Krank-<lb/>
heitsſeite. Stockiges Berlinerleben: und dann die grauel-<lb/>
machende, dumpfe, unbekannte, verſchrieene Annäherung des<lb/>
großen Übels — ich nenn ſie nicht, die infamirende Krank-<lb/>
heit; ſich angeſteckt zu fühlen, zu meinen: nicht mehr fliehen<lb/><hirendition="#g">wollen</hi>, könnte man es auch noch: dies iſt mir, was mir<lb/>
ein neues, <hirendition="#g">lähmendes</hi>, nie bedachtes, ganz verworfen frem-<lb/>
des Bewußtſein. Und was hab’ ich alles entdeckt! Daß ich<lb/>
der größte Ariſtokrat bin, der lebt. Ich verlange ein beſon-<lb/>
deres, perſönliches Schickſal. Ich <hirendition="#g">kann</hi> an keiner Seuche<lb/>ſterben; wie ein Halm unter andern Ähren auf weitem Felde,<lb/>
von Sumpfluft verſengt. Ich will <hirendition="#g">allein</hi>, an <hirendition="#g">meinen</hi><lb/>
Übeln ſterben; das bin ich; mein Karakter, meine Perſon,<lb/>
mein Phyſiſches, mein Schickſal. — Nie bleibe ich mehr in<lb/>ſolcher Peſt, wenn ich <hirendition="#g">fliehen kann</hi>. — Jetzt iſt alles gut;<lb/>
bloß noch ennuyanter. Viele Wohlthaten — richtig: ſogar<lb/>
klug, — alſo viele Ökonomie; ſogar eingeſtandene. Stille<lb/>
Stagnation. Straßenleere. Theater geht: dieſe große Ma-<lb/>ſchine. — Kommen Sie ja bald, lieber Fürſt! Der Brief ſollte<lb/>
noch groß werden: aber ich kann einen Krampf auf dem lin-<lb/>
ken Auge nicht bezwingen; er wird ſtärker, und zwingt <hirendition="#g">mich</hi>.<lb/>— Wir leben faſt eingemauert in unſerer Mauerſtraße; außer<lb/>
Fahrten nach Schöneberg. Pardon der vielen Nebentinten:<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[532/0540]
eben angekommener Brief „die ſchadhafte Hälfte meines Her-
zens,“ — wie Hamlet zur Mutter ſpricht, — ich werf ſie weg;
wie er anrathet; da ſie mich gegen Sie in Sünde verſetzte.
Was verdarb aber dieſes Herz! Elend. Influenza, harte, mit
Nachwehen: Influenza auch von mancher andern, als Krank-
heitsſeite. Stockiges Berlinerleben: und dann die grauel-
machende, dumpfe, unbekannte, verſchrieene Annäherung des
großen Übels — ich nenn ſie nicht, die infamirende Krank-
heit; ſich angeſteckt zu fühlen, zu meinen: nicht mehr fliehen
wollen, könnte man es auch noch: dies iſt mir, was mir
ein neues, lähmendes, nie bedachtes, ganz verworfen frem-
des Bewußtſein. Und was hab’ ich alles entdeckt! Daß ich
der größte Ariſtokrat bin, der lebt. Ich verlange ein beſon-
deres, perſönliches Schickſal. Ich kann an keiner Seuche
ſterben; wie ein Halm unter andern Ähren auf weitem Felde,
von Sumpfluft verſengt. Ich will allein, an meinen
Übeln ſterben; das bin ich; mein Karakter, meine Perſon,
mein Phyſiſches, mein Schickſal. — Nie bleibe ich mehr in
ſolcher Peſt, wenn ich fliehen kann. — Jetzt iſt alles gut;
bloß noch ennuyanter. Viele Wohlthaten — richtig: ſogar
klug, — alſo viele Ökonomie; ſogar eingeſtandene. Stille
Stagnation. Straßenleere. Theater geht: dieſe große Ma-
ſchine. — Kommen Sie ja bald, lieber Fürſt! Der Brief ſollte
noch groß werden: aber ich kann einen Krampf auf dem lin-
ken Auge nicht bezwingen; er wird ſtärker, und zwingt mich.
— Wir leben faſt eingemauert in unſerer Mauerſtraße; außer
Fahrten nach Schöneberg. Pardon der vielen Nebentinten:
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 532. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/540>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.